Geschrieben am 1. Juni 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2023

Timo Blunck – Textauszug aus „Hamburg Noir“

Engelfrikassee – Eine Kurzgeschichte von Timo Blunck

Mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor, hier vorab exklusiv ein Auszug aus:

Jan Karsten (Hg.): Hamburg Noir: 14 Originalgeschichten von Ingvar Ambjörnsen, Zoë Beck, Timo Blunck, Robert Brack, Bela B Felsenheimer, Frank Göhre, Brigitte Helbling, Kai Hensel, Nora Luttmer, Till Raether, Jasmin Ramadan, Katrin Seddig, Tina Uebel, Matthias Wittekindt. Paperback. CulturBooks, Hamburg 2023. Circa 300 Seiten, 18 Euro. – Erscheinungsdatum: 24.06.2023.

Timo Blunck, geboren 1962 in Hamburg, ist Musiker, Sänger, Komponist, Produzent und Autor. Ab 1981 war er Bassist der international erfolgreichen Avantgarde-Punkband Palais Schaumburg. Zur gleichen Zeit gründete Blunck mit Detlef Diederichsen die Band Die Zimmermänner, mit denen er heute noch aktiv ist. Nach Stationen in England und den USA betreibt Blunck seit 2001 in Hamburg die Firma BLUT, die Musik für Filme, Events und Werbung produziert. Seinem Romandebüt »Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?«, zu dem es auch ein begleitendes musikalisches Soloalbum gab, folgte zuletzt der Roman »Die Optimistin« (2021). 

Engelfrikassee

Niendorf

»Zartbitter! Hi-ier! Zartbitter!«

»Ihr Hund heißt Zartbitter?«

»Ja, wie die Schokolade. 70 Prozent Kakao.«

Der Labrador-Rüde, der jetzt aus dem Wasser auf uns zustürmte, hatte einen tiefen Braunton, sein kurzes Fell glänzte wie eine Tafel Ritter Sport. Mit großer Geschwindigkeit näherte er sich seinem Frauchen, machte keine Anstalten, langsamer zu werden. Im letzten Moment korrigierte er seinen Kurs und hechtete mir gegen den Oberschenkel. Ich rief: 

»Nein, nicht anspringen!« 

Zu spät. Zartbitter hinterließ fleißig matschige Tatzenabdrücke. Seine Halterin lächelte zwar verlegen, griff aber nicht ein. 

»Das tut mir so leid. Chocolate-Labbies sind leider besonders schwer zu erziehen. Zartbitter benimmt sich, wie er will.« 

Zum Beweis schüttelte sich der Racker, verteilte weiteren Dreck auf meiner Hose. Ich log: 

»Das macht doch überhaupt nichts. Sind sowieso meine Schmuddelklamotten.« 

Als hätte ich Schmuddelklamotten. Meine mintgrünen Leinenpantalons kamen frisch aus der Reinigung. Zum Glück hatte die Schlammdusche vor meinem himmelblauen Wildlederblouson haltgemacht, den hätte ich sonst nämlich wegwerfen können. Frau Zartbitter war die Sache wirklich peinlich, sie wurde sogar etwas rot. Entzückend. Sie zeigte auf meine flauschige Begleitung. 

»Und wie heißt diese süße Fellnase?«

»Das ist Knef. So wie Hildegard.«

»Hildegard Knef? Die Sängerin?«

»Genau die. Ich bin großer Fan.«

»Mmh. Knef. Ruft sich aber nicht sonderlich.«

»Das könnte man über Zartbitter genauso sagen.« 

Touché. Ihr Lächeln verwandelte sich von verlegen zu aufgeschlossen. Sie musterte mich eindringlich, nahm zum ersten Mal den Mann jenseits des Hundes wahr. Und ihr gefiel offensichtlich, was sie sah, denn sie verschränkte instinktiv die Arme vor der Brust. Kleines Einmaleins der Körpersprache: Verteidigungshaltung, der Typ könnte mir gefährlich werden. 

