Geschrieben am 1. April 2019 von für Crimemag, CrimeMag April 2019

Textauszug: Viktor Headley „Yardie“ (1992)

»Eh Mon, whapp’n«

Das erste Kapitel – übersetzt von Jürgen Bürger

Ob das heute noch ein Verlag so wagen würde? Solch ein Buch und solch eine dem Original so dezidiert angemessene Übersetzung auf den Markt zu bringen? Rowohlt tat es 1995, ließ auch noch Victor Headley Romane „Exze$$“ und „Yush“ vom gleichen Übersetzer folgen.

Diese Geschichte ist Scorpion gewidmet.
‚Nuffrespeck, Star!

Ob das von der Mehrheit der Jamaikaner im Alltag verwendete Patois (sprich: Patwah) eine eigenständige Sprache ist oder lediglich ein spezieller Dialekt des britischen Englisch, der durch Vermischung vor allem mit den jeweiligen Muttersprachen der nach Jamaika verschleppten Afrikaner (ab Mitte des siebzehnten Jahrhunderts) entstanden ist, sollen Linguisten erforschen. Sicher ist jedenfalls, dass es sich beim Jamaican English um eine sehr lebendige Sprache handelt, die heute quer durch alle Schichten gesprochen wird und inzwischen sogar eine eigenständige literarische Tradition besitzt.

Da die Jamaikaner äußerst kreativ mit ihrer Sprache umgehen, finden ständig neue Wortschöpfungen Eingang. Man nimmt sich die Freiheit, mit Worten (aus politics wird politricks) und Vokalen zu spielen (vor allem das a scheint es den Jamaikanern angetan zu haben – aus man wird mon, aus einem garden ein gyarden oder gar ein gordon,aus einem can ein cyan usw.) und Buchstaben munter auszutauschen (so wird aus little schnell likkle). Die Vereinfachung der englischen Hochsprache ist ein weiteres Merkmal des Patois. Aus dem oft auch für Deutsche schwierigen th entsteht kurzerhand ein d (aus them wird dem). Buchstaben werden einfach fortgelassen (aus woman wird so ooman) oder hinzugefügt (beliebt ist hier das ham Wortanfang, weswegen mit hold eben nicht nur hold,sondern auch old gemeint sein kann). Auch größere Raffinesse bei der Verwendung von Zeitformen wird vermieden – wozu konjugieren, wenn mit dem Zusatz today, yesterday und tomorrow auch alles gesagt ist? Großen Einflussauf das Patois hat auch die Sprache der Rastafari mit ihren religiös motivierten Manipulationen. Besondere Bedeutung erhält hier das Wort I im Singular wie Plural (I and/). Oft werden englische Wörter, die eigentlich anders beginnen, mit einem I eingeleitet. Aus equality wird beispielsweise l-quality. Grundsätzlich ersetzt man häufig negativ besetzte Silben wie sin durch positive wie I – so wird aus sincere lsir.Ist der Wortgegenstand selbst negativ belegt (z. B. cigarette, die im Patois seegaret heißt), enthält aber eine positive Silbe (hier see), dann greift man einfach ein: aus seegaret wird blindgaret oder aus deadicated (ursprünglich dedicated) livicated. Obendrein ist das Patois eine sehr musikalische Sprache, zu der rhythmische Sprachmodulationen und Körperbewegungen gehören, die im normalen Englisch nicht zu finden sind.

Wahrscheinlich fragen Sie sich, was interessiert mich das alles? Eigentlich haben Sie recht, denn Sie wollen einen Krimi lesen und keinen Sprachkurs absolvieren. Andererseits ist es Aufgabe des Übersetzers, den Text aus einer Fremdsprache so zu übertragen, dass dem Leser nicht nur der Inhalt, sondern auch die ganze Bandbreite der Sprache in all ihren Facetten und Nuancen vermittelt wird, sofern dies für die Akteure und den Plot bedeutsam ist. Aber wie es der Übersetzer der jamaikanischen Schriftstellerin Lorna Goodison ausdrückte: »Dem Übersetzenden sind bei dieser Flexibilität der [im Kreolischen abgefassten] Diskurse häufig Grenzen gesetzt.«

Zum Verständnis der Handlung des vorliegenden Romans ist es nicht zwingend erforderlich zu wissen, dass die meisten Akteure Patois sprechen; aber es unterstreicht die Tatsache, dass der Roman in einer Subkultur, einer ethnischen Minderheit der britischen Gesellschaft, spielt. Und dies ist durchaus wichtig. Ich habe mich bei Yardie für einen Kompromiss entschieden.

