Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Textauszug Denis Scheck: Mordshunger im Provinzkrimi

Als Literaturkenner ist er bekannt, jetzt lässt er auch an seinem kulinarischen Sachverstand teilhaben. Denis Scheck legt mit „Schecks kulinarischer Kompass“ ein höchst vergnügliches, kundiges, ebenso scharf wie leidenschaftlich urteilendes Küchenkompendium vor. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages präsentieren wir Ihnen daraus ein Kapitel über Kriminalromane & Kochkunst. Versäumen Sie auch nicht unsere zugehörige, von Alf Mayer zusammengestellte Bildgeschichte „400 Cover klagen an“ hier in dieser Ausgabe nebenan.

Denis Scheck: Schecks kulinarischer Kompass. Köstliches und Kurioses aus meiner Küche und aller Welt. Mit 17 sw-Abb. von Torben Kuhlmann. Piper Verlag, München 2022. Hardcover, Lesebändchen, 304 Seiten, 26 Euro. – Hier nebenan in unserer Rubrik „non fiction, kurz“ besprochen.

Setting und Terroir 

Gekocht wurde im Krimi schon immer – und zwar mit Vorliebe hardboiled. Und doch erleben wir heute einen Wandel: Nirgendwo wird in der Gegenwartsliteratur so viel gegessen und getrunken, gesotten und gebrutzelt, frittiert, pfannengerührt, sous-vide-zubereitet und dampfgegart wie derzeit im Krimi. Insbesondere im deutschen Provinzkrimi herrscht Mordshunger – was jede Menge dumpfen Dampfnudelblues produziert. 

In einem seit den Tagen Agatha Christies, Dashiell Hammetts und Friedrich Glausers mit großem Fleiß beackerten Genre erweist es sich als immer schwerer, gleichermaßen unverwechselbare wie einprägsame Krimiheld*innen zu schaf- fen. Deshalb gleicht das Handlungspersonal des modernen Kriminalromans immer mehr einer Freakshow. Wenn nicht einer Tierschau. Der Zwang zur Originalität beschert uns Krimilese- rinnen und -lesern Ermittler*innen mit immer absonderlichen Schrullen und Fähigkeiten, Faibles und Vorlieben, Gebresten und Talenten. Man hat mir von Einäugigen, Buckligen und Epileptiker*innen erzählt, von Kleinwüchsigen, Stammler*innen und Hellseher*innen, Allergiker*innen, Depressiven und Veganer*innen, Hermaphroditen und Transsexuellen, Jesuiten, Scientolog*innen, Benediktiner*innen sowie Damen, Herren und Transpersonen mit immer ausgefalleneren Ticks, Spleens und Handicaps, gern auch im Unterleib. Die Zukunft des Krimis, so scheint es, gehört der Altgriechisch sprechenden, telepathisch begabten einbeinigen IT-Spezialistin, soeben zum Zoroastrismus konvertiert und mit einer Vorliebe für die indigene Küche des bolivianischen Hochlands. 

Und wissen Sie was? Gelegentlich überrasche ich mich gern selbst, »OK Boomer!« hin oder her – ich finde das richtig und gut. Literatur war schließlich immer schon die Probebühne unseres Daseins. Der Ort, wo sich manches austesten lässt – oder wo man Zeugnis darüber ablegt, dass man etwas ausge- testet hat und mit welchem Ergebnis. Wo ließe sich Diversität, mit anderen Worten die Erkenntnis, dass die Welt etwas größer und bunter ist, als wir es uns in unserem Posemuckel träumen lassen, also besser und leichter ausprobieren als im Krimi, der Fantasy und der Science Fiction? 

Dass der Krimi als Spiegel unserer Welt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit aufs Kochen kommen musste, liegt dem-nach auf der Hand. »Elementary, my dear Watson«, wie Conan Doyles Sherlock Holmes sagen würde. Das Krimigenre liebt 171 nun mal klar definierte Milieus mit leicht imitierbaren Fach- sprachen, gleichgültig ob italienische Bordelle, chinesische Opiumhöhlen oder französische Sterneküchen. Entdeckt hat der Kriminalroman die Kulinarik schon lange; umarmt allerdings erst seit Kurzem – mehr aus Not denn aus Tugend. 

