Verlorene Illusionen
Polizeiarbeit mehr oder weniger auf Vigilanten-Basis, das ist die harte und dreckige französische TV-Serie „Braquo“ von Oliver Marchal. Das System hat auf ziemlich allen Ebenen versagt, die Polizei ist die härteste Gang. Alexander Roth stellt uns die Serie vor.
„Wer hat sie zuerst gefickt, du oder dein Kumpel?“, fragt Polizist Max den zitternden Mann, der in Unterhose vor ihm im Verhörraum kniet. Es geht um die Vergewaltigung einer schwangeren Frau. Die Frage bleibt in der Luft hängen, unbeantwortet, der Täter zeigt keine Reue, möchte den Komplizen nicht nennen und verhöhnt sein Gegenüber. Bei Max brennen alle Sicherungen durch. Er steckt sich eine Zigarette an, bläst dem Vergewaltiger den Rauch ins Gesicht – und rammt ihm dann ohne Vorwarnung einen Kugelschreiber durchs Auge. Schnitt. Nächste Szene. Wieder ein halbnackter Typ, diesmal bei SM-Spielchen mit einer Prostituierten. Peitschenhiebe knallen, als das Zimmer von einer Gruppe Maskierter gestürmt wird. Wie sich herausstellt, ist der halbnackte Typ ein hochrangiger Politiker, der kein Interesse daran hat, dass seine sexuellen Vorlieben an die Öffentlichkeit gelangen – und das werden sie, wenn er nicht tut, was die Eindringlinge von ihm verlangen. Schnitt. Nächste Szene. Ein Gebäude, das irgendwie an eine Garage erinnert. Eine alte Fabrikhalle in desolatem Zustand, rote Backsteine, der Geruch von Gewerkschaft. Die Gruppe von eben, eine Frau, drei Männer, immer noch in voller Montur, Lederjacken, Knarren – nur die Sturmhauben, welche die Verbrecher-Garderobe komplettierten, sind nicht mehr da.
Wenn dem Zuschauer dämmert, dass dieses heruntergekommene Gebäude eine Polizeiwache sein soll, dass es sich bei den Vieren nicht nur um Polizisten, sondern um die Mitglieder einer Spezialeinheit handelt, über deren Büro, das über eine eigenen Bar (!) verfügt, die Worte „Danger“ und „Death“ geschrieben stehen, dann, ja dann hat er einen ersten Vorgeschmack darauf bekommen, was ihn bei der französischen TV-Serie „Braquo“ erwartet. Darf ich vorstellen: Das wahrscheinlich gefährlichste Revier Frankreichs.
Eine besondere Freude ist es, den hierzulande eher unbekannten Jean-Hugues Anglade in einer Hauptrolle zu sehen, weil er wie kaum ein anderer Schauspieler mit dem (französischen) Krimigenre verbunden ist. Mit „Subway“, „Nikita“ und einem Cameo-Auftritt in „Leon – der Profi“ hat er gleich drei meiner Lieblingsfilme aus dem Nachbarland in seinem Portfolio. Darüber hinaus mimte er in der TV-Serie „Collection Fred Vargas“ den exzentrischen Kommissar Adamsberg und lieh Cardinal Berchet in der Literaturverfilmung des italienischen Kriminalromans „Suburra“ sein Gesicht. Wer ganz genau hinsieht, vermag ihn sogar bei den „Sopranos“ zu entdecken. Als Eddy Caplan führt er nun in „Braquo“ die härteste Polizeieinheit an, die je einen Pariser Vorort betreten hat – bestehend aus dem ausgelaugten Walter Morlighem (Joseph Malerba), der seine Spielsucht nicht in den Griff bekommt, Roxane Delgado (Karole Rocher), der heimlichen zweiten Hauptfigur, die den Laden im Innersten zusammenhält, und dem ständig zugedröhnten „jungen Wilden“ Théo Vachewski (Nicolas Duvauchelle), der alles flach legt, was in sein Sichtfeld stolpert. Genau die richtige Truppe also, um die von Gewalt und Korruption geplagten Hauptstadt ordentlich aufzumischen.
