Geschrieben am 1. Juni 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2023

Gardelegen 1945: Wo die Rede vom Holocaust begann

LIFE Cover vom 7. Mai 1945: „Tom Przibilla/Gedenkstätte Gardelegen“

Das Massaker in der Feldscheune Isenschnibbe bei Gardelegen findet endlich zu einer Dauerausstellung

Von Bruno Arich-Gerz

13. April 1945. Alliierte US-amerikanische Truppen dringen von Niedersachsen aus vor nach Osten in die Altmark in Sachsen-Anhalt. Es ist eine Frage von Stunden, bis sie die kleine Hansestadt Gardelegen einnehmen. In einer Kasernenanlage pfercht die SS mehr als tausend KZ-Häftlinge erst in einen Kasernenbau und dann – vor den Toren der Stadt auf dem Burgbesitz Isenschnibbe  – in eine mit benzingetränktem Stroh ausgelegte Scheune aus Stein. Zivilisten helfen bei der Aktion.

Die Häftlinge ersticken, verbrennen. Einige sperren die Tore auf und werden von deutschen Mördern erschossen. Eine Handvoll überlebt, 1016 Menschen – allesamt Männer – werden zu Opfern eines Massakers, das amerikanische Truppen kurz darauf entdecken und dokumentieren. Die notdürftig verscharrten Brandleichen führen sie einer würdevollen Bestattung auf einem fußballfeldgroßen Grabareal neben der Scheune zu. Einwohner Gardelegens müssen helfen und sich der Konfrontation mit dem stellen, was vor den Toren der Stadt auch in ihrem Namen geschah.

Das LIFE Magazin bringt in seiner ersten Maiausgabe 1945 Fotos von der ausgekohlten Scheune und den verbrannten Leichen. In der Überschrift ist auf Amerikanisch die Rede von einem ‚Brandopfer‘: ‚The Holocaust of Gardelegen‘. Es ist das erste Mal, lange vor der weltweit wirkmächtigen gleichnamigen Fernsehserie, dass der Begriff in den Vereinigten Staaten Verwendung für die eliminatorischen Verbrechen der Nazis findet: Holocaust.

Diesen grauenvollen Geschehensablauf traut sich der Katalog einer Dauerausstellung, die endlich – 75 Jahre später – im 2020 eröffneten Dokumentationszentrum der ‚Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen‘ zu sehen ist, in Form einer Graphic Novel in sein wörtliches Zentrum zu stellen: in die Mitte des Bands. Die zeichnerische Visualisierung von Feuertoden ist sicher eine Konzession an insbesondere jüngere Besucher und natürlich ein Wagnis. Aber eines das aufgeht, weil die im Scheunen-Holocaust kulminierende Vorgeschichte im ‚Gewaltraum‘ in und um Gardelegen ebenso gezeigt wird.

Wie auch sonst der Katalog und die Ausstellung selbst zu empfehlen sind. 

Gardelegen 1945. Das Massaker und seine Nachwirkungen sind beide betitelt. Wie eine klassische chronologische Erzählung ist der Katalog angelegt und steigt ein mit einem Prolog, verfasst vom Leiter der Gedenkstätte Andreas Froese und Lukkas Busche. ‚Neue Perspektiven‘ und neue Sichten wie die verwendete Gattung Graphic Novel, aber auch Sichtachsen werden beschrieben, entlang derer die Ausstellung konzipiert und in einem das Gelände und Geschehen ostentativ nicht kommentierenden Riegelbau aus Beton untergebracht ist.

Zwei Beiträge von Fachhistorikern zur kollektiv-emotionalen Gemengelage der NS-deutschen Tätergesellschaft in der Endphase des Kriegs folgen, die verdeutlichen, dass und warum es zu einer von niemandem widersprochenen Gewalteskalation wie der in Gardelegen kam. Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, verdeutlicht, wie und warum die vielfach entkräfteten Häftlinge nach Räumung der Außenlager der Konzentrationslager Mittelbau-Dora im Südharz und Hannover-Stöcken, das zum KZ Neuengamme zählte, in Bahntransporten und auf Fußmärschen in die Gegend um Gardelegen getrieben wurden. Wagners Schilderung gelingt routiniert und im Duktus erfrischend un-akademisch. Etwas seminaristischer und wenig(er) am Beispiel Gardelegen angelegt, ergänzt Sven Keller die gesellschaftliche Gemengelage, die sich aufhängt am NS-Konzept einer Volksgemeinschaft und die endet in den Exzessen der ‚Gewalt 1945 auf dem Land‘.

© Bertil Brahm/KOCMOC Exhibitions GmbH

Die knapp fünfzigseitige Wiedergabe der Graphik Novel aus der Ausstellung im dafür ausreichend großen Querformat des Katalogs verfehlt seine Wirkung nicht. Details fallen auf, oder nicht (werden aber von einem der Graphiker, Jan Wünsche, und Alexander Fleischmann erläutert): dass mit dem ‚Einbruch‘ der täterbewachten Häftlingsscharen ‚in die ländliche Idylle‘ von Mieste oder Letzlingen diese Orte markiert werden als bis dahin von der Diffusion des Konzentrationslagergeschehens in die nationalsozialistische Zivilgesellschaft durch Häftlings-Außeneinsätze nicht betroffen – ein Befund, den Jens-Christian Wagner für den Südharz und das KZ Mittelbau-Dora anders schildert. Ein anderes Detail sind rot eingefärbte Abschnitte in der ansonsten in Schwarz-Weiß gehaltenen Graphik Novel: ‚Störer‘ nennen sie die Macher, eine Art brechtscher V-Effekte, die die Betrachtenden zur Reflexion auf mögliche Handlungsspielräume der Tatbeteiligten anregen sollen.

