Der Ein-Dollar-Cheeseburger
Am Beispiel eines einzigen Vergehens – des illegalen Grenzübertritts – zeigt uns der US-Schriftsteller Sam Hawken („Koyoten“; „Die toten Frauen von Juarez“), wie untrennbar (Rechts-)Staat und organisierte Kriminalität miteinander verknotet sind, wie wenig die Begriffe „Gut“ und „Böse“ aussagen und worauf ein Großteil der amerikanischen Wirtschaftsmacht, der Macht der Drogenkartelle in Mexiko und die Vorherrschaft des schlechtes Essens beruhen. Hawkens großer Text entstammt dem von Tobias Gohlis & Thomas Wörtche herausgegebenen Krimimagazin „Crime & Money“, das gerade als Taschenbuch bei Dromer erschienen ist. (Hinweis siehe unten.)
Übersetzt hat den Text Karen Witthuhn. Sie verweist darauf, dass Sam Hawken im Original durchgängig den Terminus technicus »undocumented migration« bzw. »undocumented immigrants« verwendet, der den Unterschied zwischen »illegal« im Sinne von »kriminell« zu »ohne Papiere« betont. Hier nun Sam Hawken:
Innerhalb der Grenzen der USA leben elf Millionen Menschen illegal. Die meisten dieser Einwohner ohne Papiere (Anm.1) stammen aus Ländern südlich der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Sie alle sind nach 1986 in die USA gekommen, als Ronald Reagan eine Massenamnestie für alle erließ, die schon vorher eingereist waren: schätzungsweise 3,2 Millionen Menschen. Angesichts dieser immensen Zahlen und der Tatsache, dass Immigranten ohne Dokumente in wirklich jedem Bundesstaat anzutreffen sind, lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass illegale Immigration die meistverbreitete Straftat in den Vereinigten Staaten ist.
Jeden Tag überqueren geschätzt 958 neue Migranten illegal die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Hält dies unverändert an, wird im Jahr 2050 die Zahl dieser Menschen in den USA über 28,5 Millionen betragen. Die Grenzpolizei hält dagegen und schiebt Tag für Tag über 1200 Migranten ohne Papiere ab. Die gelegentlichen Versuche, diese Politik der Massenabschiebungen zu verändern, verpuffen weitgehend. Amerikanische Gefängnisse, besonders die gewinnorientierten, halten Migranten so lange fest, bis ihr Aufenthaltsstatus ermittelt ist, sogar diejenigen, die eine Anerkennung als Flüchtling beantragt haben. Diese kommerziellen Gefängnisse verdienen jedes Jahr Milliarden von Dollar mit der Unterbringung und Versorgung von Häftlingen, die nie wegen irgendeiner Straftat angeklagt wurden oder auch nur vor Gericht gestanden haben.
Ein Graben voller Alligatoren
Während ich diesen Artikel schreibe, läuft in den USA der Wahlkampf und überschreien sich die wichtigen Präsidentschaftskandidaten geradezu, um sich als der Mann oder die Frau darzustellen, der/die mit der Krise am besten fertigwird. Der milliardenschwere Immobilientycoon Donald Trump beispielsweise verspricht im Rahmen seiner Kandidatur zwei Dinge: 1) dass die USA eine unüberwindbare, durchgehende Mauer von über 2000 Meilen (3220 km) Länge entlang der Grenze zu Mexiko errichten würden und 2) dass alle elf Millionen gegenwärtig in den USA lebenden Migranten en masse in ihre Herkunftsländer abgeschoben würden.