Im Deutschen sollte die eigentümliche Wirkung des Patois erhalten bleiben, ohne gleich eine eigene, am Patois orientierte Kunstsprache zu erfinden. Die Übersetzung von Yardie setzt daher auf jene Wirkung des gedruckten Textes, die bei einem englischen oder amerikanischen Leser entsteht:

»Hey, bwoy,don’t come cause no fuss y’hear! Jus’…«
»Cool nuh, Bigga. Mek we lef‘ yah first!«

Sie kennen sicher die Computerbilder aus dem faszinierenden Buch Das Magische Auge. Erst wenn man »starrt«, wenn man nicht am vordergründig Sichtbaren klebenbleibt, enthüllt sich dem Betrachter das eigentliche Motiv:

»He, Buoi, mach hia kain Wiabl, klaa! Mach …«
»Kuul jäz, Bigga. Gehn wia eastma.«

Im Grunde ist das Wesentliche stets präsent, man darf sich nur nicht durch den Augenschein täuschen lassen. Genauso verhält es sich bei den Dialogen in diesem Roman. Vertrauen Sie nicht den gedruckten Buchstaben, lesen Sie einfach und lassen Sie es wirken, denn im Grunde sind die Dialoge nur in einer Art Lautschrift geschrieben. Wenn Sie die hintergründig falsche Rechtschreibung »übersehen«, ist der Text mühelos lesbar. Wenn Sie so verfahren, wird sowohl das Original –

»Too many youths dead fe not’ing.« He looked at D. »Is like dem cyan wait fe kill someone. Any lickle t’ing, dem lick shot.«
»Is truth you ah talk, Jahman«, D. said after a while. »Black people cyan get a break in dis time unless it’s t’rough music or sports. If a man don’t have dem form of skills, him still ha fe make a living differently. Dat is why we must take some risks, try fe de best.«

– als auch die Übersetzung auf Anhieb verständlich:

»Zu viele Jugendliche stäabn füa nichts.« Er sah D. an. »Als ob sies ganich eawatn könntn, iagendwen umzulegn. Füa jede Kleinigkait weadn sie easchossn.«
»Genau so isses, Jahman«, sagte D. nach einer Weile. »Füa Schwaaze gibts hoite kaine Chancen, es sai denn in dea Musik odam Spoat. Besitzt ain Mann diese Fäatigkaitn nich, mussea aba trotzdem imma noch saine Brötchn veadienen. Deshalb müssn wia Risikn aingehn, veasuchn, das Bäste draus zu machn.«

Jürgen Bürger

Yardie —- Kapitel 1

Die lange Schlange vor dem Schalter der Einwanderungsbehörde war lautstark, aber auch sehr farbenfroh. Nach über acht Stunden im Flugzeug waren die Passagiere nun ungeduldig. Jeder brannte darauf, die Formalitäten hinter sich zu bringen, um endlich wartende Familien und Freunde begrüßen zu können. Voller großer Erwartungen betraten sie den Boden des mythischen England, denn für die meisten war es das erste Mal, dasssie Jamaika verlassen hatten. In diesem Jahr war es für Anfang Frühling bereits ungewöhnlich mild. Wer es für ratsam gehalten hatte, einen extra Pullover überzuziehen, wirkte in dem stickigen Flughafen nun unübersehbar unruhiger als andere Mitreisende.

Noch etwa zehn Meter von der Einwanderungsbehörde entfernt, verfolgte ein junger Mann in einem dunkelblauen Anzug interessiert, wie die Beamten einen der Neuankömmlinge befragten. Es war zu weit, um die Unterhaltung wirklich mithören zu können, doch durch das empörte Gestikulieren des Passagiers und die Satzfetzen, die von der dröhnenden Stimme des Mannes herübergetragen wurden, verstand er im Wesentlichen, wovon geredet wurde.