Ich hatte mir meine Mischlingsdame Knef genau für diesen Zweck zugelegt. Vergesst Tinder, der schnellste Weg zum Herzen einer attraktiven Frau war über ihren Vierbeiner. In Cafés, Restaurants und Eisdielen, auf Floh- und Wochenmärkten, an Bushaltestellen oder einfach nur so auf der Straße: Hundebesitzer waren alle vom gleichen Stamm und hatten immer sofort ein Gesprächsthema. Früher hatte ich viel Zeit damit verbracht, mir den perfekten Anmachspruch auszudenken. Originell musste er sein und der Situation entsprechend, um spontan und nicht auswendig gelernt zu klingen. Vor allem aber durfte er nicht zu aufdringlich wirken. Wobei meine charmante Vortragsweise in Kombination mit meinem ansprechenden Äußeren so einiges zuließ. Manchmal hatte ich gerade mit einem leicht übertriebenen Klischee den größten Erfolg: »Ich wusste nicht, dass Engel so tief fliegen können.«

Aber auch Klassiker wie »Ich wette 20 Euro, dass du mir nicht deine Nummer gibst« oder ein humorvolles »Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick? Sonst geh’ ich raus und komm noch mal rein« funktionierten immer mal wieder. Jegliches Spruchgold verblasste allerdings im Vergleich zu: »Was ist das denn für eine Hunderasse?«, eine in ihrer Unverbindlichkeit unschlagbare Frage, die aber im selben Atemzug eine sehr intime Schnittmenge herstellte und somit die mit Abstand beste Pick-up-Line der Welt war. Jedoch nur, wenn man selbst einen Hund an der Leine führte. Dabei eignete sich Knef noch mal ganz besonders für die mit 97-prozentiger Sicherheit kommende Gegenfrage »… und Ihrer?«, denn Knef war keine Rasse. Knef war vier Rassen: Ein Mix aus Bobtail und Wolfsspitz, dazu ein Schuss Eurasier, abgerundet mit einem Spritzer Dackelgenen. Wie insbesondere Letzteres technisch funktioniert hatte, war mir schleierhaft, aber Knef hatte definitiv Dackelohren. Außerdem kam sie aus dem Tierheim und das gab mir noch mal zusätzlich den Gutmensch-Bonus. Und schon befand man sich in einer tiefsinnigen Konversation über das Wesen des Hundes im Allgemeinen, seine Vorzüge gegenüber Katzen und warum wir uns ein Leben ohne unser Ausnahme-Exemplar gar nicht mehr vorstellen konnten. 

Der beste Ort für derlei nicht ganz zufällige Begegnungen war natürlich die Hundewiese. Diese typisch deutsche Einrichtung gab es in praktisch jedem Park der Republik. Nur hier in diesem Areal durften die Vierbeiner ausnahmsweise mal von der Leine, aber die Freiheit wurde knallhart kontrolliert, in Hamburg sogar von einer speziellen Einsatztruppe der Polizei. Hundewiesen waren nicht groß, Spazierengehen funktionierte hier nicht. Mensch stand herum und schaute Tier beim Spielen mit seinen Artgenossen zu. Wer jetzt nicht ins Gespräch kam, hatte wahrscheinlich auch beim Abschlussball allein getanzt. Ideale Hangouts also für einen kontaktfreudigen Mittdreißiger wie mich, immer auf der Suche nach menschlicher Inspiration und auch physischer Nähe nicht abgeneigt, selbst wenn sie nur von kurzer Dauer war. 

Eine der größten Hundewiesen Hamburgs befand sich in Niendorf. Diesen weitgehend unterschätzten Stadtteil im Nordwesten der Hansestadt verband der durchschnittliche Spaziergänger wohl zunächst mit dem Niendorfer Gehege, einer äußerst gepflegten Kulturlandschaft mit antikem Baumbestand und vielen Freizeitattraktionen. Dem ernsthaften Hundehalter aber war dieses Gelände viel zu restriktiv, ja regelrecht hundeunfreundlich. Der echte Niendorfer verortete das Gehege sowieso im ›alten‹ Niendorf, dem Gebiet rund um den Niendorfer Markplatz. Diese Gegend war eine Art ›Blankenese-light‹ (für alle Nicht-Hamburger: Blankenese ist der exklusivste Nobelvorort der Hansestadt), in den schmucken Jugendstil-Villen wohnten sogar ein paar Promis! Das ›neue‹ und für den Kenner einzig wahre Niendorf war aber der ›wilde Norden‹, das ehemalige Ohmoor und die Gebiete nordwestlich des Flughafens ›Helmut Schmidt‹. Diesen um einiges weniger eleganten Flecken dominierten trostlose Betonburgen und die wahrscheinlich schmalsten Reihenhäuser Deutschlands. Aber hey, das war meine Hood. Als junger Mann konnte ich es kaum erwarten, endlich wegzuziehen, heute war ich froh, hier meine Wurzeln zu haben. Ich ❤ Niendorf! 