Das mag extrem klingen und nicht der breiten öffentlichen Meinung entsprechen, doch alleine steht Trump mit seiner Haltung nicht. Schon im Präsidentschaftswahlkampf 2012 punktete der republikanische Kandidat Herman Cain mit dem Vorschlag, eine Mauer zu errichten, allerdings zusätzlich mit einem Elektrozaun und einem Graben voller Alligatoren versehen. Was wie ein Witz klang, wurde von Cains Anhängern tatsächlich ernst genommen und als mögliche Lösung für das Problem der illegalen Migration diskutiert. Der einzig wirkliche Unterschied zwischen Cain 2012 und Trump 2016 ist der Grad der Überzeugung für ihre Vorschläge. Viele Menschen mögen Cains Plan als vernünftig, wenn auch vielleicht im Detail – man denke an die Alligatoren – schwer umsetzbar angesehen haben und standen trotzdem hinter ihm. Doch als Trump in diesem Jahr die Bühne betrat, schien es bereits völlig durchführbar, elf Millionen Menschen abzuschieben, selbst wenn sich die Kosten dafür auf 100 bis 200 Milliarden Dollar belaufen würden.
Das Rückgrat der Agrarwirtschaft
Und Dollars sind die treibende Kraft hinter dem Problem der Migration. Und zwar auf beiden Seiten der Grenze, hauptsächlich jedoch in den USA, wo der Menschenhandel einen schier unermesslichen wirtschaftlichen Gewinn abwirft, der auf ganz Mittel- und Südamerika und darüber hinaus abstrahlt. Alles auf der Basis einer Straftat: der illegalen Grenzüberquerung.
Die Mehrheit der Amerikaner betrachtet irreguläre Immigranten als eine Art Seuche, doch in Wirklichkeit bilden sie das Rückgrat der amerikanischen Agrarwirtschaft. In der Industrie und anderen Bereichen mussten die USA in den letzten vierzig Jahren viele Flauten erleben, doch in der Landwirtschaft sind sie die führende Kraft. Jahr für Jahr setzen sie mit landwirtschaftlichen Produkten 547 Milliarden Dollar um und sind der größte Nahrungsmittelexporteur der Welt – vor allem aufgrund der gemäßigten Preise, zu denen amerikanische Agrarkonzerne ihre Waren anbieten können.
Selbst ein BWL-Anfänger begreift das Konzept von Gewinn und Verlust. Je weniger Kosten eine Firma hat, desto höher ist ihr Gewinn und desto billiger kann sie ihr Produkt verkaufen und immer noch daran verdienen. Undokumentierte Arbeitsmigranten stellen in der Landwirtschaft der Vereinigten Staaten etwa 53 Prozent der Arbeitskräfte.
Sie sind diejenigen, die säen, ernten, weiterverarbeiten und all die niederen Tätigkeiten verrichten, die in einem erfolgreichen Agrarunternehmen anfallen. Das gilt auch für die Fleischverarbeitungsindustrie, in der schätzungsweise 25 Prozent der Arbeitskräfte keine Papiere haben.
Sie gehören zum System
Daher lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass die Arbeit der undokumentierten Migranten wesentlich zu dem System gehört, mit dem die USA ihren Status als entwickelte Nation aufrechterhalten. Seit Jahrzehnten schon treiben irreguläre Arbeitskräfte die Agrarwirtschaft voran, und auch Bereiche wie Essenszubereitung und Sauberkeit (zu Hause oder im öffentlichen Raum) sind vor allem von Latinos besetzt. Es ist unmöglich, ein Restaurant, egal welcher Größe, aufzusuchen, ohne dort Latino-Arbeiter vorzufinden, von denen geschätzte 22 Prozent ohne Papiere sind. Amerikanische Haushalte werden von undokumentierten Arbeitskräften geputzt, amerikanische Einkaufszentren werden von undokumentierten Arbeitskräften gereinigt, und amerikanische Kinder werden von undokumentierten Arbeitskräften großgezogen. Letzteres zieht sich bis in die Korridore der Macht hinein: So kam heraus, dass hochrangige amerikanische Staatsbeamte heimlich undokumentierte Migranten beschäftigten und in bar für ihre Dienste im Haushalt und bei der Kinderbeaufsichtigung bezahlten.
Wenn man all das als die Folgen einer Straftat – dem Überqueren der mexikanisch-amerikanischen Grenze ohne Papiere – auffasst, muss man ebenso akzeptieren, dass die USA Mittäter an dieser Straftat sind.