»Zwölf Jahre hab ich meine Schwester nicht gesehen, verstehen Sie. Sie hat mir das Ticket geschickt … Sehen Sie das Visum hier! … Nur hundert Pfund? Ich will ja nicht ewig hier bleiben. Sah …«

Als er das Interesse an der Auseinandersetzung verlor, knöpfte D. sein Jackett auf und ließ den Blick über die Ankunftshalle des Flughafens wandern. Es gab keinen anderen Weg zum fünfzig Meter entfernten Ausgang. Er holte tief Luft und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass ihn der Pass des zurückkehrenden Urlaubers eigentlich problemlos durchbringen müsste. Skeets hatte ihn sorgfältig instruiert, und er kannte seine angenommene Biographie in- und auswendig. Er war in einer Sache unterwegs, die für zu viele Leute viel zu wichtig war, um irgend etwas dem Zufall zu überlassen.

»Zieh dain Ding kuul duach, und alls is bestns«, hatte Skeets ihm eingeschärft.

D. schob diese Gedanken beiseite, um sich stattdessen auf die augenblickliche Situation zu konzentrieren. Inzwischen war vor ihm nur noch ein korpulente Frau, die gerade den misstrauischen Beamten zu überzeugen versuchte, sie »… denke ja gar nicht daran, in diesem Land irgendeine Arbeit anzunehmen, Sah.«

D. griff in die Innentasche und zog seinen Pass heraus. Er rückte die Krawatte zurecht und nahm den Lederkoffer in die Hand, der neben ihm auf dem Boden stand. Der jetzt freie Beamte winkte ihn heran, und er trat vor den Schalter.

Als er vor dem Beamten stand, ein Weißer mit dünnem, kupferrotem Bart, stellte er den Koffer wieder ab und erwiderte kurz den durchdringenden Blick. Der Beamte schlug den britischen Reisepass auf, warf einen Blick auf das Foto und fixierte D. dann wieder.

»Wie lange waren Sie im Ausland, Sir?«

»Ich bin zur Beerdigung meiner Mutter geflogen. Ich war sechs Wochen drüben«, sagte D. in seinem besten Englisch.

Der Beamte ließ seinen Kuh eine Namensliste auf einem vor ihm hegenden Klemmbrett hinabgleiten und stoppte etwa in der Mitte.

»Miller … Miller … Ihr Geburtsdatum, Sir?«

D. blinzelte nicht einmal. »12. Januar 1957.«

Der Beamte warf ihm einen stechenden Blick zu und musterte erneut das Foto, bevor er den Passzuklappte und zweimal kurz nickte.

»Danke, Sir«, sagte er, gab D. den Pass zurück und drehte den Kopf zur wartenden Schlange.

D. steckte den Reisepass ein, nahm seinen Koffer und ging so normal und selbstverständlich zum Ausgang wie jeder aus dem Ausland zurückkehrende Einheimische. Am liebsten hätte er einen Freudensprung gemacht!

Zum Glück besaß er eine gewisse Ähnlichkeit mit Jonathan Miller. Er hatte es sich geschenkt, nach der Identität des eigentlichen Besitzers des Reisepasses zu fragen; wenn man die Chance bekam, zum ersten Mal nach England reisen zu können … mit einem Auftrag … dann stellte man keine Fragen.

Er folgte dem Korridor bis zum Ende, bog rechts ab und ging an einer wartenden Menge vorbei, die sich von außen gegen die Absperrungen drängte, die Flughafenbesucher von Passagieren trennten. Entspannt verließ er mit den anderen Transatlantikpassagieren den Ankunftsbereich und war recht zuversichtlich, was den Rest seines Plans betraf. Erfolgreich hatte er die Rolle gespielt, die für ihn vorbereitet worden war. Jetzt saß er am Drücker. Auch wenn er immer noch keine klare Vorstellung hatte, wie er es durchziehen sollte, wusste er doch genau, was er wollte. Den ganzen Flug über war er jeden einzelnen Aspekt des Plans durchgegangen.

Es würde das größte Risiko sein, das er je eingegangen war. Was aber keine große Sache war. D. fand nichts dabei, sein Leben aufs Spiel zu setzen. So war’s schon immer gewesen, seit er alt genug war, eigene Entscheidungen zu treffen. Für krumme Dinger hatte er schon so oft sein Leben aufs Spiel gesetzt, dass er es inzwischen als Berufsrisiko ansah, wenn er es denn verlieren sollte. Wie immer, wenn eine gefährliche Situation bevorstand, spürte er auch jetzt ein leichtes Kribbeln in der Magengegend.