In meiner Nachbarschaft befanden sich auch das ›Naherholungsgebiet‹ Rahweg und der Kleingartenverein Hasenheide e.V., beide idyllisch an der Tarpenbek gelegen, eine der unbedeutenderen Wasserstraßen Hamburgs. Eigentlich war diese Anlage ein Ding der Unmöglichkeit, bestes Bauland in relativer City-Nähe, mit der U-Bahn-Linie 2 ist man in zwanzig Minuten in der Innenstadt. Aber sosehr sich die Immobilien-Spekulanten auch die Finger danach leckten, das Objekt lag einfach zu dicht am Flughafen. Neben Lärm und Luftverschmutzung kam noch erschwerend hinzu, dass die sanft rollenden Hügel des Geländes in Wirklichkeit die letzten Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs waren. An dieser Stelle wurden nämlich noch bis in die frühen 50er-Jahre die Resttrümmer der von den Engländern zerbombten Hansestadt vergraben. Deshalb funktionierte in der Gegend auch die Entwässerung nicht, immer wieder fluteten die Lauben, versanken die Wege im Regenwasser. Als Original-Niendorfer kannte ich das ›Naherholungsgebiet‹ noch als den ›Baggersee‹. Das Kernstück der Anlage war nämlich ein künstlicher Teich, der sogar einen kleinen Sandstrand hatte. Hier war ich als Kind im Sommer fast jedes Wochenende zum Baden, hatte Schwimmen gelernt und mit meinem Vater geangelt. Leider war der See mittlerweile ›umgekippt‹, verweste Algen trieben an der Oberfläche, es roch modrig und an der Böschung sammelte sich braun-grauer Schaum. Deshalb hatte die Parkverwaltung wohl auch genau hier die Auslaufwiese angelegt, mit Hundehaltern konnte man es ja machen. 

Hamburg um 1700, Blick von der Seite des Dammtor

Zartbitter lief wieder in die trübe Brühe. Meine neue Hundebekanntschaft erklärte: 

»Labradore sind Apportierhunde, sie sind sehr wasserfreudig. Ihr Fell ist extrem dicht, sie werden nicht nass.« 

No shit! Ich wischte mir den Matsch von der Hose. 

»Na, da kann sich die Textilindustrie ja noch so einiges abgucken.« 

Sie kicherte.

»Ich heiße übrigens Josepha. Und du?« 

Das ging aber schnell. Und gleich auf Du!

»Ich bin Mar…« Ein riesiger Airbus im Landeanflug unterbrach mich mit ohrenbetäubendem Lärm. Knef fing an zu winseln, drängte sich an meine Beine. Ich streichelte ihr den Kopf. 

»Alles gut, meine Süße.«

Der Flieger zog vorbei.

»Ich bin Marius.«

»Hallo Marius. Freut mich, dich kennenzulernen.«

Ich lächelte mein schönstes Lächeln. 

»The pleasure is all mine.« 

Josepha war mindestens eine 8 1/2. Hochgewachsen und sportlich, aber mit genug Kurven, um sich beim Schmusen keine blauen Flecken zu holen. Sie trug ihr blondes Haar im Pferdeschwanz, ihre blauen Augen funkelten hinter extralangen Wimpern. Eine schmale Nase und ein fein geschwungener Mund komplettierten ihren hanseatischen Look, der durch eine grüne Barbour-Jacke mit Cordkragen noch unterstützt wurde. Dazu trug sie beige Jeans und Gummistiefel der Marke Hunter. Ein Outdoor-Girl mit modischem Anspruch, eine Frau nach meinem Geschmack. 