Eine ganze Kriminalitätskette für einen Cheeseburger
Ein krimineller Staat, dessen Bürger sich allesamt – bewusst oder unbewusst – an einer strafbaren Unternehmung beteiligen. Wenn ein Amerikaner einen Dollar für einen Cheeseburger bezahlt, dann profitiert er von einer ganzen Kriminalitätskette, die sich von dem Arbeiter, der das Vieh hütet, bis hin zu dem Unternehmen zieht, das einen Illegalen als Sandwichverkäufer beschäftigt. Bleibt nur die Frage, ob diese Kriminalität ein allgegenwärtiges moralisches Versagen darstellt oder sich hier gerade eine neue Ordnung bildet, in der die Prioritäten in aller Öffentlichkeit neu sortiert werden, um das anzuerkennen, was ohnehin sichtbare Realität ist.
Das Bemerkenswerteste an diesem Zustand ist seine Banalität. Denkt man an grenzüberschreitenden Menschenhandel, stellt man sich Gangster und Bösewichte aller Art vor, doch die Realität ist zumindest im Aufnahmeland viel schnöder. Die USA sind mitschuldig an einer kriminellen Unternehmung, die alle Schichten überschreitet und jeden einzelnen Bürger betrifft, aber es scheint sich dabei um eine Art gutartige Kriminalität zu handeln, die dem Allgemeinwohl dient. Der Theorie nach prosperieren in einem Land, in dem es den Oberen gutgeht, auch die Unteren. Ob das der Realität entspricht, ist eine ganz andere Frage, aber die Idee scheint sich bisher durchgesetzt zu haben, und die USA handeln seit fast vierzig Jahren nach dieser Oben-unten-Maxime – und können dabei ihre gegenwärtige Spitzenposition doch nur durch die Ausbeutung von immer billigeren Arbeitskräften halten, die auf allen Wegen, und seien es illegale, herbeigeschafft werden.
Die USA, der ultimative Konsument
Allgemein wird angenommen, dass undokumentierte Migranten in den Jobs arbeiten, die Amerikaner – damit sind weiße Amerikaner aus der Mittelschicht oder der Arbeiterklasse gemeint – nicht machen wollen. Diese Nachfrage führt dazu, dass ständig mehr Migranten die Grenze überqueren. Und wo eine Straftat stattfindet, gibt es auch Kriminelle, die sich daran bereichern wollen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde es denjenigen, die es über die Grenze und auf den amerikanischen Arbeitsmarkt schaffen, nicht unbedingt schlecht ergehen, aber das lässt die andere Seite der Gleichung, die mexikanische, außer Acht, wo der Vorteil schwieriger bis unmöglich zu erkennen ist. Der bereits erwähnte Ein-Dollar-Cheeseburger scheint ein guter Preis für elf Millionen undokumentierte Arbeiter in den Vereinigten Staaten zu sein, aber man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass das Bedürfnis nach einem Ein-Dollar-Cheeseburger auf der anderen Seite der Grenze eine kriminelle Unterschicht mit weit weniger gutartigen Absichten ins Leben ruft.
Allen Phrasen zum Trotz, dass es sich bei undokumentierten Immigranten um Kriminelle handele – hier lässt sich wieder beispielhaft Donald Trump zitieren, der sie in einer Rede als »Vergewaltiger« bezeichnete –, scheint es niemanden in den USA tatsächlich zu stören, an einer Straftat beteiligt zu sein. Dies liegt, wie schon beschrieben, daran, dass die Auswirkungen innerhalb der USA nicht bedrohlich sind. Wer will sich über einen Ein-Dollar-Cheeseburger aufregen? Die anderen in diesem Zusammenhang begangenen Straftaten, vor allem südlich der Grenze, lassen sich leicht verdrängen, als würden Mexiko und andere mittelamerikanische Staaten nicht wirklich, sondern nur abstrakt existieren. Aus amerikanischer Sicht sind diese Länder nichts als schattenhafte Lieferanten illegaler Arbeitskräfte, keine eigenständigen Staaten mit eigenen Gesetzen und eigenen Gesetzesbrechern.