Zwei der drei Staffeln von Olivier Marchals Erfolgsserie sind bisher auf Deutsch erschienen. Sie zeigen uns eine düstere, erbarmungslose Welt, fernab der technokratischen Polizeiarbeit im US-Fernsehen, fernab der hyperintelligenten Profiler und Analytiker, aber auch fernab von Genre-Großtaten wie „The Wire“. Im Mittelpunkt steht Caplans Einheit, die von allen Seiten ins Kreuzfeuer genommen wird: Die Interne sitzt ihnen im Nacken, weil sie ahnen, dass die Truppe einige Leichen im Keller hat, und die Größen der Pariser Unterwelt machen selbstverständlich ebenfalls Jagd auf sie, aber nicht etwa aus dem im Gewerbe üblichen Polizistenhass, sondern weil sie mit Caplan & Co. noch eine Rechnung offen haben.
Das hält man nur durch, in dem man sich ein dickes Fell zulegt, seinen Teamkameraden gegenüber loyal und allen anderen gegenüber misstrauisch bleibt. Denn jeder spielt ein falsches Spiel, und ausnahmslos keiner hält sich dabei an die Regeln. Es geht zwar um Cops, doch zu jeder Zeit sieht der Zuschauer eine Gangster-Serie, ein Unterweltdrama, in dem die Polizei, ach was, der ganze Staatsapparat derart mafiöse Strukturen aufweist, dass man statt Verbrechensbekämpfung eher von einem Bandenkrieg sprechen sollte; Jene, deren Macht von einem Gesetz legitimiert wird, an das sie sich tunlichst nicht halten wollen, gegen jene, die schon immer außerhalb davon standen. Probleme werden in „Braquo“ nur auf zwei Arten gelöst: Mit Geld oder mit einer Kugel. Plato o Plomo, nur eben auf Französisch.
Zwei Eckpfeiler machen den Reiz von „Braquo“ aus: Zum einen mutet die Serie trotz – oder gerade wegen – der expliziten Gewaltdarstellung und den ambivalenten Beamten sehr realistisch an. Dieser Realismus speist sich aus der Erfahrung ihres Regisseurs. Olivier Marchal war selbst bei der Polizei, erst in Versailles, später dann im 13. Arrondissement vom Paris und zwischenzeitlich sogar bei einer Antiterror-Einheit, bevor er sich schließlich nach fast 20 Jahren Dienstzeit dem Film zuwendete.
Zum anderen ist die Serie politisch hochbrisant.Während sich die politische Dimension in der ersten Staffel noch weitestgehend auf Personalpolitik beschränkt, auf den Druck, den die politische Führung auf den Polizeiapparat ausübt, damit dieser die Unruhen in den Banlieues so schnell wie möglich in den Griff bekommt, dass sie selbst sich nicht mehr damit herumschlagen muss, wird die zweite Staffel zum actiongeladenen Politthriller. Das Militär betritt die Bühne – und möchtige Politiker mit ihm. Plötzlich geht es nicht mehr nur um das, was ist, sondern um das, was war, um den Krieg in Angola, um nie beglichene Rechnungen und die Folgen des Elends. „Die Regierung ist nervös“.
Die Serie steckt nicht nur voller scharfzüngiger Dialoge, sie seziert auch mit messerscharfen Blicken die Mechanismen, die dort ablaufen, wo normalerweise keiner hinschaut. Damit ist „Braquo“ weit mehr als nur eine brutalere, düsterere Version ähnlicher amerikanischer Formate. Hier wird der Gesellschaft kein Spiegel vorgehalten, hier wird vom Spiegel eine Line nach der anderen gezogen, denn die einzige moralische Instanz ist ein desillusionierter Haufen verbrecherischer Cops. Dass deren gewalttätiges Vorgehen, deren unzählige Verfehlungen im Vergleich zu dem, was die wirklich Mächtigen tagtäglich anrichten, so vernachlässigbar wirken, dass wir als Zuschauer bereit sind, diese Einheit in unserer vermeintlich bipolaren Welt als „die Guten“ zu akzeptieren – das ist der wahre Schlamassel, mit dem wir uns herumschlagen müssen. Willkommen in der Grauzone.
Alexander Roth
„Braquo“ wurde erstmals 2009 beim französischen TV-Sender Canal+ ausgestrahlt. Mittlerweile gibt es drei Staffeln, eine vierte ist in Arbeit. In Deutschland liefen die ersten beiden Staffeln im letzten Jahr auf ARTE.
Zu Alexander Roths Blog „Der Schneemann“ geht es hier.