»Knef mag das Wasser nicht. Sie geht höchstens bis zum Bauch rein und auch dann nur zum Trinken.« 

Wie zum Beweis tippelte meine Hundelady in den See, wo sie von Zartbitter leicht überbegeistert begrüßt wurde. Knef war das sichtlich unangenehm, sie warf mir einen ge- nervten Blick zu. Labradore sind immer so stürmisch! Und leider gleichzeitig so unbeholfen! Josepha machte eine kreisende Bewegung mit dem rechten Zeigefinger. 

»Uhrzeigersinn?«

Ja, war denn schon Weihnachten? Hatte die 8 1/2 mich gerade zum gemeinsamen Flanieren aufgerufen? Und zwar im Uhrzeigersinn, also rechts um den See? Der erfahrene Rahweg-Spaziergänger kannte natürlich diesen Begriff, der sich auch auf die gesamte Runde durch den Park erweitern ließ. Ich erwiderte: 

»Uhrzeigersinn passt mir gut, mein rechtes Bein ist nämlich etwas kürzer als mein linkes.« 

Josepha schenkte mir ein perfektes Lächeln, ihre makellosen Zähne strahlten mit dem Weiß ihrer Augäpfel um die Wette. Sie rief: 

»Hi-ier, Zartbitter, hi-ier!« 

Der tapsige Schokolabbie sprang wieder aus dem Teich, schüttelte sich ausgiebig. Diesmal war ich gewarnt, hielt gebührenden Abstand. 

Es war einer dieser herrlichen Samstagnachmittage im Oktober. Die Sonne war zwar nicht mehr ganz so warm, aber immer noch genauso hell wie im August. Und rein ästhetisch war der Herbst sowieso viel aufregender als der Sommer. Die Blätter strahlten in satten Rot- und Gelbtönen, die schräg stehende Sonne tauchte den Park in ein leuchtendes Gold. Das ideale Wetter, um zu flanieren. Dabei missachteten Josepha und ich gemeinsam die Leinenpflicht, sehr zur Unbill der zahlreichen Angler, die die überall aufgestellten »Angeln verboten«-Schilder offenbar ähnlich ernst nahmen wie Porsche-Fahrer die Richtgeschwindigkeit auf der Autobahn. Knef war ein Ghetto-Hund, man hätte sie einfach so an der nächsten Bushaltestelle rauslassen können, und sie wäre bestimmt zurechtgekommen. Im Park interessierten sie immer die Mülltonnen am meisten, und sie hatte keine Hemmungen, wildfremde Passanten anzubetteln oder Entenfütterern die Brotkrumen zu klauen. Angler mochte sie besonders, denn die hatten Köder in den Taschen und Knef traute sich ohne Weiteres, diese zu durchsuchen. So auch heute. 

»Knef, no! Come back here!«

»Du redest Englisch mit deinem Hund?«

»Ja, ich möchte, dass sie zweisprachig aufwächst.«

Jetzt musste Josepha laut lachen. »Du bist echt ein lustiger Typ. Aber warum gerade Englisch?«

»Ich habe lange in London gelebt, bin erst letztes Jahr wieder nach Niendorf gezogen.«

»Ah. Was bist du eigentlich von Beruf?«

»Ich bin …«

Ein weiterer Jet störte unsere Konversation. Diesmal hielt sich Josepha die Ohren zu.

»… Investmentbanker.«

Das war natürlich gelogen, aber ›Sachbearbeiter in der Kreditabteilung bei der Commerzbank‹ erschien mir in diesem Zusammenhang einfach zu profan. Außerdem hatte ich tatsächlich mehrere Jahre in England gearbeitet, allerdings nicht in der ›City‹, dem Finanz-Center Londons, sondern in einer Filiale der Barclays Bank in Putney, einem Vorort der Hauptstadt. 

Josepha schaute mir tief in die Augen. Sie hob die perfekt geformten Augenbrauen. 

