
Maria Topali: Die Wurzeln lang ziehen – Eine pontische Spurensuche nach der kleinasiatischen Katastrophe. Mit einer historischen Einordnung von Mirko Heinemann. Aus dem Griechischen von Doris Wille und Birgit Hildebrand. Hrsg. von Monika Lustig. Edition Converso, Karlsruhe 2023. 208 Seiten, 24 Euro.
Die pontischen Wurzeln ziehen sich mehr als hundert Jahre durch das Geflecht einer kleinasiatischen tragischen Geschichte, die in der vorliegenden Publikation historisch beleuchtet, essayistisch erläutert und lyrisch verdichtet präsentiert wird. Eingerahmt von zwei transparenten geschichtswissenschaftlichen Studien des renommierten Journalisten Mirko Heinemann und einer thematisch aufschlussreichen Anmerkung der Herausgeberin zum Schlüsselbegriff ‚Pontos‘ sind 170 Seiten den essayistischen und lyrischen Texten der Autorin Maria Topali gewidmet. Sie stammt aus einer Familie im einstigen Osmanischen Reich, „dem Pontosgebiet an der Südküste des Schwarzen Meeres“ (S. 9), in dem einst viele griechisch-orthodoxe Christen lebten und zu Beginn der 1920er Jahre nach Griechenland vertrieben wurden. Diesen brutalen Vertreibungsprozess erlitt auch mehr als die Hälfte der weitverzweigten Familie von Maria Topali, die in Nordgriechenland nach 1922, dem Datum der Zwangsumsiedlung, ihr neues Zuhause fand. Die ‚pontische Spurensuche nach der kleinasiatischen Katastrophe‘, so der Untertitel, setzt mit einem Zitat aus dem Gedicht „The Wild Iris“ von Louise Glück, Literatur-Nobelpreisträgerin 2020, ein. Es spielt auf etwas an, was aus einer scheinbar vergessenen Geschichte zurückkehrt und wieder Gehör findet, aus dem Pontos, dem Schwarzen Meer, wieder in den Fluss der Erinnerung fließt.
Der folgende essayistische Text widmet sich diesem Aufklärungsprozess mit auffälligen zeitlichen Verschiebungen. 2021. Ein begrabener Fluss – mit diesem einleitenden Text möchte die Autorin zunächst die Mikroebene der Familiengeschichte beschreiben. Dabei wendet sie sich zunächst den Prozessen zu, die sowohl die urbanen Veränderungen in Athen betreffen als auch gewaltigen Veränderungen in ganz Griechenland. Es handelt sich dabei um die Vertreibung von rund zwei Millionen Griechen aus der Türkei im Jahr 1922. In dem folgenden Abschnitt beleuchtet Maria Topali, ausgehend von ihrem Geburtsjahr 1964, die Vertreibung ihrer pontisch geprägten Familie aus dem Nordosten der Türkei nach Griechenland.
Eine besondere Rolle spielte dabei die Großmutter Maria, geb. Gerondiou. 1900 im gebirgigen Pontos geboren, war auch sie die Leidtragende der gewaltsamen Umsiedlung infolge der zwischen der Türkei und Griechenland ausgehandelten Verträge von Sèvres und Lausanne 1922/23. In den folgenden Kapiteln beschreibt die Autorin die unterschiedlichen Phasen der Familiengeschichte, wobei sie die Jahreszahlen 1897, 1910, 1920, 1925, 1932, 1924 benutzt, um einzelne Mitglieder mit ihren Verdiensten, Schicksalen und besonders auffälligen Charaktereigenschaften in narrativer Folgerichtigkeit und Dialogpassagen zu dokumentieren.

Auffällig ist dabei, dass Maria Topali häufig Auszüge aus Gedichten verwendet, um typische Merkmale der von ihr beschriebenen Persönlichkeiten hervorzuheben. Mit diesen Textverfahren bereitet sie gleichsam den fünfzig Seiten umfassenden II. Teil ihrer Publikation vor. Es handelt sich dabei um „Gedichte und Rhapsodien“, die unter der Überschrift „Ein Schwarm silbriger Fische mit Schnurrbart“, von Birgit Hildebrand übersetzt, der Publikation unter Bezugnahme auf geografisch verbürgte Orte und Anspielungen auf legendäre griechische Dichter*innen der Neuzeit eine poetische Verdichtung von Erlebnissen der Autorin verleihen. Sicherlich thematisieren die breit gefächerten Bezugsfelder ausgiebig die Erinnerungen an und von Personen, die der Dichterin nahestehen. Ob jedoch darüber hinaus sich eine lebhafte Rezeption der lyrischen Texte einsetzen wird, ist auch von der Lektüre des ersten Teils der vorliegenden Publikation abhängig.
Die in dem Teil I der pontischen Spurensuche zuweilen auftretenden chronologischen Sprünge wie auch der Wechsel zwischen personenbezogenen Aussagen und deren emotionaler Bewertung erfordern – nicht zuletzt aus diesem Grund – eine besonders aufmerksame Lektüre. Hilfreich dabei ist auch der Abschnitt ‚Quellen und Danksagung‘ (vgl. 181f.), in dem die Autorin ihre eingehende Absicherung der historischen Ereignisse durch Hinweise auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur bezeugt. Mehr noch trägt das Schlusswort aus der Feder von Mirko Heinemann zur Einordnung und Würdigung der historischen Einordnung der „kleinasiatischen Katastrophe“ bei. Es beschreibt ausführlich die Hintergründe für die Flucht von 1,4 Millionen Griechen, darunter auch Armenier und Christen anderer Konfessionen, nach Griechenland, wie auch von 0,4 Millionen Muslimen aus Griechenland in die Türkei.
Eine verdienstvolle Publikation, die aufgrund ihrer Kombination aus wissenschaftlich fundierter historischer Einordnung und einer eingehenden, wenn auch oft sprunghaften, dokumentarisch belegten Spurensuche aus der Feder der Autorin ihre Anerkennung verdient. Sie gebührt Maria Topali, die sich jahrzehntelang mit Ursachen und Auswirkungen einer Katastrophe auf der Grundlage einer familiengeschichtlichen Untersuchung beschäftigt hat. Die vorliegende, geschichtswissenschaftlich und editorisch abgesicherte Publikation führt in eine Periode europäisch-asiatischer Geschichte, unter der auch die gegenwärtigen Spannungen zwischen der Türkei und Griechenlang am Ägäischen Meer leiden. Grund genug, um sich auf die pontische Spurensuche zu machen. Der von der Europäischen Union finanzierte, drucktechnisch und illustrativ ansehnlich gestaltete Band lädt nicht zuletzt auch deshalb zu einer eingehenden Lektüre ein.
Wolfgang Schlott
Maria Topali: Die Wurzeln lang ziehen – Eine pontische Spurensuche nach der kleinasiatischen Katastrophe. Mit einer historischen Einordnung von Mirko Heinemann. Aus dem Griechischen von Doris Wille und Birgit Hildebrand. Hrsg. von Monika Lustig. Edition Converso, Karlsruhe 2023. 208 Seiten, 24 Euro.