Das Gangstertum Hand in Hand mit dem „American Dream“
T.J. English große Studie zu Aufstieg und Fall der kubanischen Mafia
Besprochen wird diese fulminante Studie in der Novemberausgabe von CrimeMag. Hier schon einmal ein Appetithappen. Beim Autor T.J. English handelt es sich um einen ausgewiesenen Experten des organisierten Verbrechens, wegweisend ist seine Studie der irischen Gangs in New York: The Westies: Inside The Hell’s Kitchen Irish Mob (1990). Sein Buch Born to Kill, über eine vietnamesische Gang in New Yorks Chinatown war in der Kategorie Best Fact Fiction für einen Edgar nominiert.
Hier nun Auszüge aus dem Vorwort seiner großen Kuba-Studie.
Die Geschichte des kubanischen organisierten Verbrechens in den USA hat ihre Wurzeln in einem Unternehmen, das später als Invasion in der Schweinebucht bekannt wurde. Die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer an dieser von der Regierung Eisenhower und der CIA initiierten (und am 14. April 1961 vom neu gewählten Präsidenten John F. Kennedy beschlossenen) verdeckten Operation hatte keinerlei kriminelle Neigungen. Im Gegenteil, die ausgewählten Kämpfer wurden sorgfältig auf Vorstrafen überprüft, um jedem Schaden für das Image dieser Militäraktion vorzubeugen. Patriotismus und Idealismus waren die Beweggründe dieser Männer. Ihnen ging es um die Rückeroberung Kubas. Dagegen hatten die Absichten der US-Regierung mehr mit dem Kalten Krieg zu tun, mit dem Kampf gegen das Vordringen des Kommunismus in die westliche Hemisphäre, in dem Kuba nur eine Schachfigur war.
Die Geschichte der Corporation spielt sich vor diesem größeren politischen Hintergrund ab. Das Anti-Castro-Erbe bildet den Kontext für das organisierte Verbrechen kubanischer Provenienz in den USA, das in seinem Umfang und der Zahl der Todesopfer kaum hinter der italoamerikanischen Mafia zurücksteht.
Der wahre Schmelztiegel in den USA war das organisierte Verbrechen. Der Prozess der individuellen Amerikanisierung ist historisch eng mit dem Gangstertum verknüpft. Wer davon ausgeht, dass das Land seiner Natur nach ein kriminelles Unternehmen ist – kolonisiert und den Ureinwohnern gewaltsam entrissen, danach gestützt durch ein System der Sklaverei, das schließlich für illegal erklärt wurde –, liegt damit ziemlich richtig. Der Keim wurde schon vor langer Zeit gelegt. Die Mafia ist nur eine Blüte dieses Keims, gegossen mit dem Blut vieler Tausender Opfer der Unterweltgewalt im vergangenen Jahrhundert.
Die traditionelle organisierte Kriminalität – in der Hauptsache irisch, italienisch und jüdisch – hat ihre Wurzeln in den frühen Dekaden des 20. Jahrhunderts. Die Prohibitionszeit führte zu einer engen Verflechtung von Verbrechen und Politik und zu einer Insti- tutionalisierung der Unterwelt. In Filmen, Romanen und der Populärkultur wurden Teilaspekte dieser Ära verewigt. Für viele geht die Vorstellung des Gangstertums Hand in Hand mit dem »American Dream«, dem historischen Leitbild des Vorankommens in der Gesellschaft.
Für kubanischstämmige Amerikaner ist dies allerdings eine Geschichte jüngeren Datums, sie geht zurück auf die kubanische Revolution Ende der Fünfzigerjahre.
Das folgenschwere Erbe der von Fidel Castro, Ernesto »Che« Guevara und vielen anderen geführten kubanischen Revolution ist in zahllosen Büchern, Dokumentarfilmen, Gemälden, Dramen, Filmen und Lebensgeschichten beleuchtet worden. Wie andere historische Geschehnisse von großer Tragweite wurde sie durch das Prisma politischer Ideologie, Ikonografie, Legendenbildung und Fantasie gedeutet und immer wieder neu zusammengesetzt, mit der unvermeidlichen Folge, dass es allein vom Betrachter abhängt, welche Lehren daraus zu ziehen sind. Für die einen ist Castro ein Held, für die anderen ein Teufel, für die einen diente die Revolution den Menschen, für die anderen nur der Zentralisierung staatlicher Gewalt, mit der Castro seine Position unangreifbar machte.