»Spannend.«

Flirtete sie mit mir? Mir wurde etwas heiß in meinem Wildlederblouson. Frau Zartbitter war definitiv nicht der Prototyp reservierte Hanseatin, den sie rein äußerlich darstellte. Und sie legte noch einen drauf: 

»Hast du vielleicht Lust, anschließend einen Kaffee trinken zu gehen?« 

Jetzt fing ich tatsächlich an zu schwitzen. Das war normalerweise meine Zeile, und ich hätte sie frühestens am Parkplatz gebracht. Ich stotterte: 

»Ja, äh, gerne.« 

»Wie wär’s mit dem Café am Minigolfplatz? Im Burgunderweg?« 

Was, sie kannte sogar meinen Lieblings-Geheimtipp? Meine kulinarische Trumpfkarte, Überraschungs-Highlight in der ansonsten gastronomischen Wüste Niendorfs. Verdammt, jetzt wurde ich beinahe etwas sauer. Ich war es nicht gewohnt, mir die Initiative aus der Hand nehmen zu lassen, musste mich außerhalb meiner Balz-Routine erst einmal zu- rechtfinden. Aber ich blieb gelassen, hielt es mit meiner Lieblingssängerin, der großen Hildegard Knef: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. 

Drei Stunden später saß ich bei Josepha zu Hause an ihrem Esstisch im Gotenweg. Ihre schicke Wohnung war Teil einer Neubauanlage, die auf dem Grundstück eines ehemaligen Einfamilienhauses errichtet worden war. Keine architektonische Meisterleistung, aber ein effizienter Weg, aus einer Wohneinheit vier zu machen, ohne dabei den beschaulichen Charakter der Vorstadtstraße zu zerstören. Diese Form von Immobilienspekulation sah man immer häufiger in meinem Viertel, auch bei mir im Teutonenweg gab es schon ein paar dieser Klinkerkästen. Ich ließ begeistert die Gabel fallen. 

»Das schmeckt ja wahnsinnig gut!« 

Was als Kompliment geplant war, klang eher wie ein lustvolles Stöhnen. Josepha war eine begnadete Köchin. Gleich nach dem Kaffee hatte sie mich noch auf einen Snack zu sich gebeten. 

»Espresso macht hungrig, stimmt’s?« 

Eigentlich das Gegenteil, aber bevor ich antworten konnte, setzte sie nach: 

»Ich habe noch etwas Entenpastete im Haus, dazu frisches Baguette und einen leckeren Burgunder – ist doch passend, oder?« 

Sie zeigte auf das Straßenschild neben der Einfahrt zum Minigolfplatz. 

»Burgunderweg, haha!« 

Das war dann wohl ihr Humor. Frau Zartbitter war definitiv nicht von der Stange, aber ich gewöhnte mich schnell an ihre direkte Art. Ihr Tempo war atemberaubend, aber hey, go with the flow, dann war ich eben mal das Mauerblümchen. Und so war dies bereits der dritte Gang, den sie mir in ihrem geschmackvoll eingerichteten Zuhause servierte. Ich fragte: 

»Wie nennst du dieses wundervolle Gericht?« 

Josepha lächelte verschmitzt.

»Das ist mein Engelfrikassee.«

»Engelfrikassee? Weil es so himmlisch schmeckt?« 

»So ungefähr.« 

Sie ging in die Küche. Ich rief ihr hinterher: 

»Was ist das eigentlich für ein Fleisch? So zart, so saftig. Oder ist das irgendwas aus Soja, vielleicht Seitan, wie heißt das noch, ›Beyond Meat‹?« 

Sie erschien mit einer weiteren Flasche Weißburgunder.

»Das möchtest du wohl gerne wissen.«

»Ja, denn das ist wirklich überirdisch gut. Womit hast du das bloß gewürzt? So etwas Köstliches habe ich noch nie gegessen.« 

Josepha schwieg. Wieder machte sie diese verführerische Bewegung mit den Augenbrauen, dazu legte sie den Kopf leicht zur Seite. Ich gab nicht auf. 

»Ach nun komm schon, sag doch, verrat mir das Rezept.«

Sie wackelte mit dem Zeigefinger.

»Das ist keine gute Idee. Wenn ich’s dir verraten würde, müsste ich dich nämlich anschließend leider umbringen.«

Wieder verschwand sie in der Küche. Ich nahm mein Weinglas und folgte ihr. 