Mordende Köche und kochende Mörder kannte zwar auch schon Dorothy Sayers ebenso wie Raymond Chandler. Doch wo findet sich in der klassischen Kriminalliteratur ein sieben Seiten langer Abspann mit einer Auflistung der beliebtesten Tapas, die ein fiktives Lokal namens »Weltkarte von Bilbao« anbietet – von »Carpaccio vom Wildschwein mit grobem Meersalz und Portweinvinaigrette« über »Langusten und Hirn mit Tomatengratin, gewürzt mit Johanniskraut« bis zu »Trüffel in der Salzkruste mit Hollandaise«? In einem Buch, das in halluzinatorischem Stil vom Vorkoster des spanischen Diktators Franco und einem ETA-Anschlag erzählt und stark genug ist, ein ganzes Krimigenre zu revolutionieren. Skorpione im eigenen Saft heißt der düster-groteske Roman des baskischen Schriftstellers Juan Bas, der etwas ganz Unerhörtes im kulinarischen Krimi bietet: food for thought. 

Der landläufigen Theorie zufolge steht im Mittelpunkt des britischen Kriminalromans die Verletzung und anschließende Heilung einer an sich stabilen Gesellschaftsordnung. Die Schule des amerikanischen Krimis erzählt hingegen vom Kampf des wackeren Einzelnen gegen die Mächte des Chaos, die mit den gesellschaftlichen Autoritäten im Bunde stehen. Der kulinarische Krimi, ließe sich ergänzen, erzählt von der Herstellung von Diversität und Schönheit in einer chaotischen Welt. 

Zum Beispiel so, wie dies dem in Australien geborenen Österreicher Heinrich Steinfest in vielen seiner Romane gelingt. Diese werden als Krimis vermarktet, sind aber im Grunde genauso unklassifizierbar wie die Romane Heimito von Doderers. Steinfest ist ein Meister der eleganten Abschweifung und in der Handlungsführung vollkommen unberechenbar, hat aber eine auffallende Affinität zur Kulinarik. Egal, ob er von Gemüsehändlern, Auftragskillerinnen mit behinderten Kindern oder dem Chauffeur eines hochrangigen Politikers schreibt, der sein Glück als Hotelier findet, der bekennende Vegetarier Steinfest lotet das enorme Potenzial dieses Sujets Buch um Buch aus. »Gibt es Perfektion in der Welt?«, fragt Steinfest in seinem Roman Mariaschwarz und findet sie ausgerechnet in der »Verbindung zwischen einem Kneipenwirt und seinem Gast« in einem abgelegenen Ort namens Mariaschwarz. Außerdem geht es in diesem skurrilen und von der ersten Seite an wundervollen Krimi um Inzest und Überraschungseier. 

Der Kriminalroman lebt in besonderer Weise vom Setting, und er tat das schon seit seinem Anfang, ob man das nun mit Edgar Allan Poes 1841 erschienener Kurzgeschichte von The Murders at the rue Morgue in Paris ansiedelt oder zwanzig Jahre früher mit E. T. A. Hoffmanns ebenfalls in Paris spielendem Fräulein von Scuderi. Daneben, das sei nicht verschwiegen, gibt es natürlich noch die mir durchaus sympathische Denkschule, die auch Homers Ilias, Shakespeares Hamlet oder Voltaires Zadig als Krimi liest. In jedem Fall ist der Handlungsort im Krimi wichtiger als etwa im Ehedrama. Die Frage ist nur: Warum? 

Jörg Maurer brachte das Kunststück fertig, mit seinen in dem »Kurort« (gemeint ist Garmisch-Partenkirchen, aber der Name der Stadt wird in keinem der Bücher genannt) spielenden Romanen um Kommissar Hubertus Jennerwein intelligente Heimatliteratur zu schreiben. Zu den einprägsamsten Figuren seines skurrilen Personals zählen die Bestatter Ursel und Ignaz Grasegger, die mit der italienischen Mafia kooperierenund sich durch eine absurde Verfressenheit auszeichnen. Die Karnivoren-Orgien der Graseggers sind eine lustvolle Attacke gegen den grassierenden Gesundheitswahn und gipfeln im Verzehr von absurden Mengen teils realer, teils fiktiver Spezialitäten wie Weißwürste, »Gamsfiletsulz« und dem legendären »panierten Wammerl«. Unter dem Titel Wer kocht, hat keine Zeit zu morden hat Maurer inzwischen ein Kochbuch mit den Lieblingsrezepten seiner Protagonisten publiziert. 

