Geschrieben am 1. November 2022 von für Crimemag, CrimeMag November 2022

Rolf Barkowski beim Mr. Mastermind des Blues-Journalismus

Wer in Mississippi unterwegs ist, kommt an dem Namen Scott Barretta  nicht vorbei. Allgegenwärtig begegnet man ihm. Wer ist Scott Barretta? – Ich hatte jetzt im Oktober die Gelegenheit, Scott Barretta zu treffen und zu  interviewen.

Hallo Scott. Bitte stell dich vor.

Mein Name ist Scott Barretta.
Seit 2006 erarbeite und schreibe ich Texte, recherchiere Themen für die Schilder des Mississippi Blues Trail.
Der Mississippi Blues Trail ist eine Serie von Tafeln verteilt über ganz Mississippi. Von 2006 bis heute haben wir 211 Tafeln aufgestellt. Die meisten stehen in Mississippi, aber auch in anderen Bundesstaaten sowie in Chicago, Los Angeles oder New York. International in Norwegen, Frankreich und England.
Das Blues Trail Projekt wurde geschaffen, um den Besuchern, den Bluesliebhabern eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben. Mississippi hat eine wichtige Geschichte, ein großes Vermächtnis bezogen auf den Blues. Die Besucher wissen, dass Mississippi die Heimat des Blues ist es.
Sie kennen die Namen der großartigen Musiker wie Robert Johnson, Memphis Minnie, Sun House etc. Trotzdem ist es oft für sie schwierig, zentrale Orte zu finden, sich in Mississippi zu orientieren. Wo hat sich was wann und wie ereignet, welche Rolle spielt welcher Ort in der Bluesgeschichte? Darauf geben die Schilder mit ausführlichen Informationen zu Themen wie Geburtsstätten, Juke Joints, Bars, Friedhöfen etc. eine Antwort. Ergänzt durch Fotos ergibt sich so für den Besucher eine Sammlung von originären Schauplätzen, denen er je nach Interesse folgen kann und die ihn durch Mississippi führen.

Wann wurdest du geboren?

Ich bin Jahrgang 1965. Als 15- oder 16-jähriger bin ich in den späten Siebziger bzw. Anfang der Achtziger Jahre zur Musik gekommen.
Musik, das hieß Blues ebenso wie Punk, Country Music oder Blue Grass. Ausgelöst wurde dieses Interesse durch das Hören der britischen Bands wie zum Beispiel den Rolling Stones.Wobei ich der Meinung bin, da war mehr Rock ’n‘ Roll als Blues. Zum Blues-Fan wurde ich durch das Hören der Alben von John Lee Hooker und Lightnin` Hopkins.
Wenn du nur einmal die Musik von Lightnin` Hopkins gehört hast, weißt du, dass im ganzen Rock ’n‘ Roll nichts so klingt wie diese Musik. Das löste meine Faszination für den Blues aus.
Ich komme aus Virginia, aus der Washington D.C. Area, Dort gab es eine Menge Livemusik. Washington, D.C. – eine große Stadt, internationales Publikum, der Kongress, Museen, Festivals – jede Menge Chancen Live-Auftritte von Bluesmusikern zu sehen und zu hören. Als 16-jähriger  begann ich, Clubs zu besuchen und hatte die Chance, Musiker wie Johnny Lee Hooker, Willie Dixon oder lokale Bluesgrößen wie z.B. John Jackson live zu sehen. Ich habe jede Gelegenheit genutzt. Viermal in der Woche war ich unterwegs. Viel Livemusik gehört, Platten gesammelt. Aber eigentlich nicht mehr als das.
Das änderte sich erst, als ich nach meinem Hochschulabschluss nach Europa ging. Schon am zweiten Tag habe ich in Belgien eine Schwedin kennengelernt. Meine zukünftige Frau. Mein Doktorstudium führte mich an die Universität Lund in Schweden. Während meines Studiums in Amerika hatte ich politische Soziologie studiert und zum Thema Obdachlosigkeit gearbeitet. Doch ich war dieses Thema leid und wollte gerne etwas Neues machen. Ich hatte an der Universität in Virginia schon angefangen, über Blues zu forschen und der Doktorvater in Schweden ermutigte mich, gerade zu diesem Thema weiterzuarbeiten. Das war 1992. Ich habe also mein Doktorandenstudium in Schweden weitergeführt und zum Thema „Rezeption des Blues durch das weiße Publikum“ gearbeitet.