Unstrittig, wenngleich wenig beachtet, ist, dass viele Männer und Frauen, die einen Beitrag zur Revolution leisteten, und auch einige, die zusammen mit Castro in seiner Bewegung des 26. Juli kämpften, nichts von den kommunistischen Zielen dieser Revolution wussten. Castro war sehr darauf bedacht, seine politische Bewegung nicht als marxistisch-leninistisches Unternehmen darzustellen. Bei einer Vortragsreise in den USA in den Jahren 1955/56 zur Beschaffung von Mitteln für seine Sache ließ er sich nicht in die Karten schauen. Erst nach der Machtergreifung bekannten sich Castro und Guevara zu ihren wahren Absichten.
Einige prominente Teilnehmer der Revolution – auch aufständische Kämpfer, die sich auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet hatten, sowie einige führende Köpfe des Widerstands im Untergrund – zeigten sich bestürzt über die Ausrichtung der neuen Revolutionsregierung. Als klar wurde, dass Castros Regime auf eine kommunistische Diktatur ohne freie Wahlen hinauslief, begannen die Menschen zu fliehen. Zu den Ersten, die das Land verließen, gehörten aus naheliegenden Gründen die Anhänger des abgesetzten Diktators, Presidente Fulgencio Batista. Die Zurückgebliebenen wurden festgenommen und manche vor ein Erschießungskommando gestellt: al paredón! – an die Wand! Als Nächstes setzte sich die Oberschicht ab, nachdem sie durch staatlichen Erlass Eigentum und Unternehmen verloren hatte. Und dann folgten Zehntausende weitere: Lehrer, Facharbeiter, Künstler und Besitzlose, die mit allen nur erdenklichen Mitteln von der Insel flohen: mit dem Flugzeug, mit dem Boot und in späteren Jahren mit Flößen, aufgeblasenen Luftschläuchen und anderen instabilen, notdürftig zusammengebastelten Gefährten, von denen nicht wenige in der unerbittlichen See versanken und ihre Passagiere in den Tod rissen.
Ein Bedürfnis nach Rache
Die Flüchtlinge – und vor allem jene, die die Revolution ursprünglich unterstützt hatten – fühlten sich zutiefst verraten. Und wer sich verraten fühlt, hat oft ein starkes Bedürfnis nach Rache. Genau dies war die vorherrschende Stimmung bei den jüngst aus ihrer Heimat Vertriebenen.
Sie ließen sich zumeist in Südflorida nieder, und dort überwiegend in Miami, das auf der anderen Seite der Floridastraße nur rund 370 Kilometer Luftlinie von Havanna entfernt lag. Für Betuchte mit gehobenem diplomatischem Status war die kubanische Hauptstadt damit in nur 45 Flugminuten erreichbar. Einige Kubaner zogen weiter in den Norden nach Hudson County, New Jersey, vor allem nach Union City, wo Ende der Sechzigerjahre nach Miami die größte kubanische Exilgemeinde leben sollte. In Union City fanden sie Arbeit in den Textilfabriken; diese waren bereits die wichtigsten Arbeitgeber in der Region, als nach dem Zweiten Weltkrieg dort noch hauptsächlich Bürger italienischer, irischer und jüdischer Herkunft wohnten.
Ob in New Jersey, Südflorida oder anderswo, die Kubaner brachten immer ihre kulturellen Traditionen mit. Glanzvolle afro-kubanische Musik; pulsierende Tanzclubs; eine starke Verbundenheit mit dem Katholizismus und in manchen Fällen auch mit der heidnischen Religion der Santería; unvergleichliche Zigarren; bisweilen Hahnenkämpfe; die Vorrangstellung des Familienlebens; eine von Hähnchen, Lechón (Spanferkel), Kochbananen, Reis und Bohnen geprägte Kost; eine Vorliebe für Rum von den Inseln; und in manchen Fällen eine Neigung zu Glücksspielen, vor allem zu einer schlichten Variante namens Bolita.
