
Jene Zeit in all ihren Facetten nah vor Augen
Krieg herrscht. Die deutsche Wehrmacht hält mehrere Länder besetzt – so auch Norwegen seit dem Überfall am 9. April 1940. Verrat, Stiefelgetrampel, Not und Armut gehören zum Alltag. Carl, Olav und Roar wachsen gemeinsam im selben Viertel Oslos auf. Damit ihre Familien über die Runden kommen, überschreiten sie moralische Grenzen: Sie stehlen, brechen in Häuser und Firmen ein, arbeiten für die Deutschen. Der norwegische Schriftsteller Roy Jacobsen wendet sich in seinem neuesten Roman „Die Unwürdigen“ einer nahezu vergessenen Generation zu – den Kindern und Jugendlichen, die allzu schnell erwachsen werden mussten.
Alle drei Jugendliche stammen aus Arbeiterfamilien, die auf engstem Raum leben müssen. Das Geld ist knapp, und mitunter sind die Eltern einfach mal weg, aus den unterschiedlichsten Gründen, manche für eine gewisse Zeit, manche jedoch für immer. So wird Carls Vater eines Tages tot aufgefunden, ist Olavs Vater plötzlich verschwunden. Dass beide dem Widerstand angehört haben, werden ihre Söhne erst später erfahren. Die Welt der Erwachsenen ist für die Jugendlichen voller Rätsel, viele Ereignisse sind für sie nicht erklärbar. Sie lernen früh, Verantwortung zu übernehmen, unter anderem auch für die jüngeren Geschwister zu sorgen. Mit Diebstählen, Einbrüchen und Jobs, selbst beim Feind, verdienen sie Geld, das der Familie zugutekommt. Einnahmen, die die Eltern nie hinterfragen, Gefahren, vor denen sie die Kinder nicht warnen. Roars Vater ertränkt seine Hilflosigkeit in Alkohol.
Voller Bedrohung und Unsicherheiten ist diese Zeit des permanenten Ausnahmezustands. Einen geregelten Schulbesuch kennen die Jungen und Mädchen kaum, obwohl Carl, Olav und Roar Talente und Ambitionen haben. Ein beliebter Lehrer wird denunziert und mehrfach inhaftiert. Eine Schule wird zur Kaserne. Was zu Beginn des Romans auf den ersten Blick spielerisch erscheint – die jugendlichen Helden reparieren ein „gefundenes“ Fahrrad, um es zu verkaufen -, nimmt Kapitel für Kapitel beklemmende Züge an. Die drei Jungen geraten in die Mühlen von Widerstand und Wehrmacht, haben es mit windigen Schwarzmarkt-Händlern zu tun, die es auf ihre kostbare Beute abgesehen haben.
Jacobsen, 1954 in Oslo geboren und damit auch „Kind“ dieser Stadt, zählt zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. Seine Bücher begleiten mich schon seit Jahren. Sein vielseitiges Schaffen – er debütierte 1982 mit einer Novellen-Sammlung, verfasste auch Erzählungen und ein Kinderbuch – wurde vielfach preisgekrönt. Zuletzt erhielt er im September dieses Jahres den königlichen St. Olavs Orden für besondere Verdienste verliehen. In Deutschland erschienen zuletzt die Insel-Saga „Die Unsichtbaren“ über Bewohner einer fiktiven norwegischen Insel als komplette Ausgabe sowie der Nachfolge-Band „Die Kinder von Barrøy“. Für die Insel-Saga in englischer Übersetzung stand Jacobsen auf der Shortlist des renommierten Man Booker Prize. Dass nun sein neuester Roman, im Original erst im vergangenen Jahr erschienen, nun bereits als deutsche Ausgabe erhältlich ist, zeigt wohl auch sein wachsendes Ansehen hierzulande.
Die Romane des Norwegers, der zweifellos als Chronist der jüngeren norwegischen Geschichte gelten kann, sind eher stillerer Natur trotz einer meist besonderen historischen Kulisse. Ihre emotionale Wirkung entfalten sie, weil Jacobsen das Leben der oftmals leidgeprüften Protagonisten auf spezielle Weise erzählt. Seine Empathie für seine Helden, die Herausforderungen der unterschiedlichsten Art meistern müssen, ist groß. Eine faszinierende Nähe entsteht. Hier sind es nun die Kinder, die einer politischen wie gesellschaftlichen Extremsituation ausgeliefert sind, Krieg und Besatzung nicht schadlos überstehen. Nur zwei der drei werden diese schrecklichen Jahre überleben. Einer wird brutal aus dem Leben gerissen, einer wegen eines dramatischen Fehlers seine Freiheit verlieren.
Jacobsen spannt die Zeit bis in die Nachkriegsjahre, schildert, welche Folgen die Besatzung auf die norwegische Bevölkerung hatte. In einer Szene wird auch die Verfolgung, Drangsalierung und Gewalt an einem „Deutschmädchen“, einer Frau, die eine Beziehung mit einem Wehrmachtssoldaten eingegangen ist, rigoros beschrieben. Im Epilog – Carl ist bereits betagt, seine Frau verstorben, sein Sohn ein Historiker – wird der Gewerkschafter und Politiker Konrad Nordahl (1897-1975) erwähnt, der in seinen Memoiren schrieb, dass zehn Prozent der norwegischen Bevölkerung Widerstand geleistet, zehn Prozent mit den Deutschen kollaboriert und 80 Prozent den Geschehnissen gleichgültig gegenübergestanden haben.
„Die Unwürdigen“ zeigt diese verschiedenen Haltungen anhand seiner vielschichtigen und zahlreichen Romanfiguren auf. Ein Buch, das jene Zeit in all ihren Facetten und dem Leser ganz nah vor Augen führt sowie dramatisch und ergreifend sowohl über eine verschworene Gemeinschaft als auch ihre Einzelschicksale eindrücklich erzählt. Man wird am Ende der Lektüre einiges über diese dunklen Jahre gelernt haben – und die Geschichte von Carl, Olav und Roar, ihrer Freunde und Geschwister, so schnell nicht vergessen, die stellvertretend für viele Kriegskinder stehen kann.
Roy Jacobsen: Die Unwürdigen (De uverdige, 2022). Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann. C.H. Beck, München 2023. 331 Seiten, mit 1 Karte, 26 Euro.
Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.