Geschrieben am 8. Oktober 2011 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Zoë Beck über Lesereisen-Standardfragen

Nach einer Lesereise gibt es sowieso viel zu erzählen. Auch über Standardfragen, die nur für den Befragten Standard sind. Zoë Beck über:

„Ist das eigentlich biografisch, was Sie schreiben?“

Es gibt ja so Fragen, da kann man mit den Veranstaltern einer Lesung vorher Wetten abschließen, dass die kommen, und man gewinnt immer. Ob ich biografische Elemente verarbeite, wird zum Beispiel auch immer gefragt. Ich sage dann gerne: Na ja, umgebracht hab ich noch niemanden. Und dann sage ich, dass natürlich immer irgendwie Sachen von einem selbst irgendwo einfließen. Meinem Nachbar Dr. Müller-Böhne (er ist Richter und sehr an Krimis interessiert, weil er eines Tages auch mal einen schreiben will), reicht das nicht. Der will mehr wissen. So von wegen, ob ich denn mal was so richtig eins zu eins über mein Leben schreibe, das müsste doch interessant sein. Meine Facebookfreunde wissen ungefähr, wie interessant das ist. Mehrmals am Tag kann ich berichten, dass die immer gleiche Hundesitterin mit einem der immer gleichen Nachbarschaftsköter vorbeiläuft. Morgens reißt mich der singende Hausmeister Lutz aus dem Schlaf. Manchmal ist die Meldung des Tages, dass ich mich nicht zwischen Spinat und Zucchini entscheiden kann. Dr. Müller-Böhne jedoch sagt: „Aber Fräulein Beck, Sie gehen doch immer auf Lesereise, das muss doch wahnsinnig spannend sein!“ Er bekommt leuchtende Augen, und ich weiß genau, was in seinem Kopfkino passiert: Der Autor – also Dr. Müller-Böhne persönlich, wenn er erstmal seinen ersten Bestseller veröffentlicht hat – schreitet über den roten Teppich, am Rand die tobende Menge. Bodyguards weisen ihm den Weg. Der Autor sitzt im Flieger und gibt Autogramme, während die hübsche Stewardess ihm das Nackenkissen reicht und schon mal den Champagner holt. Der Autor empfängt in seiner Luxussuite die Journalisten, die an seinen Lippen hängen und jedes seiner Bücher auswendig kennen. Der Autor wird in einer schwarzen Limousine vom Privatjet abgeholt und ins teuerste Restaurant gefahren, wo er einen eigenen Tisch hat, der immer für ihn reserviert ist. Und so weiter.

In der Luft …

Lieber Dr. Müller-Böhne, Sie haben es so gewollt, ich erzähle Ihnen jetzt, ganz biografisch, von der Lesereise. Okay, ein bisschen literarisch verfremdet, aber dadurch nicht weniger wahr.

Tag 1: Ich werfe mich in den Flieger. Auf dem Gang schieben sich tuschelnd und kichernd Menschen vorbei. Sie strahlen und nicken freundlich in meine Richtung, und ich höre Dinge wie „Veranstaltung heute Abend“ und „Sofort erkannt“ und „Genau wie auf den Fotos“. Nein, Autoren sind mehr als selten so bekannt, dass man sie irgendwo erkennt. Aber ich denke an Dr. Müller-Böhne und schöpfe Hoffnung. Wer weiß, in Zeiten des Internets? Haben sich vielleicht zufällig irgendwelche Facebookfreunde in denselben Flieger verlaufen? Ungefähr zehn Sekunden später kapiere ich, dass Max Raabe direkt vor mir sitzt, und ich schäme mich ein bisschen. Nach der Ankunft zerre ich den 20-Kilo-Koffer durch diverse öffentliche Verkehrsmittel, verlaufe mich mehrfach und komme sehr spät im Hotel an. Kaum noch Zeit zum Essen, ich renne weiter zur Veranstaltung, und wieder grinsen die Leute in meine Richtung. Diesmal weiß ich es besser und reagiere gar nicht. Wer weiß, wer diesmal vor oder hinter mir ist. Blöd nur, dass sie diesmal wirklich mich gemeint haben, aber das kann ich ja nicht wissen. Die Herrschaften haben sogar ausgedruckte Fotos von mir zur Hand. Eine kleine Schlange bildet sich, und die Dame auf Platz eins sagt: „Frau Beck?“ Freudig überrascht signiere ich bei ihr und auch den anderen und wünsche allen viel Spaß bei meiner Lesung. Sie sehen mich ein bisschen komisch an. Dann klumpt sich das Grüppchen kurz zusammen, man vergleicht irgendwas, und wie auf Kommando rennen sie alle zusammen weg. Ich begreife: Autogrammjäger, längst auf dem Weg zur nächsten Veranstaltung.