Hier zeigt sich die wahre Auswirkung des Ein-Dollar-Cheeseburgers. Die USA sind, wie wir gesehen haben, der ultimative Konsument. Sie konsumieren billige Arbeit, billige Produkte, billiges Fleisch. Durch den grenzüberschreitenden Menschenhandel gibt es all das im Überfluss. Aber die USA konsumieren auch Drogen, und kein geringer Teil der Grenzüberquerer hat Anteil an diesem Wirtschaftszweig.
Von Koyoten und Kartellen
Der Drogenhandel in Mexiko überschreitet das Fassbare, insgesamt werden Jahr für Jahr etwa 13 Milliarden Dollar umgesetzt. Und dieses Geld kommt fast ausnahmslos aus den USA. Für ein Land, das sich seit 1971 – als der damalige Präsident Richard Nixon die Feindseligkeiten eröffnete – angeblich »im Krieg« gegen Drogen befindet, haben die USA einen fast unersättlichen Appetit nach dem Zeug. Etwa 19,8 Millionen Amerikaner rauchen Marihuana, 1,9 Millionen nehmen Kokain, 1,5 Millionen sind heroinabhängig. Einige Städte, beispielsweise Baltimore, Maryland, sind von Heroin geradezu überschwemmt, jeder zehnte Einwohner ist abhängig.
Ein Teil des illegalen menschlichen Grenzverkehrs ist mit dem Drogenhandel verbunden, doch das entspricht keineswegs dem Gesamtbild. Allerdings kommt selbst der aufrechteste und fleißigste Migrant irgendwann in seinem Leben unweigerlich mit den übermächtigen und gewalttätigen Drogenkartellen in Kontakt, die Mexiko beherrschen. Der Menschenschmuggel entlang der Grenze wird von sogenannten coyotes betrieben, professionellen Menschenschmugglern. Diese Kojoten bieten einfache Dienstleistungen an, beispielsweise ein Schlauchboot zur Überquerung des Rio Grande, sie können aber auch undokumentierte Migranten an jeden Zielort in den USA weitertransportieren, wo diese von Firmen angestellt werden, die unter der Hand Geschäfte mit der Organisation der coyotes machen. In dem Fall verhandeln dann ansonsten völlig legale Firmen direkt mit kriminellen Kartellen, denn alle coyotes entlang der Grenze sind mit den Kartellen im Bunde.
Die Beziehung zwischen coyotes und Kartellen kann ziemlich kompliziert sein und hängt davon ab, auf welcher Ebene ein coyote arbeiten möchte. Je organisierter die Grenzüberquerung und je aufwendiger die Dienstleistungen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der coyote eng mit irgendeinem Kartell verbunden ist. Doch selbst diejenigen, die nur die allereinfachsten Hilfestellungen geben, sind gezwungen,
so viel Profit wie möglich aus den undokumentierten Grenzüberquerern zu schlagen. Dies läuft in zwei Stufen ab.
Eine Grenzüberquerung, selbst wenn sie nur aus etwas so Simplem wie dem bereits erwähnten Schlauchboot besteht, kostet Geld. Im Durchschnitt liegt die Gebühr nicht unter drei- bis viertausend Dollar und kann je nach Aufwand bis auf zehntausend Dollar oder mehr steigen. Diese Summe ist in bar zu zahlen, und in einem Land, in dem der monatliche Durchschnittslohn bei 412 Dollar liegt, wird das Ansparen der Reisekosten zu einem Lebensprojekt. Ganze Familien legen zusammen, um einem oder zwei Mitgliedern den Traum zu erfüllen, und hoffen wider alle Vernunft, dass die Überquerung gelingen wird und die undokumentierten Arbeiter bald Geld nach Hause schicken werden. Pro Jahr überweisen in den USA lebende Migranten eine Gesamtsumme von etwa 25 Milliarden Dollar nach Mexiko und in andere mittelamerikanische Staaten.
Geschäftszweig Entführung
Die coyotes betreiben ihr Geschäft an der Grenze entweder unter dem Schutz oder als direkte Angestellte eines Kartells. In beiden Fällen werden die Tausende von Dollar, die der Migrant dem coyote zahlt, in der kriminellen Hierarchiekette nach oben weitergereicht. Der coyote behält seinen oder ihren Anteil, doch der Großteil geht an die diejenigen, die Waffen besitzen und nicht zögern, sie einzusetzen. Und das ist meistens noch nicht alles.