Hinzu kam, dass ich 1995 quasi über Nacht zum Herausgeber der schwedischen Blueszeitung „Jefferson“ wurde. Ich hatte schon Kontakt zu den Mitarbeitern des Magazins und als ich mich bei einer Gelegenheit erklärte auszuhelfen, bekam ich den Schlüssel zum Büro und gesagt: „Du bist jetzt der Herausgeber des Magazins.“ Ich spreche die schwedische Sprache gut und arbeitete also als Herausgeber. Selbst habe ich keine Beiträge geschrieben. Meine Arbeit als Herausgeber bestand darin, das Magazin zu formen, Beiträge zu sortieren etc. Von 1992 bis 1999 habe ich acht Jahre in Schweden gelebt.

Ich hatte nicht unbedingt vor, nach Amerika zurückzugehen. Zwar war ich im Rahmen meiner akademischen Arbeit über Blues zu Forschungszwecken oft in den USA, fühlte mich aber eigentlich wohl in Schweden. In den frühen Neunzigern habe ich bei einem meiner Besuche in Mississippi David Nelson – damals Herausgeber vom „Living Blues Magazin“ –  kennengelernt. Wir wurden gute Freunde. David wollte sich zur Ruhe setzten und machte mir das Angebot, den Posten als Herausgeber von „Living Blues“ zu übernehmen. 
Dieses Angebot war einfach zu gut, um es abzulehnen.
So kam ich 1999 zurück in die Staaten nach Mississippi und übernahm das Magazin.

„Living Blues“ wurde 1970 in Chicago gegründet, als sich lokale Bluesfreunde zusammentaten. Die fanden es merkwürdig, dass man – wenn man etwas über den Blues in Amerika lesen oder hören wollte – ein englisches Blues-Magazin wie „Blues Unimited“ oder „Bluesworld“ abonniert haben musste. Also gründeten sie ihr eigenes Magazin: „Living Blues“.
1983 wurde das Magazin von der Universität von Mississippi übernommen, um das Überleben der Zeitschrift zu gewährleisten. Hinzu kam, dass die Fakultät „Center for the Study of Southern Culture“ (gegründet Mitte der Siebziger Jahre an der Uni Mississippi in Oxford) seitdem zu dem Platz schlechthin geworden war, Musik und vor allem den Blues zu studieren.

Ich habe einige Jahre als Herausgeber in Oxford gelebt und an der Uni Soziologie unterrichtet. Akademiker und Herausgeber – eine wunderbare Kombination. Bis heute gebe ich Seminare zum Thema „Anthropology of Blues Culture“ und zum Thema ‚Musik’. Ich moderiere eine Radioshow einmal wöchentlich samstags mit dem Namen „Highway 61“ und arbeite für den Staat Mississippi. Ich bin Mitherausgeber des Buches „Mississippi: State Of The Blues“ in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Ken Murphy, schreibe Artikel für „Living Blues“. Für die aktuelle Ausgabe zum Beispiel den Beitrag über den Musiker Mister Sipp. Ich moderiere Gesprächsrunden und Informationsveranstaltungen zum Thema Blues. Oder wie heute: Ich bin nach Memphis gefahren zu den Royal Studios (wo schon Al Green, Chuck Berry aufgenommen haben) und war bei Aufnahmen von Cedric Burnside dabei. Die Food Conference hat Cedric beauftragt, einige Songs zum Thema  „Essen“ zu schreiben und aufzunehmen. Ich habe ein paar Fotos gemacht und Gespräche geführt für eine eventuell kommende Moderation zu diesem Thema.

Tourismus und Blues. Was glaubst du: Braucht der Blues den Tourismus?

Ich glaube ja. Da kommen wir zum Thema Blues Trail zurück. Die Bluesliebhaber kennen in der Regel Memphis und New Orleans. Beide Städte brauchen den Tourismus und leben davon. Besonders New Orleans. Ohne den Tourismus läuft da gar nichts. Memphis hat immerhin noch FeedEx (Memphis ist der zentrale Standort für FedEx, das Transport-Zentrum für die gesamte USA). Genauso wichtig ist Elvis. Elvis spült jedes Jahr Millionen von Besuchern und Millionen von Dollars nach Memphis. Geld, mit dem Stax und die Beale Street wieder aufgebaut wurden. Mississipp liegt  zwischen Memphis und New Orleans und war ein bißchen spät dran, was das  Thema Tourismus anging. Wie bekommen wir die Besucher ins Delta war die Frage.