* * *

Als er das Ende der Absperrung erreichte, sah er sie. Die beiden Männer warteten ein Stück abseits und beobachteten ihn mit dem scheinbar kühl distanzierten Blick, den in den Ghettos geborene Jamaikaner als Überlebensschutz entwickelt hatten. D. erkannte die Gesichter nicht, aber sie waren es ganz eindeutig. Skeets hatte erläutert, dass die beiden Männer, die ihn abholen würden, schon seit Jahren im Vereinigten Königreich waren und dort die Organisation leiteten. Der ältere und größere der beiden warf D. einen kurzen, scharfen Blick zu. Er trug einen Vollbart und hatte einen Spitzbauch. Abgesehen von seinen Augen, die aufgrund ihrer völligen Ausdruckslosigkeit bedrohlich wirkten, sah er aus wie der freundliche Riese aus Märchenbüchern. Es war dann auch der kleinere, lächelnde Mann mit mehreren großen Goldringen an den Fingern, der ihn ansprach.

»Gehtsn so, D., alls klaa?«

»Kuul, Maan.« D. nickte langsam, sah zuerst den einen, dann den anderen seiner neuen Freunde an.

Sie nahmen D. in die Mitte und führten ihn zum Ausgang der Flughafenlounge. Er fühlte sich ungefähr genauso locker und entspannt wie ein Zocker mit einem As im Ärmel. Das Schweigen hielt an, bis der kleine Mann schließlich mit gedämpfter Stimme fragte: »Dias klaa, dass wia uns hia ums Bisnisskürnman, yeah?«

»Ich waiss, ia sollt mich iagendwo sicha untabringn«, erwiderte D. mit einem angedeuteten Lächeln. Dann ernster: »Easma mussich wissn, wea ia said, klaa? Kann schließlich kaim traun, wail ich hia jan Främda bin, alls klaa?«

Der bärtige Riese blieb stehen und funkelte ihn wütend an. »He, Buoi, mach hia kain Wiabl, klaa! Mach …«

»Kuul jäz, Bigga. Gehn wia easma.« Der andere Mann bremste ihn und schaute sich schnell um, wollte auf jeden Fall vermeiden, dass sie Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Er schien das Sagen zu haben.

Sie gingen weiter, wobei Bigga ein Stück zurückblieb. Die drei Männer fuhren mit dem Fahrstuhl hinunter ins Parkhaus. Keiner sagte ein Wort. Während sie die Reihen parkender Autos entlanggingen, zog der kleine Mann einen Schlüsselbund aus der Tasche und ließ ihn geschickt um seinen Finger wirbeln. Schließlich bog er in eine Parkbucht ein und schloss die Tür eines glänzenden blauen Mercedes 350 Kabrio auf. Er zog die Rückenlehne des Fahrersitzes nach vorn, um D. auf den Rücksitz klettern zu lassen, bevor er selbst hinters Lenkrad rutschte und den Motor anließ. Bigga verstaute inzwischen D.’s Gepäck im Kofferraum und setzte sich nach vorn.

Der Fahrer drehte den Kopf nach hinten und starrte D. mit einem neugierigen Grinsen an.

»Okee, Star, wia wissn, dass du zu Haus n Top-Soldat bis. Aba mach dia ma klaa: hia ham wias Sagn. Wia kümman uns schon um dich, Maan. Ich haiß übrigens Joseph, klaa? Skeets mussdia gesagt habn, dass dus mit mia zu tun has«, meinte er versöhnlich.

»Genau.« D. sah Joseph direkt an. »Außadem hatta noch gesagt, dass du mian Apartment und den Räst von meim Gält gibs.«

Joseph sah Bigga an und starrte dann eine ganze Weile aus der Windschutzscheibe, bevor er ein trockenes Lachen ausstieß.

D. behielt die Beherrschung. Das kleine Grinsen, das sich langsam an seinen Mundwinkeln bildete, ließ die beiden Soldaten glauben, er mache nur Spaß. Unzählige Männer auf Jamaika hatten viel zu spät gelernt, dass dieses Grinsen täuschte: dass D. alles andere als Witze machte, sondern todernst war. Doch das konnten Bigga und Joseph nicht wissen. Sie waren schon viel zu lange weg vom Yard,von zu Hause, und wussten nichts von seinem Ruf in Kingston.