Lord Peter Wimsey ließ sich seine Dover sole und Hercule Poirot seine Wachteln auf Belugalinsen einfach nur schmecken. Sie wären allerdings nie auf die Idee gekommen, diese eigenhändig zuzubereiten – ebenso wenig wie die kulinarischen Ambitionen der Helden Chandlers oder Hammetts über das Mixen des nächsten Drinks hinausgingen. Dies blieb seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts Rex Stouts Privatdetektiv Nero Wolfe vorbehalten. Der Orchideenzüchter und Biertrinker Wolfe hatte mit »Rusterman’s« nicht nur ein Lieblingsrestaurant in Manhatten, sondern beschäftigte auch einen eigenen Koch, den Schweizer Fritz Brenner, der mit seinen Markklößchen, Spanferkeln, Fasanen und Aprikosenomeletts dafür sorgte, dass Wolfe sein Kampfgewicht von gut 140 Kilo nie unterschritt. 

Georges Simenons Behauptung, mit zehntausend Frauen geschlafen zu haben, wird man aus guten Gründen anzweifeln dürfen. Nicht aber, dass er seinen Kommissar Maigret im Lauf der 75 Maigret-Romane an die tausend Mahlzeiten zu sich nehmen lässt. Simenons Maigret, derzeit in einer liebevollen Neuausgabe vom Kampa Verlag präsentiert, besitzt eine Vorliebe für Schmorgerichte, Muscheln und die einfache Bistroküche, wie sie niemand auf dieser Welt besser zubereitet als Madame Maigret. Konsequenterweise schickt Simenon die beiden denn auch in einem Roman zur Kur nach Vichy, wo sich Maigret vom Kurarzt fragen lassen muss: »Aha, Sie sind also nicht nur ein Gourmet, Sie sind auch ein großer Esser?« 

Auf Maigret folgte der verfressene Privatdetektiv Pepe Carvalho des Spaniers Manuel Vázquez Montalbán mit seiner nahezu obsessiven Begeisterung für die katalanische Küche. In einem früheren Kapitel habe ich schon von meiner Begegnung mit dem schlitzohrigen Andrea Camilleri berichtet. Dieser taufte seinen Commissario Montalbán zu Ehren Salvo Montalbano und ließ ihn auf seinen Ermittlungen in der fiktiven sizilianischen Stadt Vigata ebenso oft Küche und Keller einbeziehen wie Montalbán die Carvalhos in Barcelona. 

Zeitgleich, ab Anfang der 80er-Jahre, legte der Engländer Michael Bond mit den charmanten Retro-Romanen um Aristide Pamplemousse und den Bluthund Pommes Frites amüsante »Gastronomic Mysteries« vor – die Vincent Klink für die deutsche Ausgabe bei Zabert Sandmann mit schönen Rezepten ergänzte. Ebenfalls Anfang der 80er begann Gisbert Haefs seinen Romanzyklus um den faulen und fetten, aber genialen Baltasar Matzbach. Zehn Jahre später erschienen die ersten Brunetti-Krimis von Donna Leon. Auch für sie sind Essen und Trinken von zentraler Bedeutung – insbesondere die Familienmahlzeiten mit den Kindern als Gegenwelt zum kriminellen Venedig. 

Und doch weist vieles darauf hin, dass sich seither im kulinarischen Krimi etwas Grundlegendes gewandelt hat. Jürgen Dollase würde von einer veränderten Textur sprechen. Ein kleiner Stilvergleich verdeutlicht den Unterschied. Wenn Donna Leon in ihren Brunetti-Krimis von Essen schreibt, klingt das zum Beispiel in ihrem Roman Blutige Steine so: »In den hell erleuchteten Buden auf dem Weihnachtsmarkt lockten Händler und Erzeuger verschiedener italienischer Provinzen mit ihren Spezialitäten: papierdünnes Brot und Käse mit tiefdunk- ler Rinde aus Sardinien, Oliven in unterschiedlichen Formen und Farben aus allen Regionen des Landes; Öl und Käse aus der Toskana; Salami in jeder Länge, jeder Dicke und mit allen erdenklichen Zutaten aus der Reggio Emilia.« Ähnlich vage und doch Atmosphäre erzeugend, ließe sich auch über die Welt des Segelns, der Popmusik oder des Modellbaus schreiben. 

