Gehört Netflix bald die Welt?
Von Claudia Schwartz
Die Bösen brauchten jedes Mal Glück, den Guten reiche es, einmal Glück zu haben, sagt Steve Murphy, der Ich-Erzähler und DEA-Agent in der Kultserie «Narcos». Jeder andere amerikanische Fernsehsender hätte eine Serie über die Jagd nach dem Drogenkönig Pablo Escobar auf Englisch gedreht. In der Originalversion sagt Murphy den Satz auf Spanisch. Bei der ersten Staffel von «Narcos» (2015) habe man gehofft, dass die Produktion in Lateinamerika und in den USA gut ankommen werde, erinnert sich Cindy Holland. «Narcos» ging dann gleich um die Welt.

Cindy Holland
Holland entscheidet bei Netflix, welche Eigenproduktionen realisiert werden. Sie kam vor fünfzehn Jahren ins Unternehmen, als die Mitarbeiter im Nebenzimmer noch DVDs für den Postversand an die Kunden verpackten. Im laufenden Jahr investiert Netflix acht Milliarden Dollar in Serien und Filme; Cindy Holland hat derzeit einen der mächtigsten Jobs im Filmbusiness. Nach dem Netflix-Erfolgsrezept gefragt, sagt sie lapidar, eigentlich mache sie nichts anderes als beim Online-Versand. Sie suche bei neuen Projekten nach Authentizität, Leidenschaft, nach dem mitreissendsten Content für ein weltweites Publikum. «Sounds simpel, is hard.»
Und es funktioniert. Zu Beginn des Jahres 2015, in dem «Narcos» herauskam, hatte Netflix rund 60 Millionen Kunden. Ein paar Monate später waren es 75 Millionen Abonnenten. Ein Manager des TV-Senders NBC kommentierte die Entwicklung damals mit den Worten, Streaming-Dienste würden überschätzt, bald würden alle, «wie Gott es vorgesehen hat», wieder zum klassischen linearen Fernsehen zurückkehren. Netflix ging dann aber Gott sei Dank nicht einfach wieder weg, sondern erreicht heute im Gegenteil 125 Millionen Haushalte in 190 Ländern und damit rund 300 Millionen Nutzer.
So wurde die amerikanische Tellerwäschergeschichte in Zeiten digitaler Disruption neu geschrieben von ein paar Filmfreaks, die ihren Online-Videoversand vor rund zehn Jahren in eine Streaming-Plattform verwandelten – und mittlerweile zu den grössten Filmproduzenten gehören. Netflix hat mit 25 eigenen Projekten allein im ersten Quartal 2018 bereits so viele Produktionen herausgebracht wie im letzten Jahr insgesamt. Die sechs grossen Filmstudios (Disney, Fox, Paramount, Sony, Warner, Universal) bekommen das zusammen gerade noch so hin.
Netflix (ein Zusammenzug von «net» und «flicks», umgangssprachlich für Filme) stieg auf wie ein Phönix aus der Asche. Globalisierung heisst Gelegenheit – nach diesem Prinzip erobert Netflix die TV-Welt. 55 eigene Produktionen entstehen derzeit, darunter sieben neue europäische Serien. Wirtschaftsanalysten betrachten den Aufstieg mit ungläubigem Staunen, schaudern ob der zunehmende Schuldenlast. Bloomberg sprach letzthin von einer «historischen Entwicklung» angesichts der wachsenden Kundenzahl bei gleichzeitig erhöhten Preisen. Im Jahr fünf nach dem ersten Coup mit «House of Cards» scheint nun auch die Konkurrenz aufgeschreckt: Disney und Fox bauen eigene Streaming-Dienste auf, Facebook und Apple wollen gross in eigene TV-Shows investieren.
Ausrutscher sind erstaunlich selten
Macht das die Leute von Netflix nervös? Das Wichtigste sei guter Content, sagt Co-Gründer und Geschäftsführer Reed Hastings. Dazu hat man mit Ryan Murphy (Schöpfer von «American Crime Story») und Shonda Rhimes («Grey’s Anatomy») jüngst nochmals zwei erfolgreiche Kreative an Bord geholt. Netflix macht sich nach dem Prinzip Nische statt Masse unentbehrlich. «Lilyhammer» war ein Signal fürs Arthouse-Publikum; mit «House of Cards» überzeugte man jene Intellektuellen, die dachten, das Fernsehen trage nur zur Verblödung bei; die Frauenknast-Sause «Orange is the New Black» liess eine ganze TV-Ära verzweifelter Haus- und Ehefrauen hinter sich; mit «Making a Murderer» lockte man die Fans von True Crime an.
Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Netflix und althergebrachten Sendern. Während deren Produktionen immer ein möglichst breites Publikum generationengerecht bedienen müssen, bietet Netflix zu jeder Zeit für jeden Geschmack ein Programm. Selbst noch jene, die sich für «damaged individuals» interessieren, also Geschichten über beschädigte Individuen lieben, werden hier als «taste community» ernst genommen. Und trotz dem enormen Output muss man sagen, dass jämmerliche qualitative Ausrutscher wie die Serien «Marco Polo» oder «Gypsy» erstaunlich selten sind.
