
Carl Nixon: Kerbholz (The Tally Stick, 2022). Aus dem Englischen von Jan Karsten. CulturBooks, Hamburg 2023. Hardcover, 304 Seiten, 24 Euro. – Erscheint am 4. Mai 2023. Verlagsinformationen hier.
Und dann fielen sie …
Mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor präsentieren wir Ihnen hier den Prolog des Buches, das am 4. Mai erscheint.
Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde. Vom Rand der bewaldeten Steilküste, an der sich die vom Regen glatte Straße in die so tückische Kurve krümmte, bis hinab zum reißenden Fluss am Fuß der Klippen waren es fast zwanzig Meter. Es schien kein Mond in dieser Nacht, niedrige, bleierne Wolken verdeckten den Himmel. Für den Bruchteil – eines Bruchteils – eines Augenblicks hing das Auto wie schwebend in der Luft. Sehr bald würden die Kinder anfangen zu fallen. Hinab auf die Wipfel der Bäume. Hinab auf das zwischen den Felsbrocken entlangrauschende Wasser. Der Zukunft entgegen.
Die einzig wache Person war der Fahrer, der Vater der Kinder, John Chamberlain. Der Schein des Armaturenbretts fiel auf sein langes, schmales Gesicht. Er starrte nach vorn, nach Osten, wo die Scheinwerfer über einen schier endlosen Wald leuchteten; dicke, diamantene Regentropfen kreuzten den Lichtkegel. Mehr noch als Angst lag Unglauben auf seinem Gesicht. Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad, als hätte er noch immer alles unter Kontrolle. Vielleicht glaubte er, es gäbe sogar jetzt noch irgendein Manöver, das er ausführen könnte, irgendeinen geheimen Hebel, von dem nur wenige wüssten, nach dem er suchen, den er betätigen konnte; etwas – irgendetwas, womit er seine Familie retten konnte. Hinter ihm seufzte eines der Kinder auf und bewegte sich im Schlaf.
»Julia.« Johns Stimme war ein trockenes Flüstern.
Die Mutter der Kinder saß neben ihm, ihr Kinn ruhte vogelartig an ihrer Schulter, den Kopf hatte sie gegen die Tür gelehnt, abgepolstert durch eine Strickjacke. Einige Zeit zuvor hatte sie den Sicherheitsgurt gelöst – er war unbequem gewesen – und nun kringelte er sich locker ihre Schulter hinab in die flache Mulde ihres Schoßes. Sie träumte von Pferden. Drei gescheckte Stuten liefen nebeneinander über ein trockenes, karges Feld. Weißer Staub wirbelte auf und stieg um sie herum empor. Immer schneller liefen die Pferde, als versuchten sie, dem aufgeworfenen Staub zu entkommen. In Julias Traum dröhnten die Hufe der Pferde unvorstellbar laut.
John wünschte sich, es bliebe Zeit, sich bei seiner Frau zu entschuldigen. Es gab so viele Dinge, die ihm leidtaten: die vielen Stunden, die er bei der Arbeit verbracht hatte; dieser armselige Streit wegen der Tapete; die Frau in Tottenham, von der Julia immer noch nichts wusste. Am meisten bereute er, die Kinder in dieses Land gebracht zu haben. Julia hatte London nicht verlassen wollen. Er hatte sie bedrängt. Ja, das war das richtige Wort, bedrängt, jetzt konnte er es zugeben. Er hatte darauf bestanden, dass dieser Job ein Sprungbrett sei. Eine einfache Möglichkeit, Fuß zu fassen, bevor es weiterginge. Er hatte ihr eine Zukunft mit einer Versetzung ins New Yorker Büro versprochen, vielleicht sogar nach Paris. Sie würden ein Kindermädchen einstellen, sobald sie sich in dem Haus in Wellington, einem malerischen kleinen Städtchen, eingelebt hätten. »Es sind gerade mal zwei Jahre am Ende der Welt«, hatte er gesagt. »Du musst Neuseeland als ein großes Abenteuer sehen.« Am Ende hatte sich Julia auf seine Sicht eingelassen. Sie war eine gute Ehefrau. Eine gute Mutter.
