Zwei Schrifstellerinnen schreiben zusammen einen Roman. Das ist nicht unbedingt etwas Neues. Die eine ist Spanierin, die andere ist Deutsche. Da wird’s schon ungewöhnlicher. Und dann wird der Roman auch noch zweisprachig – ab da wird’s richtig spannend. Über den Prozess des Schreibens und Übersetzens mit allen möglichen Implikationen, Problemen und Chancen, über ein Projekt mit open end auf jeden Fall – der Roman hat bis jetzt noch nicht einmal einen Namen – führen die beiden Autorinnen ein Arbeitsjournal. CrimeMag freut sich, das Projekt begleiten zu dürfen und präsentiert die deutsche Fassung. Heute der vierte Teil des Arbeitsjournals von Sabine Hofmann und Rosa Ribas.
Stimmen/Voces
Gewiss, es gibt Bücher, die über die fünfziger Jahre berichten – Romane, Memoiren, Geschichtsbücher, populärwissenschaftlich und fachhistorisch. Recht viele haben wir gelesen, wenn auch längst nicht alle.
Und dann gibt es noch die Geschichten, die uns erzählt worden sind. Es sind Geschichten, die vom Alltagsleben dieser Zeit handeln oder in denen Freunde, Verwandte oder Bekannte sich an Ereignisse erinnern, die sich in den Geschichtsbüchern wiederfinden.
Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, waren in den fünfziger Jahren Kinder oder junge Erwachsene. Meistens haben sie erzählt. Mitunter haben wir sie nach bestimmten Dingen gefragt, fast immer haben wir Antworten bekommen, ein paar Mal gab es Schweigen oder Ausweichen.
Einiges von dem, was wir gehört haben, ist in den Roman eingeflossen. Was, werden wir natürlich nicht verraten. Stattdessen lassen wir heute einige unserer Gesprächspartner zu Wort kommen.
Damals
“Früher war es nicht besser und nicht schlechter. Du konntest nicht vergleichen, weil du nichts anderes kanntest. Außerdem hat man nicht sehr viel mitbekommen.” (J.R., geb. 1941)
Hungerjahre
„Damals, als wir alle Hunger hatten, war vieles anders. Denk an die C.. Für ein Abendessen ist sie mit jedem ins Bett gegangen. Danach ist sie eine von diesen frommen Kirchgängerinnen geworden, eine von der allerschlimmsten Sorte. Damals hat man die Dinge eben anders gesehen.“ (M.M., geb. 1943)
Straßenbahnboykott in Barcelona 1951
“Der F. war das Milchpulver für das Baby ausgegangen. Und weil sie selber nicht genug Milch hatte, musste sie in die Stadt fahren. Natürlich mit der Straßenbahn. Kein Mensch hatte damals ein Auto. Während des Streiks wurden die Straßenbahnen, in den noch Leute fuhren, mit Steinen beworfen. Also hat sich die F., dick wie sie war, auf den Boden der Straßenbahn gelegt. Da lag sie dann, bis zur Apotheke und wieder zurück.” (M.M., geb. 1943)
Baracken in Barcelona
“In den Siedlungen lebten Menschen, die aus den Dörfern in Andalusien oder in Badajoz gekommen waren. Arm waren sie schon immer, aber nach dem Bürgerkrieg waren sie noch ärmer. Sie kamen nach Barcelona, weil sie Hunger hatten und weil es ihnen zu Hause elend ging. Aber selbst in den ärmsten Vierteln bemühten sich die Leute, eine gewisse Würde zu wahren. Sie zogen sich so gut und so sauber an, wie sie konnten. Die Männer trugen ein Jackett, wenn sie eins hatten. Das ist etwas, das mir sehr aufgefallen ist, dieses Bedürfnis, die Würde zu wahren, auch wenn sie in den Barackensiedlungen lebten.” (I.R., geb. 1941)
Universität
“In der Universität war es genauso wie heute. Wenn ein missgünstiger Professor sah, dass es einen Jüngeren gab, der besser war als er, versuchte er zu verhindern, dass der Jüngere irgendwo einen Lehrstuhl bekam. Das ging so: Er zitierte ihn nicht, erwähnte seine Veröffentlichungen nicht. Also kein direkter Angriff, sondern ein gezieltes Ignorieren. Wenn sie dich nicht zitieren, existierst du nicht. “ (I.R. geb. 1941)
Bordelle
„In dem Stadtviertel gab es einen Puff, der auf das erste Mal spezialisiert war. Sie hatten dort eine aus Teneriffa, die das immer machte. Sie hat quasi alle jungen Männer der Stadt entjungfert. Weißt du, die Söhne aus den guten katalanischen Familien. Leider hatte sie irgendeine Geschlechtskrankheit. Und alle haben sich bei ihr angesteckt. Also sind sie in die Praxis des kleinen Doktor C. gegangen, der ihnen ein Mittel gegeben hat. Das Mittel hatte eine Nebenwirkung: Die Jungen sind alle mehr gewachsen als normal. Du kannst es immer noch sehen. Alle, die jetzt in den Siebzigern sind und besonders groß, die waren bei der aus Teneriffa.“ (C.R., geb. 1939)
Schreiber
„Du meinst die Stände der Schreiber? Ja, die gab es bis vor einigen Jahren noch. Dort gingen die Leute hin, die nicht schreiben oder lesen konnten, um sich ihre Briefe schreiben zu lassen. Oder um sich die Briefe vorlesen zu lassen, die sie von ihrer Familie bekamen.
