
Mehr Tiefe statt Effekte
Eine Besprechung von Constanze Matthes
Elmas Rückkehr ist nicht die einzige. Eine zweite Frau taucht nach einigen Jahren wieder überraschend in Akranes auf. Wenig später wird ihre Leiche am alten Leuchtturm entdeckt, der für Kinder Spielplatz, für junge Paare ein Liebesnest ist. Für Elma ist der Mord der erste Fall als Polizistin in dem beschaulichen Ort an der Westküste Islands. Hier ist sie aufgewachsen, hierher ist sie nach Jahren in Reykjavík und nach dem Ende einer langjährigen Beziehung wieder zurückgekehrt. „Verschwiegen“ ist der Auftakt der neuen Krimi-Reihe der isländischen Autorin Eva Björg Ægisdóttir, für den sie nicht nur in ihrem Heimatland ausgezeichnet wurde.
Bekanntlich können Krimis aus dem hohen Norden blutig und düster zugleich sein. Im Fall der Isländerin ist nur letzteres der Fall. Setzt da eine Trendwende in dem beliebten Genre ein? Mehr Tiefe statt Effekte? Spannend ist das auch vielschichtige Krimi-Debüt von Ægisdóttir allemal, denn sie lässt den Leser tief in die dunkle Geschichte einer Familie und des Ortes eintauchen. In Akranes kennt jeder jeden. Knapp 7.000 Menschen leben in der Hafenstadt, im Übrigen früher auch die Autorin, die hier aufgewachsen ist.
Und die Autorin lässt sich Zeit, die Szenerie aufzubauen und das neue Umfeld Elmas zu beleuchten. Erst auf Seite 60 wird die Frauenleiche gefunden, bei der es sich um Elisabet handelt, eine Pilotin und zweifache Mutter, die als Kind in Akranes gelebt hat, allerdings schon in jungen Jahren weggezogen war. Was hatte sie nun in dem Ort zu suchen? Elma und ihre Kollegen Sævar und Hördur nehmen die Ermittlungen auf, wobei Chef Hördur sein Team „zurückpfeift“, als die Polizisten nicht nur die Familie der Toten sowie einstige Nachbarn, Lehrer und Mitschüler befragen, sondern auch das Umfeld einer vermögenden und einflussreichen Familie untersuchen. Denn Sara, die Tochter von Hendrik und Åsa, war einst Elisabets beste Freundin – und plötzlich verschwunden.
Elma stößt nach und nach auf die Geschichte einer entsetzlichen Kindheit und eines furchtbaren Verbrechens, wobei der Täter nie zur Verantwortung gezogen wurde. Dieser Blick in die Vergangenheit gibt dem Roman eine sehr dunkle Stimmung, wobei die Handlung in zwei Erzählfäden getrennt ist: Einer schildert die Ermittlungsarbeit der Polizei, ein anderer rückblickend die Geschichte von Elisabet und Sara, die in den Jahren 1989 bis 1992 angesiedelt ist. Nach und nach setzt sich für den Leser das Bild zusammen, weil immer weitere Details ans Tageslicht kommen, das ganze Ausmaß einer letztlich folgenreichen Tragödie deutlich wird.
Dabei sind die Protagonisten selbst nicht frei von Konflikten. Sævars Beziehung steht am Ende, Elma muss ihre noch verarbeiten und in ihrer Heimat wieder ankommen. Was es mit ihrem Partner David und der Trennung letztlich auf sich hat, erfährt der Leser erst in einer Szene ganz am Schluss, die einen gewissen Schock auslösen kann. Überhaupt geht es in „Verschwiegen“ nicht so sehr um eine spannungsgeladene Ermittlungsarbeit, vielmehr baut diese sich eher auf einer systematischen, durchdachten und empathischen Recherche Elmas auf. Wer aufmerksam liest, wird das furchtbare Schicksal von Elisabet, die in einem prekären Umfeld aufwuchs und als Einzelgängerin galt, und damit den Grund für ihren späteren Tod schon erahnen können, wenngleich der Mörder wohl für Überraschung sorgen wird.
Interessant waren für mich die Themen im Hintergrund, auf die Ægisdóttir immer wieder im Verlauf des Geschehens zurückkehrt. Ihr Krimi beleuchtet auf eindrückliche Art und Weise Beziehungen in all ihren Formen und Ausprägungen, ob zwischen Paaren, Generationen oder Freunden und Mitschülern. Manche halten ein Leben lang, manche gehen in die Brüche. Erinnerungen spielen dabei eine wichtige Rolle.
Zugleich geht es um Geheimnisse, wie werden ihre Enthüllungen unterdrückt, wie kommen sie trotz alledem ans Tageslicht. Gerade mit Blick auf eine Kleinstadt mit einem gewissen Machtgefüge und Beziehungsgeflecht nebst Abhängigkeiten sind das soziologisch wie psychologisch spannende Fragen. Was für uns überraschend ist, aber in Skandinavien generell Usus: Jeder duzt sich. Ein weiteres großes Thema des Romans liegt im Kontrast zwischen ländlicher Region und Hauptstadt; verbunden mit der Frage, was hält einen Menschen auf dem Land, weshalb kehrt er zurück.
Ægisdóttir, die Soziologie in Island und Globalisierung in Norwegen studiert hat, erhielt für ihr 2018 im Original erschienenes Debüt den Blackbird-Award verliehen, der von den bekannten isländischen AutorInnen Yrsa Sigurðardóttir und Ragnar Jónasson gestiftet wurde, um junge isländische Krimi-Autoren zu unterstützen und zu motivieren. Die Auszeichnung ist mit einem Preisgeld in Höhe von umgerechnet 5.000 Euro verbunden. Zwei Jahre später wurde sie zudem mit dem CWA New Blood Dagger der British Crime Writers‘ Association geehrt. Im September erscheint der zweite Teil der Elma-Reihe unter dem Titel „Verlogen“ in deutscher Übersetzung. Man kann gespannt sein – auf einen neuen Fall und wie es mit der Polizistin weitergeht.
Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen. Mörderisches Island, Band 1. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 368 Seiten, 17 Euro.
Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.