»Wow!« 

Ich staunte mit offenem Mund. ›Küche‹ – ein Wort, für das es im Deutschen kein Synonym gab. Das für diesen Raum sowieso maßlos untertrieben schien. Josephas Arbeitsplatz war eher ein Speise-Atelier, ein Gourmettempel, eine Kathedrale der Kochkunst. Über ihrem Gasherd mit sechs Flammen hingen diverse Töpfe und Pfannen aus Gusseisen und Kupfer an einem silbernen Pot Rack. Sie hatte nicht nur einen, sondern zwei extrabreite Öfen. Hinter Glastüren standen Gewürze, Öle und exotische Zutaten in sauber aufgereihten Dosen und Flaschen. In der offenen Speisekammer türmten sich Kartons und Gläser mit mir weitgehend unbekannten Beilagen und eingelegten Früchten. Auf ihrer Kücheninsel stand ein beeindruckender Holzblock mit einer beachtlichen Kollektion von japanischen Messern. Ich langte nach einem der Griffe. Sie gab mir einen kleinen Klaps auf den Handrücken. 

»Das lass mal lieber. Die werden schon vom Hingucken stumpf.« 

Sie griff sich einen Küchenbrenner vom Regal und ließ kurz die Flamme aufleuchten. 

»Lust auf Nachtisch?« 

Wir tranken wieder Espresso. Wie zu erwarten, war auch die Crème Brûlée ein absoluter Hochgenuss gewesen. Überhaupt hatte das Mahl mich in einen seltsamen Trance-Zu- stand versetzt, der Mix aus Gaumenattacke und erlesenem Wein zeigte Wirkung. Dabei fühlte ich mich seltsam leicht, keine Spur von Völlegefühl. Ich schwebte auf einer Schlemmer-Wolke, hätte ohne Weiteres die ganze Nacht weiteressen können. Josepha war thematisch schon wieder auf der Hundewiese. 

»Du weißt, dass sie im Rahweg nicht nur Trümmer vergraben haben, oder?« 

»Das wusste ich nicht.« 

»Ja, da liegen auch diverse Leichen, und zwar nicht nur Soldaten, sondern auch Frauen und Kinder.« 

»Bist du sicher?«

»Absolut. Hat mir Marc-Dieter erzählt.«

»Marc-Dieter?«

»Mein Ex-Freund. Der war Geschichtsprofessor.«

Ich hob die Hand.

»Augenblick, war?«

Josepha grinste seltsam diabolisch.

»Ja, war. Aber das tut nichts zur Sache.«

Sie verscheuchte eine imaginäre Fliege.

»Da redet natürlich keiner drüber, aber nach den Luftangriffen hatten die Verantwortlichen überhaupt keine Zeit, geschweige denn die Leute, um alle Toten zu identifizieren oder ihnen ein vernünftiges Begräbnis zu geben. Die haben sie einfach zusammen mit dem ganzen Schutt vergraben.« 

»Das kann ich kaum glauben. Das ist so barbarisch, so …« 

»Ach, das ist einfach nur praktisch. Die Leichen lagen auf der Straße und fingen an zu stinken. Würde man heute genauso wieder machen.« 

Ich war etwas schockiert. Ohne Vorwarnung hatte die Unterhaltung eine schon fast morbide Abzweigung genommen, die definitiv nicht post-kulinarischer Smalltalk war. Aber so steil wie Josepha in die dunkle Kurve gegangen war, so geschmeidig säuselte sie sich wieder ins Licht. 

»Na schöner Mann, dir hat’s offensichtlich geschmeckt.« Sie tätschelte meine Hand.

»Ein voller Bauch steht dir übrigens. Ich geh mal eine rauchen.«

Sie zeigte auf den Balkon.

Ich fragte überrascht: »Du rauchst?«

Sie zwinkerte mir zu.

»Ja, aber nur vor dem Sex.« 

Moment, eine Zigarette VOR dem Sex? Dann fiel der Groschen. 

