Geschrieben am 15. Februar 2014 von für Crimemag, journaille. der zeitschriftencheck

Sociologus. Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie

Sociologus Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und EntnoVon Bürokraten in Uniform und Fernkompetenz

In „Sociologus“, der Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie, werden die staatlichen Gewaltspezialisten Westafrikas befeldforscht. Bruno Arich-Gerz hat sich durch Hardcore-Wissenschaft zum Thema „Gewalt“ gefräst – Erkenntnis gibt es nicht für lau.

Wenn sich ein deutsches Fachjournal nach zwölf Jahren der wissenschaftsbetrieblichen Gleichschaltung 1951 als Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie neugründet und dabei programmatisch anknüpft an die Zeit vor 1933, dann darf man schon mal stutzen. Was trieb die Zeitschrift mit dem Hausnamen Sociologus bitteschön in den Nazijahren? Die Antwort fällt unspektakulär aus: nichts. Es gab sie nicht. Die Lücke, die da klafft, war wirklich eine. Und auch die Zählung setzte 1951 neu ein.

Als Fortsetzung der von Richard Thurnwald 1925 begründeten „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie“ hat die von der Bayreuther Sozialanthropologin Erdmute Alber herausgegebene Zeitschrift damit heute 63 Jahrgänge auf dem Buckel. In ihr erscheinen Aufsatzbeiträge, die sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive und zumeist gestützt auf empirische Erhebungen mit mehr oder minder komplexen gesellschaftlichen Organisationsformen, ihren Austauschverhältnissen und Wandlungsprozessen befassen. Dabei nehmen die Beiträge in der Regel solche sozialen Kontexte in den Blick, die ihren Ort nicht in Europa oder gar Deutschland haben.

Ein Themenheft, zwei Ausreißer

Von Bürokraten in Uniform und Fernkompetenz_WestafrikaIm aktuellen Heft, einer knapp zweihundertseitigen Doppelausgabe aus dem abgelaufenen Jahr, ist dieser außerdeutsche Ort vornehmlich ein westafrikanischer: Bei sechs der insgesamt acht Beiträge handelt es sich nämlich um Ausarbeitungen von Vorträgen der Sektion „Bureaucrats in Uniform“ bei der European Conference on African Studies, die im Juni 2011 im schwedischen Uppsala stattfand. Die 2013er Ausgabe von „Sociologus“ ist also eigentlich ein Themenheft; die sechs Aufsätze sind in englischer Sprache verfasst, was dem Anspruch der Zeitschrift auf Rezeption in der weltweiten Scientific Community entspricht. Die anderen beiden Artikel sind auf Deutsch gehalten; auch ihren geografischen Fokus haben sie woanders.

Der emeritierte Hamburger Ethnologe Hans Fischer resümiert seine forscherische Sammel- und Jägerleidenschaft über die Herkunftserzählungen der Wampar auf Papua-Neuguinea: ein sehr lesenswerter, wenngleich in der Schlussfolgerung ein wenig binsenwahrer Abriss über „die zeitweilige Entstehung von Erzählungen“, aus der sich Anhaltspunkte „für sich wandelnde Konzepte der eigenen Geschichte“ (145) ableiten lassen. Und der Siegener Gewaltforscher Matthias Häußler lässt sich über die „Kultur der Grausamkeit“ kaiserdeutschstämmiger Siedler im südwestlichen Afrika (heute Namibia) am Vorabend, während und in der Folge des Genozids an den Herero aus. Trag- und ausbaufähig erscheint in der Studie vor allem das heuristische Konzept der „eradierenden Praktiken“, das Häußler umsichtig und ohne den oft zu beobachtenden Schaum vor dem Mund, wenn es um die Frage „Völkermord ja oder nein?“ geht, entwickelt. Eradierende Praktiken zielten auf die „Tilgung des Anderen [hier der indigenen Herero] ab, allerdings nicht im physischen Sinne“, sondern durch „Verletzung der Psyche des Opfers, um es als Subjekt zu tilgen oder als Person verschwinden zu machen“:

Demütigung, Gewalt und Willkür sollten den Unterlegenen auf drastische Weise ihre Ohnmacht vor Augen führen und ihnen jeden Gedanken an eine andere Zukunft und erst recht an Widerstand austreiben (158).