Die Geschäfte der mexikanischen Kartelle sind extrem diversifiziert. Die nach Amerika geschmuggelten Drogen sind mitnichten die einzige, wenn auch die hauptsächliche Einnahmequelle. Darüber hinaus erpressen die Kartelle Schutzgelder von ortsansässigen Geschäftsleuten und leiten Prostitutionsringe. 2011 wurde bekannt, dass die Schullehrer in Monterrey im Norden Mexikos fünfzig Prozent ihres Einkommens an
das Kartell zahlen sollten, sonst würde man sie töten, weil sie ohne Genehmigung gearbeitet hätten. Als die Lehrer sich weigerten zu zahlen und in der Folge nicht mehr zur Arbeit erschienen, mussten die Schulen geschlossen werden.
Entführungen sind ein weiterer Geschäftszweig, der in ganz Mexiko mit durchschnittlich 190 Entführungen pro Jahr eine Haupteinnahmequelle darstellt. In allen Fällen wird Lösegeld verlangt, und die meisten Opfer sind nicht wohlhabend. Im Gegenteil, zu den beliebtesten Entführungsopfern zählen undokumentierte Migranten, die die Grenze überqueren wollen. Nachdem der Migrant einem coyote für die Grenzüberquerung seine Lebensersparnisse gegeben hat, wird er von einem Kartell gekidnappt, das dann von der Familie des Opfers weiteres Geld fordert, oft nochmals Tausende. Wird nicht bezahlt, wird das Opfer gefoltert, verstümmelt und sogar getötet. Oft wird es auch dann getötet, wenn bezahlt wurde. Es gibt da keine Regeln.
Migranten stehen außerdem in Gefahr, während oder nach der Überquerung ausgeraubt zu werden. In manchen Gegenden der USA müssen sie erst einmal stundenlang durch die trockene Wüste marschieren, bevor irgendwo ein rettender Lieferwagen auf sie wartet. Auf diesen Märschen werden den Migranten häufig die Wertsachen abgenommen – entweder von den coyotes selbst oder von einer der herumstreifenden Gangs, die sich auf Grenzüberquerer spezialisiert haben. Ebenso sind Gruppenvergewaltigungen üblich. Sogenannte »Vergewaltigungsbäume« sind ein seltener, aber gruseliger Anblick: Die Unterhosen der Vergewaltigungsopfer werden als eine Art Trophäe an einen Baum gehängt – und gleichzeitig als Warnung an andere, die die Gegend durchqueren, dass ihnen dasselbe passieren könnte. Vergewaltigt werden ohne Unterschied Männer, Frauen und Kinder.
Ausbeutung, grenzenlos
Wie bereits beschrieben, endet die Ausbeutung der Migranten nicht an der Grenze. Die mexikanischen Kartelle besitzen auf ihrer Seite der Grenze riesigen Einfluss, in den USA sind sie hauptsächlich durch Stellvertreter aktiv. Einige Latino-Gangs, beispielsweise die mexikanische Mafia (auch La Eme genannt), dienen als Leitung für den Geldfluss gen Süden. Obwohl sich die Gangs ihren Teil abzweigen, lohnt sich dieses Franchisegeschäft für die Kartelle. Sexhandel erfreut sich unter mexikanischen Kartellen und ihren coyotes immer größerer Beliebtheit, und Frauen, denen man einen sicheren Ort und einen Job versprochen hatte, werden stattdessen als Zwangsprostituierte versklavt. Im ganzen amerikanischen Südwesten findet man in Latino-Gegenden und manchmal auch anderswo diese Frauen in sogenannten »cantinas«, wo sie von Freiern für ein paar wenige Dollar sexuell missbraucht oder für ein paar Dollar mehr vergewaltigt werden. 2012 existierten allein in Houston, Texas, einhundertsechzig »cantinas«, und weitere sechs- bis siebenhundert wurden vermutet. Dort werden Mädchen wie Sklavinnen gehalten, die nicht älter als zwölf sind und oft über Jahre oder sogar Jahrzehnte ihren Kartellbossen Geld einbringen.