Vor ein paar Stunden hatte die Familie in einem kleinen Ort Halt gemacht, um Steak mit Pommes zu essen. Julia sprach davon, ein Zimmer für die Nacht zu nehmen. Vielleicht könnten sie am nächsten Morgen mit den anderen Touristen einen Spaziergang durchs Tal machen, um sich den Gletscher anzusehen? Begeistert von der Idee sahen die Kinder von ihrem Essen auf.
»Es ist nur eine Wand aus schmutzigem Eis«, sagte er und schob mit dem Daumen seinen noch halb vollen Teller zur Seite. »Da gibt’s nichts zu sehen. Außerdem wird dieser Regen bestimmt nicht so schnell aufhören, jedenfalls nicht vor morgen früh. Wir sollten zusehen, dass wir weiterkommen.«
Man hatte John gesagt, dieser Teil des Landes sei ein Naturwunder, ein Relikt der Vorzeit, aber sie hatten in den letzten drei Tagen ihrer Reise nichts als unerbittlichen Regen und graue Küsten kennengelernt, nichts als hinter Wolken verborgene Berge und halb gare Pommes. Hätten sie Eintritt bezahlt, er hätte sein Geld zurückverlangt.
Als sie das Restaurant verließen, war es bereits dunkel. Vornübergebeugt hetzten sie zum Auto; die Aufschrift »Zimmer frei« auf dem Neonschild vor dem Motel nebenan verschwamm durch den strömenden Regen bis zur Unkenntlichkeit. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Tropfen so groß wie Murmeln. Monsunregen.
Er war die Küste hinuntergefahren, auf dem Weg zu dem einzigen Gebirgspass, den es so weit südlich gab. Selbst bei voller Leistung hatten die Scheibenwischer schwer damit zu kämpfen, das Wasser von der Windschutzscheibe zu fegen. Die drei ältesten Kinder hatten es sich mit Kissen, Schlafsäcken und einer Wolldecke auf dem Rücksitz gemütlich gemacht. Eingelullt vom Vibrieren des Motors und den Trommelschlägen des Regens auf dem Dach, waren sie schnell eingeschlafen. Das Baby, Emma, brauchte länger, um zur Ruhe zu kommen. Sie lag zu Füßen seiner Frau in einem tragbaren Bettchen, einem modischen Hippie-Babytragesack, der bis unters Kinn hochgezogen werden konnte. Sie hatten es von Julias Schwester Suzanne als Abschiedsgeschenk bekommen. Damals hielt John das Bett für eine Verschwendung von kostbarem Platz, aber es hatte sich als überraschend nützlich herausgestellt. Emmas Gequengel hatte sich in ein sanftes Schnaufen verwandelt und dann in Stille aufgelöst.
Laut Landkarte waren sie auf einem Highway unterwegs, aber John kam es mehr wie eine Nebenstraße vor. Es gab keine Ortschaften mehr, keine Straßenlaternen, nicht einmal ein erleuchtetes Farmhausfenster in der Ferne. Schließlich führte die Straße sie von der Küste fort. Über lange Kilometer hinweg wuchsen die Bäume bis direkt an den Asphalt heran, ihre Äste waren mit Moos überwuchert. Das Scheinwerferlicht ließ sie kurz aufleben, dann verschwanden sie hinter ihnen in der Dunkelheit. Alles ertrank in dem unaufhörlichen Regen. Keine Lichter tauchten im Rückspiegel auf. Kein einziges Auto auf dem Weg nach Norden kam ihm entgegen.