Ab dem Jahr 2000 gab es einen richtigen Pusch und jede Menge  Bestrebungen, den Blues Tourismus zu unterstützen. 2003: Der Kongress erklärte das Jahr zum „Year of the Blues“. Einer der Gründe und Auslöser war Martin Scorsese in diesem Jahr mit seiner Serie „The Blues“. Diese  Serie und die Ausstrahlung durch PBS (Public Broadcasting Service) brachten endlich die nötige Aufmerksamkeit und das Bewusstsein für den Blues, um ihm die längst fällige Anerkennung zu verschaffen.
Zur selben Zeit starteten die Planungen in Indianola für das B.B. King Museum. Ich war fünf Jahre verantwortlich für dieses Projekt. Ein Museum an einem Platz im Nirgendwo. Wie bekommst du die Besucher dahin?  Zum Glück  gingen die Anstrengung des Kongresses wirklich verstärkt voran und es gab Geld von der Regierung. Die Gruppe, die sich mit dem Bau des B.B. King Museums beschäftigte, waren auch die Leute, die das Blues Trail Projekt vorantrieben. So waren wir in der Lage, neun Tafeln auf einmal aufzustellen und die Presse, Jounalisten aus aller Welt einzuladen. Das war keine harte Arbeit. Die Berichte ließen die Besucherzahlen steigen.
Es gab Angst, dass das gerade geweckte Interesse wieder erlischt. Doch der Blues Trail hat einen guten Beitrag geleistet. Schnell waren wir auf 120 Tafeln. Heutiger Stand 211. Hinzu gekommen sind der Country Music Trail und der Freedom Trail.
Die Tafeln haben in den kleinen Orten das Selbstverständnis verändert. Als Beitrag zur Geschichte werben die Orte mittlerweile mit den Texten auf den Tafeln, mit ‚ihren’ Musikern, mit den Ereignissen. 600 bis 700 Wörter auf jeder Tafel über Blues, über Black Culture. Das hat auch eine politische Komponente. Vor 20,30 Jahren wollte nicht jeder kundtun, dass ein schwarzer Musiker aus dem Heimatort kam. Heute überwiegt der Stolz. Und heute finden zu Ehren des Musikers auch in kleinen Orten Festivals statt. Gerade war in Hollandale das Sam Chatmon Blues Festival.

Die Zukunft des Blues: Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus? Gibt es genug junge Musiker?

Nun ja, es gibt einige und es wäre schön, es wären mehr. Kingfish, Big A Sherrod, Cedric Burnside sind gute Beispiele für eine neue Generation von Bluesmusikern. Während der Pandemie gab es auf der Foxfire Ranch ein Treffen von zwölf Nachwuchsmusikern unter 20 Jahren. Interessant ist, das die Jungen heute keinen alten Musiker mehr brauchen, der ihnen sagt: Hey, du muss das hören, du muss jenes tun. Ein direkter Mentor ist nicht unbedingt nötig. Wenn du dich heute als 15jähriger für Blues interessierst, kannst du alles im Internet entdecken. Was war mit Muddy  Waters, wie klingt die Musik von Robert Johnson? Bei YouTube und Spotify kannst du alles entdecken. Und wenn ein junger Mensch das vier Stunden am Tag macht, ist er in kurzer Zeit besser informiert als ich, der Jahre für dieses Wissen brauchte.

Ich konnte eine Aufnahme kaufen oder musste mit dem Tonband zum Haus des Musikers, um die Musik zu konservieren. Eine völlig andere Herangehensweise heutzutage. Kontakte können schneller hergestellt werden. Wann ist wo ein Festival, ein interessantes Konzert? – alles kein Problem. Die jungen Musiker unterstützen sich untereinander, tauschen Informationen aus. Hinzu kommen die großartigen ‚Educational Programs’ des Delta Blues Museums und der Pinetop Perkins Foundation in Clarksdale. Hier lernen die  Nachwuchsmusiker nicht nur ein Instrument zu spielen, sondern in der Gruppe, in einem Ensemble zu spielen. Das Miteinander, in einer Band zu spielen, steht im Mittelpunkt.

Eine letzte Frage. Die Crossroads Frage.Es ist Mitternacht, du stehst an der Kreuzung. Du musst deine Seele nicht verkaufen, trotzdem hast du einen Wunsch frei. Was wünscht du dir?

Na, ich denke natürlich nicht an Geld, 1 Million Dollar oder so was, sondern an Musik. Ich wäre gerne in den 1930ern in Kansas City dabei gewesen, bei Big Joe Turner. In den 6oern in Greenwich Village, als dort Skip James, Thelonious Monk aufgetreten sind. Oder in den 30er Jahren unterwegs in Mississippi. „Where could I have been in a great time?“

Das Interview wurde am 4.Oktober 2022 in Clarksdale geführt.

Ohne zu übertreiben, darf Scott Barretta als Mastermind des Blues-Journalismus bezeichnet werden. Seine unzähligen Beiträge, Texte und Tätigkeiten zum Thema Blues sorgen dafür, dass das Motto „Keep The Blues Alive“ täglich neue Aktualität erlangt.

Rolf Barkowski ist vor Corona oft in den USA gewesen. Er besucht regelmäßig die Blues Festivals entlang des Mississippi – siehe dazu seine mit vielen Fotografien ausgestatteten Berichte bei uns auf CulturMag –, in der schwarzen Community hat er viele Freunde. 

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