Wörtlich übersetzt, bedeutet Bolita »kleine Kugel«. Diese Bezeichnung stammt aus einer Zeit, als bei der staatlichen Lotterie in Kuba kleine nummerierte Kugeln in einer Tüte vermengt wurden, um nach dem Zufallsprinzip die Tageszahl zu ermitteln. Bolita war eine illegale Variante für arme Leute, das bei geringen Einsätzen hohe Gewinne versprach und deren Gewinnzahl sich nach der staatlichen kubanischen Lotterie richtete. Ab den Zwanzigerjahren wurde Bolita in Kuba zu einer Art Nationalsport, der so alltäglich war wie Zuckerrohrfelder, Königspalmen und der ferne, immer gegenwärtige Trommelwirbel der Revolution.
Angesichts seiner hohen Verbreitung bei Kubanern aller Schichten war es wohl unvermeidlich, dass das Spiel auch in den kubanischen Exilgemeinden von Miami und Union City großen Erfolg hatte. Der Mann, dessen Name später in den USA mit dieser illegalen Aktivität vor allem assoziiert werden sollte, brachte aus Kuba keine Erfahrung als Bolitero (Chef einer Bolita-Organisation) mit. Er war während der Diktatur Batistas Polizist in Havanna gewesen und hieß José Miguel Battle y Vargas.
Das Havanna der Fünfzigerjahre war eine Stadt der Korruption und des Vergnügens. Manche erinnerten sich später an sie als einen der glorreichsten Orte für Sinnenfreuden und Laster des gesamten 20. Jahrhunderts. Zum Teil lag das daran, dass die Karibik seit den Tagen der Gewürzhändler, internationalen Söldner und Piraten als Umschlagplatz für Schmuggelware gedient hatte. Mit der Zeit entwickelte sich Havanna zwar zu einem Zentrum der Kultur und Architektur, dennoch behielt die Stadt immer ihr schwüles, sexuell aufgeladenes Ambiente, das Touristen und Prominente aus aller Welt anlockte.
Meyer Lansky, Charles »Lucky« Luciano und Santo Trafficante Jr. gehörten zu den bedeutenden US-Mafiosi, die in Kuba einen idealen Auslandsstützpunkt für ihre Operationen sahen. Darüber hinaus konnte man auch im Land selbst gutes Geld verdienen. Lansky stellte als Erster eine Geschäftsbeziehung zu Batista her, der ihn 1952 zum Direktor für die Reform des Glücksspiels in Kuba ernannte. Lansky räumte mit dem Betrug in der Kasinoszene auf und begründete damit den guten Ruf der Insel als Ziel für Vergnügungssuchende. Das führte zu einem noch nie da gewesenen Aufschwung der Glücksspiel- und Unterhaltungsbranche in Kuba.
Alles begann mit den Kasinos, die sich überwiegend in den besten Hotels der Stadt befanden. Das Hotel Nacional bot das eleganteste und Lanskys 1957 eröffnetes Riviera das protzigste. Der ovale Saal, entworfen vom international angesehenen Architekten Igor Boris Polevitzky, verfügte über einen luxuriösen Teppichboden, Blattgoldwände und sieben prächtige, eigens angefertigte Kronleuchter aus Gold und Kristall. In der Mitte des Raums standen die Spieltische – Roulette, Würfel, Blackjack, Baccara –, und die geschwungenen Wände wurden von Münzautomaten gesäumt. Die versenkte Bar Doble o Nada (doppelt oder nichts) war einer von drei Veranstaltungsorten des Hotels für Live-Unterhaltung.
Von außen betrachtet, lag das Kasino wie ein bunt bemaltes modernistisches Ei vor dem Hotel. Das Ganze war ein einziges Kunstwerk.