John hatte das Wasser auf der Straße erst im letzten Moment gesehen. Es breitete sich am Ende einer geraden Strecke aus, auf der er unbedachterweise beschleunigt hatte. Er trat auf die Bremse und spürte, wie der Wagen ins Rutschen geriet, während er dagegen ankämpfte. Wie wild am Steuer zu reißen, brachte gar nichts, das Auto hatte seinen eigenen Willen und ließ sich nicht überzeugen. Mit immer noch hohem Tempo verließen sie die Straße. Die Reifen gruben sich in den schmalen Streifen aus Schlamm und Kiesel, und die Motorhaube drang in die weichen Falten des Waldes ein. Eigentlich hätten sie einen Baum erwischen und gewaltsam am Straßenrand zum Stehen kommen müssen, wo man sie nur Stunden später gefunden hätte. Stattdessen glitt das Auto wie eine Klinge zwischen den Stämmen hindurch. Die einzigen Geräusche waren der Motor, der Regen und das lange Schrammen von Zweigen über Metall. Sie pflügten voran, einen steilen Abhang hinab, zermalmten Farne, knickten Schösslinge um, bis zu der Klippe über dem Fluss, die von der Straße aus nicht zu sehen gewesen war. Auch das letzte große Hindernis, einen Granitfelsen von der Größe einer Waschmaschine, verfehlte das Auto geflissentlich um nur wenige Zentimeter.
Es schoss vorwärts.
In die Luft. Wo es hängen blieb.
Für den Bruchteil eines Augenblicks leuchteten die Scheinwerfer nach Osten über den Wald. Diamanten glitzerten in weißem Licht. Eines der Kinder bewegte sich und seufzte im Schlaf, als die Scheibenwischer ihren Abwärtsbogen zogen. Es war alles so schnell gegangen, dass John noch keinen verständlichen Laut von sich gegeben hatte.
Es stimmt also, dachte er. Zum Ende hin verlangsamt sich alles.
»Julia.«
Vom Gewicht der Maschine gezogen, neigte sich das Auto nach vorne. Die Scheinwerfer veränderten ihren Winkel und enthüllten wild sprudelndes Wasser und schemenhafte Felsbrocken.
Und dann fielen sie.
Als Julia ihn schließlich ansah, bemerkte John, dass sich ihre Augen mit Angst füllten, wie Wasser einen blau gekachelten Pool. Er versuchte, seine Hand nach ihr auszustrecken. Er wollte sie beruhigen, aber es war zu schwer geworden, sich zu bewegen. Wenn nur der Sicherheitsgurt nicht so stark gegen seine Brust drücken würde. Beinahe konnte er sie erreichen.
Die Art und Weise, wie John ihren Namen sagte, erschreckte Julia mehr als der nicht zu entschlüsselnde Ausdruck auf seinem Gesicht. Über seine Schulter hinweg sah sie die Welt außerhalb des Autos als albtraumhaftes Kaleidoskop auf sie zustürzen. Ungewollt schoss ihr ein Gebet durch den Kopf. Ein Gebet zu einem Gott, an den sie zuletzt vor vielen Jahren als kleines Mädchen geglaubt hatte. Der verschmähte Gott ihrer Mutter. In einer flüchtigen Beschwörung, eher einem Wunsch, flehte Julia jemand Mächtigeren, als sie selbst es war, an, sie zu retten. Bitte mach, dass ich noch nicht aufgewacht bin. Lass mich immer noch träumen.
Das Auto fiel schneller. Es kippte ab, begann sich zu drehen.
Julia Chamberlain bemerkte nicht mehr, dass es ihrem Ehemann doch noch gelang, ihren Arm zu berühren. Ihr letzter Gedanke, bevor sie starb, galt dem Baby zu ihren Füßen.
Auch John Chamberlains letzter Gedanke galt den Kindern. Er hoffte, dass sie noch schliefen. Er wollte nicht, dass ihre letzten Augenblicke von Angst erfüllt waren. Vor allem aber sollten sie nicht merken, dass er sie im Stich gelassen hatte.
Wasser Felsen wirbelndes weißes Licht
der Wagen
fiel
fast wie
fi…
Oben auf dem Highway waren zwei verschmierte Reifenspuren im Schlamm, die in die so gut wie unberührte Wand aus Büschen und Bäumen führten, der einzige Beweis, dass die Chamberlains jemals dort gewesen waren. Bis zum Morgengrauen passierte kein anderes Auto die Straße. Da hatte der heftige Regen, der entgegen John Chamberlains Vorhersage im Restaurant doch vor Anbruch des Tages nachgelassen hatte, die Spuren bereits fortgespült. Es war ein Zaubertrick. Nach nur fünf Tagen in diesem Land hatte sich die Familie Chamberlain in Luft aufgelöst.
Es war der 4. April 1978.