Anschließend fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Im Traum stand ich am Rand der Hundewiese im Rahweg. Es war früher Morgen, Nebel lag über dem noch feuchten Gras. Vor mir rollten die sanften Hügel des Naherholungsgebietes. Ich atmete tief durch, genoss die frische Luft und die romantische Stille. Stille? Plötzlich jagte ein Düsenjäger so tief über mich hinweg, dass ich den Kopf einziehen musste. Kaum richtete ich mich wieder auf, wiederholte sich die Attacke. Und noch ein Jet. Und noch einer. Es war, als würde mich eine ganze Schwadron Jagdflieger angreifen. Der Lärm war infernalisch, ein hoher Sinuston begann in meinen Ohren zu klingeln. Schwarzer Qualm verdunkelte die aufgehende Sonne, der schwere Geruch von Kerosin biss mir in die Nase. Ich musste heftig husten, kniff die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, hatte sich das Geschwader mit einem leisen Echo hinter dem Horizont verzogen. Langsam verflüchtigten sich auch die Rauchschwaden. Doch die dahinter auf- tauchenden Hügel hatten jedweden Liebreiz verloren. Der Rasen war aufgeplatzt, so als hätte jemand zu fest an beiden Enden gezogen. Aus den Rissen quoll blutrote Erde, zerborstene Balken und andere Trümmer ragten wie abgebrochene Zähne in die Nebelschleier. Auch das Licht hatte sich gewandelt, aus der zarten Morgenröte war ein kaltes Neonblau geworden, das die Szene gespenstisch von hinten beleuchtete. Ich hörte mich selbst sprechen: 

»Jetzt fehlen nur noch die schrägen Geigen und wir haben einen Horrorfilm.« 

Aber statt eines Streichorchesters erklang eine einzelne Posaune am äußersten rechten Ende meines Stereobildes. Und als wäre das nicht genug der akustischen Fehlbesetzung, begann auf der linken Seite ein dezent schwingender Reggae-Beat zu spielen. 

»Reggae? In einem Gruselschocker? Dass ich nicht lache!« 

Das hätte ich nicht sagen sollen. Mit einem bösen Zischen erschien eine dunkle Gestalt im Nebel vor mir. Ihr langer Schatten legte sich über meine Augen, war so tiefschwarz, dass ich für einen Moment glaubte zu erblinden. Kaum löste sich die Finsternis, bemerkte ich weitere Silhouetten. Sie tauchten aus den klaffenden Wunden, die die Jagdflieger hinterlassen hatten, auf wie Orcas aus der Tiefsee. Und wie die großen Raubwale fletschten sie bedrohlich die Zähne, fingen an, in einem tiefen Bariton zu summen. Ihre Stimmen mischten sich mit Posaune und Beat, erzeugten eine passable Bassbegleitung. Die erste Gestalt war mir mittlerweile so nahegekommen, dass ich ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Überrascht stellte ich fest, dass es sich um Josepha handelte. Allerdings ähnelte sie der Frau, die neben mir im Bett lag, nur fern – sie war eher ihre Zombie-Ausgabe. Die Haut hing ihr in Fetzen vom Schädel, entblößte den weißen Knochen darunter. Ihre Augäpfel rollten in leeren Höhlen, die gelben Zähne hingen ohne Zahnfleisch im Kiefer. Die Haare fielen ihr in fettigen Strähnen über die abgemagerten Schultern, die bleich durch ihre zerschlissene Barbour-Jacke schimmerten. Trotz ihres offensichtlich schlechten Zustandes war sie in der Lage, sich sanft im Reggae-Rhythmus zu wiegen. Sie hob den Arm, streckte mir eine Hand entgegen, die fast nur noch Skelett war. 

Wieder hörte ich meine Stimme. Diesmal sang ich! 

»Schatz, wie heißt das Mahl, das ist so unheimlich lecker?« 

Zombie-Josepha erwiderte heiser, ihre untoten Stimmbänder erzeugten einen rauchigen Flüsterton: 

»Engelfrikassee, Engelfrikassee.« 

Ich nahm sie bei der Hand, zog sie zu mir heran. Sie roch nach Erde und Moos, gar nicht mal unangenehm. 

»Schatz, wie heißt der Snack, den gibt’s bestimmt nicht beim Bäcker?« 

»Engelfrikassee, Engelfrikassee.« 

Wir tanzten ein paar Schritte. Ich wechselte die Harmonie, rutschte ein paar Töne höher. 

»Schatz, diese Gewürze harmonier’n miteinander.« 

Josepha zuckte mit dem, was ihr an Augenbrauen geblieben war. 