Eine passende Ergänzung der graphischen Darstellung der Verbrechensabfolge vor, während und nach dem 13. April 1945 ist Thomas Irmers textliche ‚Chronologie entgrenzter Gewalt‘. Beinahe minutiös – was auf fünf Seiten beachtlich ist – beschreibt er anhand von Augenzeugenmaterial die Ereignisse einschließlich der Ermordung von Häftlingen auf dem Weg in die Gardeleger Kaserne und zur Scheune nicht nur durch SS, sondern auch Hitlerjugend, Wehrmacht oder Volkssturm.

Dem ‚Danach‘ des Geschehens als Anschauungsmaterial im Rahmen von Re-Education und Entnazifizierung der deutschen Zivilbevölkerung widmet sich die Gießener Professorin für Fachjournalistik Geschichte, Ulrike Weckel. Erkennbar die Kurzfassung einer ausführlichen wissenschaftlichen Studie, erzählt der Beitrag die Geschichte der Zusammenstellung, teilweisen Um-Montage und Publikumswirkung des 20minütigen Dokumentarstreifens Die Todesmühlen (Regieaufsicht: Billy Wilder). In puncto Verbreitung und Konfrontation mit dem Geschehenen ist diese Zusammenschau von ‚atrocity footage‘ und den ersten Maßnahmen nach Entdeckung der NS-Gewalttaten (auch) aus Gardelegen ein filmisches Äquivalent zu den Fotografien im LIFE Magazin: nur mit dem Unterschied, dass die Zielgruppe nicht die US-Öffentlichkeit ist, sondern die besiegte deutsche Tätergesellschaft.

Damit ist eine erste, ‚frühe‘ Brücke geschlagen zum Umgang mit Tat und Täterschaft nach 1945. Der ‚strafrechtlichen Ahndung von Todesmarschverbrechen‘ in den folgenden Jahrzehnten widmet sich der Historiker Martin C. Winter. SS-Hauptscharführer Erhard Brauny heißt im Fall der Todesmärsche nach Gardelegen der eine dicke Fisch; 1947 wurde er in Dachau zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Ein anderer war der örtliche NSDAP-Kreisleiter Gerhard Thiele, der den Ermittlern durch die Lappen ging. Unter dem Namen Gerhard Lindemann lebte Thiele, der das Massaker in der Feldscheune offenkundig mitgeplant, propagiert und wesentlich organisiert hatte, bis zu seinem Tod 1994 unbehelligt in Düsseldorf.

Zum Umgang mit den Verbrechen und dem Tatort nach Ende des Nationalsozialismus gehört auch seine institutionell-memoriale Nachgeschichte. Andreas Froese weist im letzten ausführlichen Beitrag das interessante, Ideologien-diverse Palimpsest des Gedenkens an der Feldscheune, auf dem daneben auf Betreiben der alliierten Besatzer angelegten Ehrenfriedhof und in der Stadt Gardelegen nach. Der Durchlauf durch nacheinander US-amerikanische Ansätze, dann die in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) und der DDR, schließlich die wiedervereinigungsdeutschen Gedenkpolitiken des Gedenkens endet mit der Einrichtung der Dauerausstellung.

Kurze Vignetten von Opfern – Überlebenden und Ermordeten – und Generalmajor Frank Keating, dem Kommandanten der 102. Infanteriedivision der US-Armee und ersten entschlossenen Anstoßgeber für ein lokales Gedenken, schließen den Katalog ab.

Gardelegen 1945. Das Massaker und seine Nachwirkungen ist aus gutem, nämlich die Sprachen des Gros der Ermordeten und der Aufdecker des Verbrechens berücksichtigen Grund nicht nur auf Deutsch erschienen, sondern außerdem auf Französisch, Englisch und Polnisch. Den Band zu empfehlen, ist bei Ausstellungsbegleitdokumentationen immer ambivalent, denn seine Wirkung richtig entfalten kann er erst in Verbindung mit einem Besuch der Ausstellung selbst.

Den tiefer Informierten fallen der unterschiedlich scharfe Gardelegen-Fokus bei den Beiträgen, eine generelle Historiker-Lastigkeit und ein Hang zur Etabliertenpflege bei der angeführten (auch weiterführenden) Literatur auf. Die Abhandlungen zur filmgewordenen unmittelbaren Nachgeschichte und zur juristischen Verfolgung und Ahndung der Todesmarschverbrechen referieren etwas zu ausführlich eigene, Forschungen und unterlegen sie mit Beispielen, die für den in der Gedenkstätte ausgestellten historischen Geschehenszusammenhang höchstens mittelbar relevant sind. Und die Erwähnung von im Geschichtswissenschaftsbetrieb nicht etablierten, meistens lokalen Aufarbeitungs-Engagierten (etwa Torsten Haarseim) findet kaum – jedenfalls nicht an prominenter Stelle – statt. 

Am Gesamteindruck eines beeindruckenden Begleitwerks zu einer beeindruckend zeitgemäßen, durchaus wagnisfreudigen und exzellent recherchierten Ausstellung ändert dies nichts.

Gardelegen 1945. Das Massaker und seine Nachwirkungen. Katalog zur Dauerausstellung der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen. ISBN 978-3-9813459-9-5

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