Gutes Storytelling ist grenzüberschreitend, sagt man sich bei Netflix und sucht überall nach der universalen Geschichte. «Dark», die für Deutschland produzierte Serie, ist auch in den USA ein Hit.
Mit «The English Game» über die Erfindung des Fussballs und der Klassengesellschaft sendet Netflix (unter der Ägide des «Downton Abbey»-Schöpfers Julian Fellowes) schon bald wieder eine Serie aus Grossbritannien in die Welt. Die Lehre nach «Narcos», wonach Projekte mit lokalem Charakter globale Durchschlagskraft haben, und die Idee eines möglichst vielfältigen Angebots sind längst zum geopolitischen Move verschmolzen.
Den interessantesten personellen Neuzugang im Führungsteam stellt Susan Rice dar. Nachdem das mit Europa so gut funktioniert hat, will Netflix nun in den Mittleren Osten und Afrika vorstossen. Rice, ehemalige Sicherheitsberaterin unter Obama und US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, wisse «viel über viele Länder», sagt Hastings; in politisch instabileren Regionen sei das von Vorteil.
Auch Agnieszka Holland hat man engagiert. Die Grande Dame der polnischen Regiekunst erklärt dazu, dass die Arbeit mit Netflix sie inspiriere, die eigene Identität zu überdenken. Man kann das natürlich so oder so auslegen. Aber man sollte die Ambitionen von Netflix nicht unterschätzen. Während «House of Cards» noch in 7 Synchronfassungen gestartet wurde, kam «Lost in Space» kürzlich in 26 Sprachen heraus.
Das Publikum abholen, wo es ist
Netflix ist seit dem Einstieg ins Streaming- und Filmgeschäft auf Erfolgskurs; das Unternehmen trug zur Entwicklung des neuen Fernsehens bei, der aufsehenerregendsten kulturellen Erscheinung der letzten Dekade. Aber für jede wohlüberlegte Strategie braucht es Glück. Und wenn sich das Glück wie hier so oft wiederholt? Dann sehen viele plötzlich das Böse aufsteigen.
Moralisten sagen, Netflix wolle die Filmkunst aus dem Kino entfernen, die Aura des Kinos zerstören. Aber im «Cinema Paradiso» sind längst Horden von Popcorn mampfenden Cineplex-Besuchern eingefallen. Und auch beim Streit in Cannes, wo man mit einer Spezialklausel und viel französischem Kulturchauvinismus Netflix ausgrenzt, hat man zunehmend das Gefühl, es gehe mehr um die Sicherstellung von Pfründen als um die Filmkunst.
Fünf vielversprechende Filme werden nächste Woche am Filmfestival in Cannes nicht dabei sein, weil sie unter der Ägide von Netflix stehen, unter anderem Alfonso Cuaróns «Roma», Paul Greengrass’ «Norway» und Orson Welles’ «The Other Side of the Wind». Vielleicht werden diese Filme später an einem anderen Festival gezeigt, vielleicht werden sie nur bei Netflix zu sehen sein. Nachdem der von Orson Welles abgedrehte, aber durch den Tod des Regisseurs nicht fertiggestellte Film zum Kollateralschaden wurde, ist der Streit lauter geworden.
Ob das nun der Bruch mit Cannes sei, will man von Ted Sarandos wissen. Der verneint. Man stehe natürlich weiter im Dialog mit den Festivalverantwortlichen. «Die werden kommen, Sie werden sehen», sagt der Netflix-Mitbegründer und Content-Chief. Laut Sarandos haben die neun dieses Jahr für den Oscar nominierten Filme der Hauptkategorie, alle Vorführungen zusammengezählt, bis anhin 635 Millionen leere Kinositze generiert. Das Publikum sei nicht dort, und die Kinoauswertung dauere einfach zu lang, so Sarandos. «Wir von Netflix sind für die Kinokunst», sagt er. Netflix habe im vergangenen Jahr 33 Filme in Kinos lanciert, mehr als jedes andere Filmstudio.
Was wird aus Scorseses «The Irishman»?
«Cannes hat die Distribution vor die Kinokunst gestellt», sagt Sarandos. Es ist ein bisschen wie die Geschichte vom Hasen und vom Igel. So schnell können die in Cannes gar nicht hinschauen, wie sich hier grade die Filmwelt dreht.
Gerüchte, wonach Netflix dabei ist, Kinos in L. A. zu kaufen, dementiert Sarandos mit den Worten, das sei nicht ihr Business. Netflix hole das Publikum dort ab, wo es Filme am liebsten anschaue: vor dem eigenen Bildschirm.
Ach, ja: Martin Scorsese hat die Dreharbeiten zu seinem Mafiathriller «The Irishman» beendet, für den er acht Jahre vergeblich ein Filmstudio suchte, weil das Projekt allen zu riskant war. Netflix ist eingesprungen. Der Film versammelt mit Robert De Niro, Al Pacino, Harvey Keitel und Joe Pesci so ziemlich alles, was einst grosses amerikanisches Kino bedeutete. Auf der Leinwand, auf dem Bildschirm? We’ll see.
Dieser Text von Claudia Schwartz erschien zuerst in der Neuen Züricher Zeitung. Mit freundlichem Dank an Autorin und Verlag.

Dreharbeiten: «The Irishman»