Die Tonlage, die der Deutsche Carsten Sebastian Henn, Jahrgang 1973 und einige Jahre Chefredakteur der Zeitschrift Vinum, in Vino Diavolo anschlägt, ist eine ganz andere. Henn schreibt knallharte Speisekartenprosa: »Nach ›Entenstopflebermit Schokolade und Espelettepaprika‹, ›Putenpraliné an weißer Safranschokolade mit rosa und grünem Pfeffer‹, ›Kalbsroastbeef 175 mit Venezuela-Schokoladenorangen‹, ›Bärlauch mit Ingwer-Barriqueschokolade und Meersalz‹ und schließlich ›Maisblini mit fünfundachtzigprozentiger Chilischokoladensauce und Brokkoliröschen‹ schob Julius den kleinen Sinziger Koch auf die polierte Holzbank im Erker.« Das nenne ich einmal Verzicht auf kriminelle Action zugunsten des kulinarischen Details! 

Der kulinarische Krimi ist dabei, sich als Untergenre aus eigenem Recht zu etablieren – so wie mit Rita Mae Brown und Sneaky Pie Brown der Katzenkrimi. Während Leon & Co. die kulinarischen Vorlieben ihrer Helden bloß softboiled zur Charakterisierung verwenden, schreibt Carsten Sebastian Henn hardboiled. Das funktioniert in Vino Diavolo, dem fünften Serienkrimi um den Koch und Weinnarren Julius Eichendorff, erstaunlich gut. 

Dann allerdings ist Henn auf die unglückselige Idee einer Fusion verfallen: Warum nicht den boomenden Tierkrimi mit dem kulinarischen Krimi verschmelzen? Tod & Trüffel nennt Henn denn auch seinen – die Wirklichkeit ist mitunter nicht satirisch überbietbar – Hundekrimi aus dem Piemont. Henn erliegt darin durchweg der Gefahr, die Tierwelt zu vermenschlichen. So lässt er an einer Stelle etwa einen Hund denken: »Vielleicht ist die Welt doch eher wie eine Pizza. Vieles sieht auf ihr ähnlich aus, aber ist doch irgendwie anders.« Vielleicht. 

Henns krude Story um ein Dorf in Italien, aus dem ein Freilichtmuseum werden soll, italienische Wölfe, deren Vorfahren Romulus und Remus säugten, ein Windspiel namens Niccolo und den Trüffelhund Giacomo mit einer Schwäche für Barolo (»Die Autos der Menschen brauchen stinkenden Saft, damit sie rollen, ich brauche Wein. Kein Wein, keine Nase.«) ist ein Musterbeispiel für jenen Kitsch, den der Anblick von Tieren, Kindern oder Kindern mit Tieren die Hirne mancher Menschen produzieren lässt. 

Dass noch kein Mensch Geld mit einer Kombination aus Italien, Trüffel und Tierkrimi verloren hat, muss sich auch der Deutsche Wolfgang Zdral gedacht haben. Tartufo Mortale heißt der bereits zweite Fall seines Ermittlers: eines Schweins namens Leonardo, das eine Schwäche für Trüffel, Rotwein und seine Padrona Eleonara hat und wenig Neugier, woher eigentlich Prosciutto kommt. »Ich blicke zurück auf eine nicht gerade unrühmliche Laufbahn als Trüffelschwein im Piemont, dem Mekka der Trüffelsammler, wie sich mittlerweile herumgesprochen haben dürfte«, lässt Zdral sein Schwein sagen. Das ganze Elend dieses öden Krimis steckt in diesem Satz. 

Regelrecht erholsam dagegen die höllische Finsternis und hyperpräzise Beobachtungsgabe des spanischen Autors Pablo Tusset. Er weiß, dass die Einzigen, die etwas von Fleisch verstehen, Teufel und Vegetarier sind, und lässt seinen hypnotisch-eindringlichen Hieronymus-Bosch-Krimi Im Namen des Schweins mit einer Schlachthofszene beginnen, die buchstäblich unter die Haut geht. Tussets Kommissar Pujol mag Fleischklöße in Mandelsoße, ist ein würdiger Nachfolger Pepe Carvalhos und verliebt sich in diesem Roman maßlos – originellerweise in die eigene Frau. 

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