D. andererseits wusste, dass die beiden Männer erwartet hatten, er würde sofort kuschen. Joseph besaß in der Hierarchie der Organisation eine höhere Stellung als er und ging deshalb natürlich davon aus, dass der neu angekommene Soldat ihm Respekt erwies. Jetzt wurde ihm klar, dass D. sich für einen Star hielt. Er bedeutete D. nicht viel. Der einzige Respekt, den D. jemals irgendwem erwies, war den wenigen Rudies vorbehalten, die zusammen mit ihm auf den Straßen von West Kingston aufgewachsen waren und ihr Leben riskiert hatten. Nur eine Handvoll lebender Männer erfüllte diese Anforderungen.

»Also, wasn jäz mitm Gält, Joseph?« D. hatte seine Stimme gesenkt, um die Eindringlichkeit seiner Forderung etwas zu kaschieren. Er wollte wissen, wie hart diese Ranks wirklich waren.

Bevor er antwortete, legte Joseph den Rückwärtsgang ein und setzte aus der Parkbucht zurück.

»Du kriegsts Gält schon, wenn wia eas ma in daim Apartment sind.« Das vorletzte Wort betonte er mit subtiler Ironie.

Der Mercedes rollte sanft auf die Rampe zu, die zur Ausfahrt des Parkhauses führte. D. lehnte sich in dem bequemen Lederpolster zurück und ließ den pulsierenden Bassaus den Lautsprechern über sich wegspülen. Aus dem Fenster registrierte er beiläufig die Autos, die sie auf der breiten Autobahn überholten, und dahinter hübsche Häuser und Felder. Die Sonne fiel hell und warm durch die große Windschutzscheibe, begrüßte ihn in seiner neuen Heimat.

Den Anweisungen zufolge sollte er seinem Kontaktmann das Päckchen übergeben, einen sechswöchigen Aufenthalt in England genießen und dann mit dem Geld nach Jamaika zurückkehren, das man ihm später aushändigen würde. Ein simpler Auftrag, aber von äußerster Wichtigkeit, hatte man ihm gesagt.

Als er sich jetzt auf dem Rücksitz des teuren Wagens lümmelte, wusste D. genau, dasser es überhaupt nicht eilig hatte, nach Jamaika und den Entbehrungen des Ghettoalltags zurückzukehren. Er war überzeugt, mindestens so clever zu sein wie Joseph; er könnte hier alles genausogut managen wie er. Im Flugzeug hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Er hatte seine Jugend auf den Straßen Revue passieren lassen: wie er aufgewachsen war; die Schulzeit in den ärmlichen Gegenden downtown; seine Träume von einem besseren Leben in Amerika, Kanada oder England. Jahre hatte er auf seine große Chance gewartet. Die Chance, aus den schmutzigen, hungernden Straßen auszubrechen und in die hellen Lichter großer Städte mit ihren schicken Autos und großen Häusern zu kommen.

* * *

Er war ungefähr zwölf, als er angefangen hatte, für Skeets zu arbeiten; erledigte Botengänge, verdiente sich hier und da den einen oder anderen Dollar, lernte allmählich, wie in seinem Teil der Stadt der Hase lief. Skeets war ein bedeutender Mann in seiner Gegend. Er mochte den mageren, großspurigen Jungen, der sich immer anbot, seinen Wagen zu waschen. Damals glaubte D. noch, dass sich Skeets seine Brötchen mit der kleinen Bar verdiente, die er an der West Avenue in Greenwich Farm besaß. Später fand er heraus, dass hinter seinem Mentor erheblich mehr steckte, als man auf den ersten Blick vermutete. Skeets besaß gute Verbindungen nach Amerika und unternahm häufige Reisen, von denen er D. gelegentlich ein Paar Schuhe oder eine Hose mitbrachte, Kleidungsstücke, die der Jugendliche mit großem Stolz überall in der Gegend vorführte.

D. hatte seine Lehrjahre voller Eifer absolviert und sich als zuverlässig und furchtlos erwiesen. Schnell erkannte er, dass er erheblich mehr Geld verdienen konnte, wenn er für die großen Nummern in der Innenstadt arbeitete, statt in einem jener aussichtslosen Berufe, die seine Mutter ihn erlernen lassen wollte. Folglich hatte er schon recht früh die Schule verlassen und konzentrierte sich darauf, sich in West Kingston einen Namen zu machen. Außerdem entdeckte er, dasser praktisch mit allem und jedem ungeschoren davonkommen konnte; nur sehr wenige Jungs waren dumm genug, sich mit ihm anzulegen, da sie wussten, dass er unter dem Schutz von Skeets stand. Die wenigen, die es dennoch wagten, ihn herauszufordern, wurden die ersten Opfer seiner Neigung zu Gewalttätigkeit. Skeets musste ihn mehr als einmal zur Ordnung rufen, weil er mit unnötiger Gewalt gegen Jungs vorgegangen war, die für Ranks aus anderen Gegenden arbeiteten. Rücksichtslosigkeit und Härte wurden schon sehr bald zu Synonymen für D.’s Charakter.