Hereros,  Ende 19. Jahrhundert

Hereros, Ende 19. Jahrhundert

Keineswegs uniform: Habitus in Büro und Feld

Von Südwestafrika zurück nach Westafrika. Unter Bürokraten in Uniform verstehen die beiden Gastherausgeber Giorgio Blundo und Joël Glasman staatliche oder staatlicherseits eingesetzte Akteure, denen das Recht zufällt, das Recht durchzusetzen. Der Job von Gendarmen und Zollbeamten, Polizisten, Förstern und Rangern besteht im (oder aus dem) „enforcing the law through the legal use of violence“ (1). Die Doppelbezeichnung „violence specialists“ und „state agents“ (3) bzw. „staatliche Gewaltspezialisten“ (123), wie es die Mainzer Ethnologen Jan Beek und Mirco Göpfert in ihrem facettenreichen Vergleich uniformierter Bürokraten aus Ghana und Niger nennen, besitzt dabei durchaus Erkenntniswert.

Allerdings wird nicht in allen der folgenden Fallstudien klar, was es Besonderes mit dem Junktim von Uniform und „Bürokratie“ auf sich hat. Am besten gelingt es noch in Julie Poppes Untersuchung bei Förstern und Rangern in einem Nationalpark in Burkina Faso. Hier zeigt sich, erstens, wie sehr das befugte Tragen einer Uniform als Distinktionsmerkmal zwischen Rangern und den höherrangigen Förstern (foresters) funktioniert: „the uniform matters“ (21), denn sie ist Ausdruck des symbolischen und materiellen Kapitals derjenigen, die sie anlegen. Die nicht verbeamteten Ranger tragen bisweilen sogar mit stillschweigender Duldung ihrer Vorgesetzten deren abgelegte Dienstkleidung auf. Was, zweitens, ein Grund dafür ist, sich als burkinischer Förster auf einen anderen kleinen, feinen Unterschied zu verlegen, um den Rang- und Standesunterschied zu verdeutlichen:

„While they themselves conduct the paper work (writing out permits for natural resource use, slaughter numbers and ecological reports), foresters outsorce the fieldwork to their pisteurs (rangers) most of the time. The division of paper versus fieldwork is for most of the foresters evident, because they consider themselves as ‚educated‘, ‚town people‘, in contrast to many of their clients and the rangers (20).“

Thomas CantensFeldforschung bei kamerunischen Zöllnern zeichnet dagegen ein anderes, ja gegenteiliges Bild. Uniformen gelten hier eher als Zeichen von Unterlegenheit („a sign of inferiority“, 40). Entsprechend spielen sie in den Ausführungen des französischen Sozialanthropologen über die – überaus bürokratisch anmutenden – Aushandlungspraktiken zwischen Custom Officers und „Nutzern“, also den ein- und ausführenden Wirtschaftspartnern, nicht wirklich eine Rolle.

Erkenntnismehrwerthaltige Nigeriaforschung

À propos „Rolle spielen“: Den Sinn, Zweck und Nutzen einer Disziplin wie den Ethnowissenschaften zu hinterfragen, ist nicht nur in akademiefernen Kreisen längst zum spaßigen Zeitvertreib geworden. Wird der besondere Mehrwert ethnologischen Schaffens doch einmal (an)erkannt, dann meistens (oder höchstens) als Hilfswissenschaft. Vor allem die sogenannten Area Studies, argumentierte man zum Beispiel seitens des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in einer Forschungsgeld-Ausschreibung aus dem Jahr 2011, seien als Dienstmagd-Disziplinen für Wachstum, Handel und das Erzielen eines noch krasseren Ungleichgewichts in der Außenhandelsbilanz unerlässlich:

„Mit ihrer Strategie zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung antwortet die Bundesregierung auf die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs an das Wissenschafts- und Innovationssystem in Deutschland. Dabei spielen die Regionalstudien (area studies) eine bedeutende Rolle. Für Erhalt und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Globalisierungsprozess ist es essentiell, dass die Fernkompetenz Deutschlands in Bezug auf verschiedene Weltregionen gezielt weiterentwickelt wird.“

(Bekanntmachung des BMBF zur Fortführung des Förderungsschwerpunkts Stärkung und Entwicklung der Regionalstudien, 12. Mai 2011).