Auf der Schiene …

Tag 2: Fünfhundert Kilometer Zugfahrt. Schlechtes Essen im Zug. Schuhbeck grinst mir von der Speisekarte zu. Zerre den 50-Kilo-Koffer durch die Pampa. Schlechtes Hotel. Kein Essen. Ein Altenheim hat quasi alle Karten für die Lesung gekauft. Die Technik fällt aus. Keiner hört mich, obwohl ich brülle. Hinterher sagt mir eine alte Dame, ich hätte zu schnell gelesen, und ein anständiges Mädchen in meinem Alter sollte nicht so grobe Stiefel tragen, da bekäme man ja Angst, und so würde ich nie einen Mann kennenlernen. Ich verkaufe kein einziges Buch, weil es schon in der Bücherei des Altenheims angeschafft wurde. Im Ort hat nach 22 Uhr kein Lokal mehr geöffnet, und das Hotel hat keine Minibar. Im Bad überall Schimmelflecken.

Tag 3: Mit Halsweh, Ohrenschmerzen und Fieber aufgewacht. Fünfhundert Kilometer Zugfahrt. Anschließend mit dem 100-Kilo-Koffer noch dreimal umsteigen. Mein Gleichgewichtssinn braucht zwei Stunden, um sich umzugewöhnen. Ich habe ein Hotelzimmer mit Badewanne und freue mich auf ein Erkältungsbad, aber die Wanne ist so groß, dass ich mich am Rand festkrallen muss, um nicht in dem Erkältungsbadsud zu ersaufen. Vor der Lesung ein Interview mit der Lokalzeitung, der Redakteur beginnt mit den Worten: „Ich muss gestehen, dass ich Ihre Bücher nicht kenne.“ Nach fünf Minuten merke ich, dass er glaubt, ich würde Liebesromane für reifere Frauen schreiben. Wir reden noch ein paar Minuten aneinander vorbei, und sein Fotograf knipst mich, als ich gerade furchtbar niesen muss.

Immer noch …

Tag 4: Eine italienische Großfamilie, die auf dem Gang diskutiert, wann sie nun das Taxi bestellt hatten, weckt mich gegen halb sechs. Heute nur dreihundert Kilometer Zugfahrt. Die Frau, die vor mir aussteigt, merkt, dass sie den falschen Koffer mitgenommen hat und drängt sich kreischend zurück ins Abteil. Sie kegelt alle, die hinter ihr stehen, um. Der Schaffner hat es nicht mitbekommen, und wir fahren alle gezwungenermaßen eine Station weiter. Ich komme zwei Stunden später als geplant an und habe keine Zeit mehr zum Essen. Leider gibt es Alkohol bei der Lesung. Meinem Gleichgewichtssinn gefällt das nicht, meinem leeren Magen auch nicht. Ich habe immer noch Fieber. Die Buchhändlerin muss mir hinterher fünfmal erklären, wie ich wieder zum Hotel komme. Ich weiß, was sie jetzt denkt: Jaja, diese Schnapsdrossel. Zum Glück ist das Hotel wirklich leicht zu finden. Nachts schlafe ich schlecht und habe das Gefühl, Güterzüge fahren durch mein Zimmer.

Tag 5: Ich merke, dass das Hotel direkt neben den Bahngleisen war, daher die Güterzüge in meinem Zimmer. Mein Gleichgewichtssinn behauptet, ich befände mich auf hoher See. Es folgen gefühlte achttausend Kilometer Zugfahrt. Mir gegenüber ein altes Ehepaar, das gerade aus Amerika zurückkommt, wo sie ihre Schwester besucht haben. Sie erzählen ein bisschen, weil der Asperger-Junge schräg gegenüber alles genau wissen will. (Er wurde von seiner Mutter in den Zug gesetzt, die allen erklärt hat, dass er Asperger hat und wir nett zu ihm sein sollen.) Irgendwann sagt der alte Mann: „Washington hat ja auch so seine Probleme, als Stadt, die ganzen Schwarzen. Aber was will man machen, sind ja auch irgendwie Menschen.“ Ich versuche zu protestieren, krächze aber nur, was sich lächerlich anhört. Der Mann bekommt schlechte Laune, die Frau sieht mich entschuldigend an und sagt zu ihm: „Siehst du, Herbert, ich sag dir doch immer, du darfst nicht so in der Öffentlichkeit über die Neger reden!“ Ich bekomme einen Hustenanfall und verziehe mich zu Schuhbecks Speisekartengrinsen ins Bordbistro. Abends Lesung mit alkoholischen Getränken, die zum Kauf angeboten werden. Auffällig viele Männer sind anwesend. Sie stehen nach der Lesung alle an, um sich den Alkohol flaschenweise zu kaufen. Auch eine Art, sich mit dem Segen der Ehefrau abends zu betrinken. Nachts lasse ich das Licht im Hotelzimmer an, weil im Nachbarzimmer jemand so schlimm schnarcht, dass ich Angst bekomme.