Diese Art der sexuellen Ausbeutung findet nicht allein auf dem Gebiet der USA statt. Auf ihrer eigenen Seite der Grenze treiben die Kartelle das gleiche Spiel. In der berüchtigten »Boys Town« von Nuevo Laredo arbeiten die Prostituierten in quasi legaler Form.
Selbst wenn ein Migrant seinen coyote bezahlen kann, selbst wenn er den amerikanischen Behörden durch die Finger schlüpft und selbst wenn er nicht ausgeraubt, vergewaltigt oder nach der Ankunft in den USA in die sexuelle Sklaverei verkauft wird, halten die Fesseln noch. Wenn ein undokumentierter Migrant durch die Kartelle oder einen coyote oder seine oder ihre Verbündeten einen Job vermittelt bekommt, dann sind daran normalerweise Bedingungen geknüpft. Gewöhnlich bekommt unser Migrant für seine Arbeit ohnehin schon weniger Geld, als ein Amerikaner – wenn sich denn einer für den Job finden ließe – bekommen würde. Auch das Kartell und seine Agenten fordern ihren Tribut. Die Migranten werden manchmal ihr Leben lang regelrecht »besteuert« von den Leuten, die sie in die Vereinigten Staaten gebracht haben. Daneben müssen sie natürlich ihren verarmten Familien in der alten Heimat Geld schicken und die normalen Steuern an den amerikanischen Staat zahlen. Denn wenn ein undokumentierter Arbeiter seinen Lohn nicht in bar erhält, dann muss er alle regulären Abgaben – beispielsweise für die Sozialversicherung – zahlen, ohne sie jemals legal in Anspruch nehmen zu können. Auch hier greift wieder das Ein-Dollar-Cheeseburger-Prinzip, denn das System profitiert von Millionen von Menschen, die einzahlen, ohne jemals ihren Anteil zu bekommen.
Nur die Migranten profitieren nicht
Der Einzige, der nicht an der Grenzkriminalität verdient, ist der Migrant selber. Er oder sie bezahlt mit Bargeld, bezahlt mit Dienstleistungen oder bezahlt mit seinem Leben, wird aber für seine Opfer nie einen Lohn bekommen. Es kommt vor, dass sich ein Dutzend Menschen eine Einzimmerwohnung teilt, jeder davon schuftet acht, zehn, zwölf Stunden am Tag, um im Land der tausend Möglichkeiten auch nur das Minimum zum Leben zusammenzukratzen. Zwar ist es in den USA immerhin möglich, einen festen Job zu bekommen, aber man muss sich fragen, was dieser Job den Migranten kostet. Und dabei gehen wir noch davon aus, dass er überhaupt für seine Arbeit entschädigt wird. Die Sexsklaven in den »cantinas« erhalten für den Verleih ihrer Körper mit Sicherheit keinen Lohn.
Seit 2010 bemühe ich mich, mit meinen Büchern die Kriminalität an der mexikanisch-amerikanischen Grenze ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. Beginnend 2011 mit „The Dead Women of Juárez“ (»Die toten Frauen von Juárez«) habe ich viele Facetten dieser Unterwelt beschrieben, obwohl es sicher noch einige mehr gibt. Ich profitiere persönlich von der Ein-Dollar-Cheeseburger-Wirtschaft und trage meinen Anteil an der amerikanischen Kollektivschuld. Daher war es mir wichtig, diese Probleme in Erzählungen zu untersuchen und anderen das täglich stattfindende Unrecht vor Augen zu führen. Und aus diesem Grund schreibe ich diesen Artikel überhaupt.