Die Kasinos waren das Zugpferd und brachten Geld in die Stadt, das auch anderen Branchen zugutekam. Alle Hotels hatten Nachtclubs, die zum Zentrum einer fabelhaften Unterhaltungsszene mit heißem Latinjazz, knackigen Revuegirls, aufwendigen Shows und vielen Spitzensängern und Entertainern aus den USA wurden. Und außerhalb dieser offiziellen Welt der Kasinos und Live-Unterhaltung gab es ein quicklebendiges Schattenreich mit Bordellen, Sex-Shows, privaten Kartenspielen um hohe Einsätze und Zugang zu Drogen.
José Miguel bewegte sich in dieser Szene von der höchsten bis zur tiefsten Ebene. Im Havanna der Fünfzigerjahre war er bei der Sitte. Für Andersdenkende und politische Untergrundaktivitäten waren eigene Abteilungen der Polizei zuständig. Der berüchtigte Servicio de Inteligencia Militar (SIM), Batistas militärischer Geheimdienst, verhaftete Studenten und andere vermeintliche Regimegegner und schaffte sie in Lagerhallen und Hinterzimmer, wo sie gefoltert und in einigen Fällen auch ermordet wurden. Mit solchen Aktivitäten hatte Battle nichts zu tun. Als Beamter bei der Sitte machte er seine Runden durch Freudenhäuser, Spielsalons, Nachtclubs, Hahnenkampfplätze und Hotels, wo man in der Lobby eine Zigarre rauchen konnte. So lernte er die Einwohner der Stadt kennen, von den schäbigsten Straßenzuhältern bis hinauf zur Prominenz aus Politik und Unterhaltung.
Einer von ihnen war Martín Fox, der Besitzer des Tropicana, des legendärsten Nachtclubs von Havanna. Vor seiner Zeit als Nachtclub-Impresario war Fox einer der bedeutendsten Boliteros der Stadt gewesen. Er hatte als bescheidener Listero angefangen, der Wetten annahm und sie auf einem Blatt Papier festhielt. Nach dem Umzug aus seiner Heimatprovinz Matanzas wurde Fox zu einem der reichsten Bolita-Banker in Havanna. Als Banquero bürgte er für alle anderen Boliteros, wenn eine vielfach gewettete Zahl gewann – zum Beispiel die Acht am 8. September, dem Tag der kubanischen Schutzpatronin María, der Barmherzigen. Mit seinen Bankrücklagen konnte Fox diese Verluste decken, wohl wissend, dass seine Beteiligung an den Gewinnen aller Boliteros diese kurzfristigen Einbußen im Lauf der Zeit mehr als wettmachen würde. Nach und nach gelang es ihm, in Havanna eine lukrative Glücksspielszene zu etablieren, die, obwohl verboten, durch Zah- lungen an die Polizei ermöglicht wurde.
José Miguel Battle kam im Juni 1951 als Polizist nach Havanna. Da war Martín Fox bereits vom Bolitero zum Eigentümer des Tropicana aufgestiegen. Battle und Fox verstanden sich auf Anhieb. Sie sahen sich sogar ähnlich. Beide waren untersetzt und geradlinig, zu gleichen Teilen freundlich und barsch. In ihrer Art erinnerten sie ein wenig an den Filmschauspieler Anthony Quinn. Beide waren Guajiros (Landeier) und mit dem Traum nach Havanna gekommen, etwas aus sich zu machen. Obwohl der jüngere Battle vom Tropicana genauso beeindruckt war wie alle, interessierte er sich noch mehr für Fox’ Vergangenheit als Bolitero, die ihm erst den Sprung zu gesellschaftlichem Ansehen ermöglicht hatte.
Mit der Zeit kamen sie ins Geschäft. Fox zahlte monatlich 5000 Pesos an den Polizeichef José Salas Cañizares, und manchmal war es José Miguel Battle, der das Geld überbrachte. Später wurden diese »Botengänge« sehr viel wichtiger, als Battle weitaus höhere Summen von hochrangigen US-Mafiosi im Präsidentenpalast von Batista zustellte…
T. J. English: The Corporation. Aufstieg und Fall der kubanischen Mafia (The Corporation: An Epic Story of the Cuban American Underworld, 2018). Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader, Heyne Hardcore, München 2018. Harscover, 704 Seiten, 16seitiger Bildteil, 28 Euro. Verlagsinformationen hier.
Website des Autors hier.