Von einer solch wirtschafts-utilitaristischen Sicht auf ihr Feld distanzieren sich die betroffenen Wissenschaftler/innen gerne schon mal mit Recht, Entrüstung und Schärfe. Anders mag es aussehen, wenn es um das tiefere Verständnis von Hintergründen in Konfliktzonen in der großen weiten Welt geht. Hier steht wissenschaftsdeutsche Fernkompetenz nämlich nicht nur – und bestenfalls sogar: nicht primär – im Dienst von Wirtschaftswachstumsinteressen. Sondern sie liefert Anhaltspunkte zur genuin politischen und kulturverstehenden Bewertung.
Ein ziemlich gutes Beispiel dafür sind die beiden Aufsätze über die Polizeikräfte im islamisch geprägten Norden Nigerias. In der Bevölkerung hat die Nigerian Police Force (NPF) ein eher schlechtes Image: Oliver Owens emischer Ansatz versucht dies durch die Rekonstruktion des umgekehrten Blicks – der von leitenden Polizeibeamten auf „the public“ – zu ergänzen und relativieren (71). Hinzu kommt, dass die Uniformträger der NPF nicht die einzigen legitimierten Gewaltspezialisten in der Gegend sind. Die Herausforderung als professioneller Polizeibeamter in der Dreimillionen-Metropole Kano bestehe zum Beispiel darin, „auf konkurrierende Ordnungsinstitutionen wie traditionelle Autoritäten, Bürgerwehr und islamische Wache“ (Alice Hills, 102) zu reagieren. Dass und wie ein „Managing the Interface“ (94) meistens gelingt, manchmal aber auch misslingt, zeigen wunderbar die als Vignetten eingeflochtenen Fallstudien.

Präsentiert wird von Owens und vor allem Hills somit ein Einblick, der umso wichtiger wird, je länger der rücksichtslose Terror der radikalislamistischen Boko Haram anhält und, wer weiß, eines Tages hiesige Entscheidungsträger/innen zum Eingreifen verleitet. Denn eine wie auch immer geartete Intervention – sei es mit Hilfe von Stiftungsgeldern, Friedenstauben oder international bestelltem Ordnungspersonal – profitiert von diesem Wissen. Oder andersherum formuliert: wer meint, ohne Wissen um die fragile Balance zwischen staatlicherseits beauftragten und (auch) religiös motivierten Gewaltspezialisten in die nordnigerianische Wirklichkeit von heute eingreifen zu können, fängt sich zuallererst eines ein: Akzeptanzprobleme und mangelnde Kooperationsbereitschaft vor Ort.

Fazit

Die Bedeutung sozialwissenschaftlich-ethnologischer Forschung in den nichteuropäischen Regionen der Welt sollte auch ohne diesen – absichtlich ein wenig (herbei)konstruierten – Modellfall klar sein. Sociologus ist im deutschen Sprachraum für Forschungen dieser Art eine Premium-Plattform, und auch Heft 63 weiß das zu untermauern. Im Englischen sollte man allerdings trittfest sein, und auch ein kleiner Hang zur Detailverliebtheit sowie eine gewisse Leidenschaft für den Alltag der Förster und Zollbeamten dieser Welt wären nicht falsch, wenn man sich den Aufsätzen widmet. Denn bisweilen gehen die Autor/innen sehr in die Tiefe.

Ach so: Beeindruckend ist der fünfzehnseitige Besprechungsteil am Ende. Er besticht mit fachlich exquisiten, dabei sehr ausführlichen und immer unzweideutigen Rezensionen von Publikationen über so unterschiedliche Themen wie den Alltag philippinischer Migrationsarbeiter/innen in Israel, das Milieu von Artisten und Zirkusleuten oder den schweren Stand, den die Rede von Gemeinsamkeiten und „Universalien“ in Zeiten von Kulturrelativismus und der Betonung des Partikularen (und regional Besonderen) in der Ethnologie hat.

Bruno Arich-Gerz

Sociologus. Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie. Herausgegeben von Erdmute Alber; Gastherausgeber Giorgio Blundo und Joël Glasman. 63. Jahrgang, Heft 1/2 2013. Berlin: Duncker & Humblot. ISSN: 0038-0377 (Printausgabe), 1865-5106 (Online-Ausgabe). Link zur Zeitschrift.

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