„Die toten Frauen von Juárez“
Interessanterweise ging es in meinem ersten Mexiko-Roman nicht um illegale Grenzüberquerungen, sondern um mexikanische Arbeiter, die versuchen, im eigenen Land zu bleiben und Jobs zu finden. In der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez, die dem amerikanischen El Paso direkt gegenüberliegt, werden seit 1993 immer wieder junge Frauen und Mädchen Opfer systematischer Vergewaltigungen und Ermordungen. Es sind besonders widerwärtige Verbrechen, bei denen es auch zu Folterungen kommt.
Die Behörden gaben vor, sich der Situation anzunehmen, doch letztendlich wurden die meisten dieser Morde damit kleingeredet, dass sie nun einmal zu Juárez’ Prostitutionsszene gehörten. Die Opfer, fast alle Arbeiterinnen in den maquiladoras – Fabriken an der Grenze, die Waren für den amerikanischen Markt produzieren – wurden als Teilzeitprostituierte oder leichtlebige Personen dargestellt, und damit klang durch, dass sie ihr Schicksal zumindest teilweise verdient hätten.
In den Nullerjahren kam es zu immer neuen Frauenmorden, die aber immer weniger internationale Aufmerksamkeit erhielten und schließlich angesichts der unfassbaren Gesamtmordrate von Juárez verblassten, das Ergebnis von Mexikos unlösbarem und miserabel gehandhabtem Drogenkrieg.
In „Die toten Frauen von Juárez“ nahm ich beide Seiten ins Visier. Die feminicidios, die Frauenmorde, wirken sich auf die normalen Einwohner der Stadt aus, aber ebenso auf die Strafverfolger. Durch die Aufteilung der Narrative in zwei gleichwertige Hälften konnte ich das Problem erst aus der Sicht eines normalen Bürgers beschreiben, eines in Juárez lebenden amerikanischen Auswanderers, dessen Freundin entführt und ermordet wird, und dann aus der Perspektive eines Polizeiinspektors, dessen Leben die Morde ebenfalls verändern.
Viele Zeitungen schätzten das Buch; gewisse Personen jedoch, die in enger Verbindung zu den mexikanischen Behörden standen, zeigten sich interessanterweise mit meiner Analyse der Morde ganz und gar nicht einverstanden. Ganz offensichtlich stellt man sich auf beiden Seiten des Flusses der Grenzkriminalität gegenüber blind. Keiner der Versuche, die breitere Öffentlichkeit für das Schicksal dieser Frauen zu interessieren, hat gefruchtet, nicht einmal eine Kampagne von Amnesty International brachte größere Aufmerksamkeit. Das zeigt, wie wenig das Leben von Mexikanern, vor allem der Frauen, wert zu sein scheint. Für einen Ein-Dollar-Cheeseburger oder einen Billigfernseher scheint jedes Opfer recht. Der Dollar regiert.
„Tequila Sunset“: Gangs und viel, viel Geld
Mein zweiter Mexiko-Roman, „Tequila Sunset“ (2012), befasste sich direkt mit dem Problem der Grenze. Die Handlung spielt ebenfalls in Ciudad Juárez, greift aber bis nach El Paso hinüber. Das Buch, dessen Titel ursprünglich „Indians“ war – warum, werde ich gleich erklären –, beschreibt das Thema Ganggewalt als Unterform von Grenzkriminalität. Auch hier spielen die Kartelle und das einfache Hin-und-her-Wechseln von Dollars und Straftätern über die Grenze eine Rolle, im Mittelpunkt steht aber die Gewalt, die die Gangs ausüben.
1986 fanden sich Männer aus El Paso in den Gefängnissen von Texas zu einer Gang zusammen und nannten sie Barrio Azteca, die Mitglieder bezeichneten sich untereinander in Anspielung auf die in Mexiko ursprünglich ansässigen Azteken als »Indianer«. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis kehrten die Gangmitglieder nach El Paso zurück und nahmen ihre kriminellen Aktivitäten wieder auf, zu denen Drogenhandel, Waffenschieberei und Gewalt aller Art gehörten.