Damals gab es viel Unwissenheit. In jeder Hinsicht. Aber jetzt meine ich die Analphabeten. Wo die Schreiber ihre Stände hatten? Nahe bei der Boquería – Sabine, das ist die Markthalle bei den Ramblas –, nicht weit von der Plaza de la Garduña.“ (G.I, geb. 1940)
Auf Zuwachs
„Deine Kleidung hast du dir selbst genäht. Du oder deine Mutter. Die Kindersachen waren immer auf Zuwachs, sie hatten riesige Säume, die man rauslassen konnte, wenn die Kinder gewachsen waren. Und dann hatten wir immer Kniffe, um ein altes Stück schick und modern zu machen. Naja, was wir damals für schick und modern hielten. (A. M., geb. 1939)
Die Schuhe waren steinhart. Du musstest sie regelrecht weichlaufen. Und manchmal hattest du nicht genug Geld für die Straßenbahn, da musstest du sowieso laufen.“ (R. T., geb. 1944)
Kirche
„In der Schule wurde gebetet, am Anfang des Unterrichts, in der Mittagspause, am Ende des Unterrichts. Jeden Sonntag musste man zur Kirche gehen. Sie haben immer kontrolliert, ob jemand gefehlt hat. Einmal in der Woche musste man zur Beichte. Ab einem gewissen Alter fing der Priester an, dich zu fragen, ob du dich berührt hast. Am Anfang habe ich nicht verstanden, was er wissen wollte, aber dann war mir irgendwann die Sache klar. Nicht, weil meine Eltern es mir erklärt hätten, sondern weil meine Freunde es besser wussten. In dieser Hinsicht waren wir vollkommen unwissend.“ (C.R., geb. 1946)
Sich amüsieren
„Klar, wir haben uns auch amüsiert. In den Kinos gab es am Sonntagnachmittag Doppel-Vorstellungen. Zwischen zwei Filmen zeigten sie kleine Showeinlagen: Zauberer, Jongleure oder irgendetwas mit Tieren. Natürlich keine Tiger oder Löwen, sondern Hunde oder Kaninchen. Sie waren nicht schlecht, aber natürlich hat alles seine Grenzen.“ (J.R., geb. 1941)
Radio
„Ganz wichtig war das Radio. Es gab Sprecher, die einfach phänomenal waren. Das Radio war den ganzen Tag an. Wenn die Serien liefen, waren die Straßen leergefegt. Ich erinnere mich an eine Nachbarin, die jedes Mal Rotz und Wasser heulte. Die Ratgebersendungen waren auch sehr beliebt. Sie waren erzkonservativ, aber manchmal haben sie wohl den Leuten geholfen, die niemanden hatten, an den sie sich wenden konnten: Mädchen, die von ihrem Freund geschwängert und dann sitzengelassen worden waren. Manchmal war die Sache weniger dramatisch, beispielsweise Frauen, die sich fragten, ob sie einen Schnurrbart bekommen würden, wenn sie sich die Haare über der Oberlippe abrasierten.“ (E. V., geb. 1942)
Rosa Ribas/Sabine Hofmann
Für das Titel-Foto haben wir Gustavo Pérez-Rodríguez Terminel zu danken.
Zur Homepage von Rosa Ribas. Zur spanischen Fassung: Illegir en cas d’incendi.