Er warf einen flüchtigen Blick auf Joseph, der den Wagen lässig mit einer Hand auf dem Lenkrad fuhr, auf das Glitzern seiner Ringe und seine modischen Klamotten. Auf dieser Seite der Welt sah alles eindeutig besser aus. Jemand, der so intelligent war wie er, konnte hier viel Geld machen. Davon war er fest überzeugt.

Ja, dachte er und lächelte leise vor sich hin, mein großer Augenblick ist schon längst überfällig.

Inzwischen hatten sie erreicht, was D. für das Zentrum der Stadt hielt. Er sah alle möglichen Geschäfte entlang der Straße, und überall wimmelte es von Menschen. Neugierig betrachtete er die roten Doppeldeckerbusse, sehr ähnlich denen auf der Postkarte, die Donna ihm geschickt hatte.

»Isn das hia für ne Gegend, Star?« brüllte er gegen die laute Musik.

»Harlesden«, erwiderte Joseph ohne sich umzudrehen. »Sind glaich da.«

D. richtete sich auf. Aufmerksam schaute er aus dem Fenster, versuchte, sich in dieser neuen Welt zu orientieren. Vor einem Geschäft erspähte er eine Gruppe hübscher Mädchen und behielt sie im Auge, als der Wagen vor einer Ampel halten musste. Eines der Mädchen antwortete auf seinen intensiven Blick mit einem einladenden Lächeln. Als der Wagen wieder anfuhr, lächelte er zurück und schaute aus der Heckscheibe, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Er ließ sich ins Polster zurücksinken und fühlte sich recht zuversichtlich, was seine Zukunft betraf. Der Mercedes bog nach rechts von der Hauptstraße ab und hielt nach ein paar hundert Metern vor einer Reihe dreistöckiger Häuser. Joseph schaltete den Motor aus und stieg aus, gefolgt von D. Bigga stieg auf der anderen Seite aus und holte das Gepäck aus dem Kofferraum. D. reckte sich in der Morgensonne, schaute sich um und begutachtete die ordentlich gestutzten Hecken, die großen Blumentöpfe und Ziergegenstände in den Vorgärten der Häuser.

Joseph ging durch ein Tor voraus und die Betonstufen zur Tür eines großen Hauses hinauf. Er schlossauf und betrat die Diele. D. folgte, während Bigga hinter ihnen wieder abschloss. Durch eine Tür auf der rechten Seite gelangten sie in eine Wohnung, gingen dann über eine kurze Holztreppe in ein gut eingerichtetes Wohnzimmer hinunter. D. warf einen bewundernden Blick auf die bequem wirkende, dreiteilige Ledergarnitur, den niedrigen Rauchglastisch, den polierten Esstisch und die dazu passenden Stühle und den Großbildfernseher mitsamt Videorecorder.

»Daine Bude, Star?« fragte er Joseph.

»Kannse ain drauf lassen. Gefällts dia?«

Der kleine Mann setzte sich aufs Sofa, während Bigga seinen massigen Körper auf einen der Ledersessel gepflanzt hatte. Bevor er antwortete, machte D. es sich auf einem anderen Sessel bequem.

»Ja, Maan. Und, wo wohn ich?«

Joseph sah ihn mit diesem rätselhaften Lächeln an, das D. schon nach der kurzen Zeit, die er den älteren Mann jetzt kannte, absolut nicht abkonnte. Es war gerade so, als mache sich der Mann lustig über ihn oder wüsste etwas, das ihm einen Vorteil verschaffte. D. fixierte Joseph und beschloss, dass der Typ ihn an einen dieser Samfai serinnerte – jene Pseudo-Medizinmänner, die zu Hause leichtgläubigen Leutchen vom Land ihr hart verdientes Geld abschwindelten.