Lost in …

Tag 6: Ich weiß nicht mehr, wo ich aufwache und rufe im Verlag an, wo ich als nächstes hinmuss, weil ich den Überblick verloren habe. Komme schon am frühen Nachmittag in der nächsten Stadt an, obwohl ich schwören könnte, dass ich zwanzig Stunden Zug gefahren bin, werfe mich und meinen 300-Kilo-Koffer ins Hotel, kippe einen Liter Erkältungstee runter und schlafe zu „Zwei bei Kallwass“ vorm Fernseher ein. Werde rechtzeitig zur Lesung wach und merke, dass ich mal wieder was essen könnte. Mache die Veranstalterin total wahnsinnig, weil ich fünf Minuten vor Beginn erst reingerannt komme. „Aber ich habe Ihnen doch eine SMS geschrieben“, sage ich. „Aber ich lese NIE meine SMS!“, sagt sie. Es gibt nur Wasser mit Sprudel, Leitungswasser kann man angeblich nicht trinken. Ich versuche, nicht dauernd ins Mikro zu rülpsen, muss aber immer mal was trinken, weil mir der Hals weh tut. Nach der Lesung erfahre ich, dass man mich nur geholt hat, weil die erste, zweite und dritte Wahl zu teuer war. Aber dafür wäre es doch überraschend gut gelaufen, sagt man mir. Ich weiß nicht genau, ob ich mich bedanken soll, nicke aber höflich. Ich verziehe mich ins Hotel und schlafe deprimiert noch vor Harald Schmidt ein.

Tag 7: Zugfahren mit achtzig Mal umsteigen, 45 Grad Fieber und 500-Kilo-Koffer. Ich freue mich schon auf Schuhbecks Hühnerfrikassee und lache auch nicht mehr über sein dämliches Bild auf der Speisekarte, auf dem er aus zwei Metern Höhe drei Salzkörnchen in eine tiefliegende Pfanne wirft. Im Gegenteil, es hat etwas seltsam Vertrautes, dieses Gesicht. Ganz so, als hätten wir uns in den letzten paar Tagen irgendwie angefreundet. Ich bin kurz davor, Hallo zu seinem Bild zu sagen. Mein Vater holt mich am Bahnhof ab, weil ich irgendwo in der Nähe von seinem Wohnort lese. Er kommt sogar mit. Wir betreten den Saal, und auf der Bühne steht ein abgedeckter Flügel. Ich sage: „Warum ist der abgedeckt, ich muss doch gleich spielen?“ Er schaut mich hilflos an, und mir fällt ein, warum ich hier bin. Die vielen Zugkilometer haben mich offenbar auf Zeitreise geschickt, und für einen Moment war ich fünfzehn Jahre alt und unterwegs zu einem Konzert. „Ich hab meine Tabletten heute noch nicht genommen“, versuche ich, die Stimmung aufzuheitern, aber mein Vater schaut nur noch verwirrter. Er hat sich in seinen feinsten Anzug geschmissen und wundert sich, dass die meisten Leute mehr so in Jeans kommen, genau wie ich. Aber er hält tapfer durch. Beim Signieren stellt er sich schräg hinter mich, als wollte er kontrollieren, ob ich alles richtig mache. Er sagt: „Du könntest ja ein bisschen leserlicher schreiben.“ Ich sage: „Ich hab noch nie leserlich geschrieben.“ Er sagt: „Also von mir hast du das nicht.“ Eine Frau erzählt mir, dass ihr vierzigjähriger Sohn auch schreibt. Er hat fünf Jahre recherchiert und nun seinen Roman veröffentlicht. Ich frage interessiert, worüber er geschrieben hat und in welchem Verlag er erschienen ist. Sie sagt, es sei ein Roman über sein Leben, lauter total interessante Dinge, die ihm so passiert sind. Aber den Verlag weiß sie nicht mehr. Nur, dass sie ihrem Sohn viertausend Euro geliehen hat, damit das Buch gedruckt werden konnte. Ich höre, wie hinter mir mein Vater scharf Luft einzieht und beeile mich, der Dame einen kleinen Vortrag über Druckkostenzuschussverlage zu halten und wie böse die sind. Als ich fertig mit Signieren bin, frage ich Papa erwartungsvoll, wie früher nach einem Klavierkonzert: „Und?“ Und er sagt, wie früher nach einem Klavierkonzert: „Jo, also, dann gehen wir mal was essen.“ Ich bekomme die erste vernünftige Mahlzeit seit einer Woche. Hinterher fragt er mich, ob ich Geld brauche.

Back home …

Tag 8: Nach endlosen Zugkilometern – die Bahn überlegt schon, ob sie einen Zug nach mir benennen soll – komme ich zu Hause an. Dr. Müller-Böhne passt mich an der Tür ab und will wissen, wie es war, er hätte im „Spiegel“ gar nichts über meine Lesungen gelesen. Ich huste ihn kurz an, falle in meine Wohnung und werfe mich aufs Sofa. Dr. Müller-Böhne hat sich hinter mir in die Wohnung geschoben und fragt, ob er mir einen Erkältungstee machen soll. Aber ich kann nicht mehr antworten. Ich schlafe schon, mit Stiefeln und Mantel und einer Hand noch am Koffergriff.

Zoë Beck

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