»Engelfrikassee, Engelfrikassee.« 

Sie lag gut im Arm, bis auf die Stellen, wo meine Hand ins Leere griff. Unterhalb ihres Brustkorbs war nichts, ich streifte ihre Rippen von innen. 

»Schatz, ich schmecke Zimt, Thymian, Dill, Koriander.« 

Wieder raunte Josepha, was offensichtlich ihr einziger Beitrag zu unserem Song sein sollte: 

»Engelfrikassee, Engelfrikassee.« 

Wir drehten uns umeinander, dabei stellte ich fest, dass die anderen Zombies mittlerweile im Halbkreis um uns herumstanden, dahinter hatte sich die Band aufgebaut. Neben dem Posaunisten war ein halb verwester Trompeter am Start, auch die restlichen Musiker waren lebende Leichen. Die versammelten Untoten intonierten mit krächzenden Kehlen: 

»Gruß aus der Küche, Liebe zergeht auf der Zunge, tausend Gerüche, Schnäpse und Bier versagen, Tee emailliert den Magen.«

Sie rieben sich über die eingefallenen Bäuche, soweit überhaupt vorhanden.

»Tee emailliert den Magen.«

Jetzt fiel mir auf, dass ich mich offensichtlich in einem Klartraum befand. Mir war bewusst, dass ich träumte, dass |dieses absurde Grusical vollständig meiner Fantasie entsprungen war und ich deshalb auch in der Hand hatte, was als Nächstes passierte. Ich entschied mich, endlich Licht ins Dunkel um das mysteriöse Fleisch auf meinem Teller zu bringen. 

»Schatz, was ist da drin, das ist doch nicht hier vom Hügel?« 

Josepha lächelte ohne Lippen.

»Engelfrikassee, Engelfrikassee.«

Ja, ja, aber …

»Schatz, wo gibt’s das Fleisch? Ist das jetzt Lamm, Rind, Geflügel?«

Wieder nur …

»Engelfrikassee, Engelfrikassee.«

Ich wurde ungeduldig, aber bevor ich nachhaken konnte, setzte erneut der Zombie-Chor ein.

»Gruß aus der Küche, Liebe zergeht auf der Zunge, tausend Gerüche, Schnäpse und Bier versagen, Tee emailliert den Magen.«

Die lebenden Leichen hatten angefangen, sich synchron zu bewegen, vollführten eine einfache Tanzroutine.


»Tee emailliert den Magen.«


Sie kamen mir immer näher, aus dem Halbkreis wurde ein Kreis, dann ein Ring, schließlich ein Kessel. Ich stand Schulter an Schulter mit den Zombies, deren Zahl exponentiell zuzunehmen schien. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, so weit ich blicken konnte, blitzten Totenschädel im Neonlicht, drängten modrige Körper in meine Richtung. Ihr Summen war schon lange nicht mehr harmonisch, hatte sich zu einem gefährlichen Geifern aufgeschwungen. Jetzt hörte auch der Geruch auf, angenehm zu sein, giftige Fäulnis machte sich breit. Ich suchte nach Josepha, aber meine Zombie-Freundin war in der Menge verschwunden. 

»Aua!«

Eine Leiche hatte mich in den Nacken gebissen.

»Hey, lass das!«

Ein weiterer Untoter versenkte seine Zähne in meiner Wade, ließ nicht mehr los

.»Was soll das? Aufhören!«

Ich spürte Zähne am ganzen Körper, wurde von allen Seiten angeknabbert. Immer mehr Zombies rückten heran, kletterten übereinander, drohten mich zu erdrücken. 

»Nicht doch, das tut weh!« 

Das war dann wohl zu viel des Guten. Klar oder unklar, wer auch immer entschied, dass ich nun genug geträumt hatte, weckte mich mit einem besonders schmerzhaften Biss in die Schulter. 

»O Marius, du bist so heiß, ich könnte dich aufessen!« 

Ich war zurück in der Realität. Zu meinem Entsetzen erkannte ich, dass auch diesseits der Traumgrenze das Beißen kein Ende nahm. Und dass Josepha die Übeltäterin war…

( … und hier geht die Geschichte dann erst richtig los… d. Red.) Das Buch erscheint am 24. Juni 2023.

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