»Ich hab hia ein Zimma extra für dich, Maan.« Unvermittelt wechselte Joseph das Thema und kam zum Geschäft. »Also, wo is die Ware, Sah?«

D. sah die beiden Männer nacheinander an und gab sich gleichermaßen rätselhaft.

»Im Momänt bin ich ain ziemlich weatvolla Maan. Das Zoig isn Haufn änglische Pfund weat.«

Er stand auf, zog das Jackett aus und knöpfte langsam sein Hemd auf.

Er zog die Weste hoch, öffnete einen Ledergürtel um seinen Bauch und zog ihn mit der linken Hand ab. Aufmerksam von Bigga und Joseph beobachtet, schob er einen Plastikbeutel mit drei Fächern über den Gürtel und warf ihn schließlich beiläufig auf den Glastisch.

Joseph nahm das Päckchen. Mit einer Hand griff er hinter sich zur Gesäßtasche seiner Hose, aus der er ein Klappmesser mit Holzgriff zog. Mit einer geübten Bewegung ließ er es aufschnappen und die Klinge, wobei er den Beutel in der linken Hand hielt, durch mehrere Lagen Plastik gleiten. Langsam zog er die glänzende Klinge wieder heraus. Vorsichtig balancierte er ein winziges Häufchen weißes Pulver auf der Messerspitze. Bevor er das Messer an den Mund hob und das Pulver mit der Zunge ableckte, betrachtete er es gründlich. Mit unbeweglicher Miene kaute er ein paar Sekunden, dann lächelte er und drehte sich zu Bigga.

»Yeah, ains-A Stoff, Maan.«

Bigga nickte wissend, schwieg aber weiterhin.

»Imma nuas Baste, Boss«, meinte D. lächelnd und war stolz auf die hohe Qualität der Ware, die er rübergebracht hatte.

»Siehtsn aus, willste auch ma probian?« fragte Joseph.

»Wänn ich fäatig bin«, log D.

Joseph klappte das Messer zu und schob es zurück in die Hosentasche. Er blinzelte in D.’s Richtung.

»Skeets hat gesagt, du bringstn Kie. Wo isn der Räst?«

»Im Beutel da isn halbes Kie, noch ma soviel hab ich hia.« D. klopfte sich zwischen die Beine. »Ich bin gut bestückt. Sah. Wo kann ichs auspackn?«

»S Bad is oben«, sagte Joseph. Er wendete sich an Bigga. »Ruf Lefty an, sagem, dassea jäz rüba kommn kann.«

Der große Mann stand auf und ging zum Telefon neben dem Fernseher. Inzwischen verschwand Joseph in die Küche, um eine Waage zu holen.

D. erhob sich ebenfalls und ging die Treppe in den ersten Stock hinauf. Er fand das Bad auf der linken Seite und wollte gerade hineingehen, als er stehenblieb. Er starrte die fünf Meter entfernte Wohnungstür an. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren; er wusste genau, was er tun wollte, suchte aber immer noch tief in seinem Inneren nach einem Grund, es doch nicht zu machen.

»Jetzt oder nie«, dachte er und leckte sich über den Mund.

Er zog die Badezimmertür zu. Unten konnte er die beiden Männer quatschen hören; viel Zeit hatte er nicht. Lautlos schlich D. zur Wohnungstür und löste den Sicherheitsriegel. Langsam zog er die Tür auf, betete, dass die Scharniere nicht quietschten, und trat auf den Flur hinaus. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu. Sein Herz raste wie verrückt. Er ging weiter zur Haustür, öffnete und schloss sie so leise wie möglich. So. Jetzt gab’s kein Zurück mehr.

Copyright der dt. Übersetzung © 1995, 2019 by Jürgen Bürger/ Originaltext: Copyright © Victor Headley 1992 

  • Deutsche Erstausgabe veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Februar 1995. Redaktion Peter M. Hetzel.
  • Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »YaRDiE« bei X Press Limited, London (eine zweite Auflage 1993 unter demselben Titel bei Pan Books Limited, London).
  • Ein Klassikercheck von Frank Göhre, Januar 2012 in CrimeMag.

Jürger Bürger hat zusammen mit Kathrin Bielfeldt den Verlag Spraybooks gegründet. Dort hält er – soweit möglich und passend – etliche der von ihm übersetzten Bücher vorrätig. Auch Romane unseres USA-Korrespondenten Thomas Adcock sind dort verfügbar. Aber auch auf eigene Faust übersetzte Werke wie zum Beispiel William Kowalskis „Crypt City“.h

Tags : , ,