Entlang der Grenze hängt jede Art von Drogen- oder Waffenkriminalität vom illegalen Grenzverkehr ab. Waffen und Geld werden in den Süden transportiert, Drogen nach Norden. Innerhalb von kurzer Zeit knüpfte Barrio Azteca Kontakte zum Juárez-Kartell auf der mexikanischen Seite der Grenze und etablierte einen wechselseitigen Austausch, von dem beide profitierten. Die Bande wurden immer enger, bis schließlich Barrio Azteca – von den mexikanischen Behörden jetzt in Los Aztecas umbenannt – das Juárez-Kartell in Ciudad Juárez selbst vertrat und dort einen Großteil der vom Kartell angestifteten Morde durchführte.
„Tequila Sunset“ konzentriert sich auf drei Schlüsselfiguren in dieser Handelsbeziehung: einen in den Azteca-Strukturen gefangenen Informanten, einen Detective in El Paso, der auf Gangkriminalität spezialisiert ist, und einen mexikanischen Polizeibeamten, der versucht, der Gewalt in Ciudad Juárez Einhalt zu gebieten. Wie auch bei »Die toten Frauen von Juárez« habe ich mich bemüht, das Ausmaß des Problems so gewissenhaft wie möglich zu beschreiben. Die mexikanisch-amerikanische Grenze ist nirgendwo durchlässiger als in den großen Städten entlang des Rio Grande. Ciudad Juárez und El Paso beispielsweise teilen sich manche Straßen, und an einigen Stellen kann man durch einen einfachen Maschendrahtzaun seinen Arm von der einen Seite auf die andere Seite hindurchstecken. In Juárez abgefeuerte Kugeln landen in El Paso.
In „Tequila Sunset“ deute ich an, dass das Problem der Grenzkriminalität vielleicht deshalb unlösbar scheint, weil die Interessen der Hauptakteure in diesem ökonomischen Austausch am besten durch die Erhaltung des Status quo gewahrt bleiben. Die Gewalt auf beiden Seiten der Grenze ist ein sicherlich bedauerliches Nebenprodukt, aber der Verdienst für alle am Drogenhandel beteiligten Parteien ist einfach zu hoch. Und der Drogenhandel stützt dabei in nicht geringem Ausmaß auch noch die Allgemeinwirtschaft, denn die Kartelle geben ihr Geld in Juárez aus und helfen damit den ortsansässigen Geschäften, und die Gangs in El Paso machen es ebenso. Diese perverse Form der Investition in ökonomisches Wachstum würde irreparablen Schaden nehmen, sollte der florierende Grenzhandel mit Menschen, Geld, Waffen und Drogen jemals aufhören.
„Koyoten“: harsche Realität
Es bleibt außerdem fraglich, ob dieser Austausch sich überhaupt verhindern ließe, allen gemeinsamen Anstrengungen der Beteiligten zum Trotz. In meinem dritten Mexiko-Roman, „La Frontera“ – in der deutschen Übersetzung »Kojoten« –, habe ich mich mit den Umständen von Grenzüberquerungen befasst und mich auf die Mittel und Motive derjenigen konzentriert, die das Gesetz entweder brechen oder es durchzusetzen versuchen.
„Kojoten“ ist in drei nicht chronologisch aufeinanderfolgende Teile aufgeteilt. Im ersten Drittel des Buches findet Ana Torres, Texas Ranger in einer kleinen Grenzstadt, einen Vergewaltigungsbaum und einen Toten. Als mögliche Täter kommen coyotes genauso in Frage wie ansässige Farmer, die sich gegen die illegale Überquerung ihres Landes – die sie als »Invasion« betrachten – zur Wehr setzen, oder die Kartelle, die bei allem, was an der Grenze passiert, ihre Finger im Spiel haben. Ganz am Ende kommt die Wahrheit ans Licht, aber in der Zwischenzeit stellt das Buch die sehr einfache Frage: Wie kann man überhaupt glauben, Menschen aufhalten zu können, die sich so verzweifelt nach einer besseren Zukunft sehnen, dass sie dafür ihr Leben aufs Spiel setzen? Unser Texas Ranger kann allein ganz sicher nichts gegen die Migrantenwelle ausrichten, und selbst das gesamte amerikanische Strafverfolgungssystem, das jedes Jahr 18 Milliarden Dollar zur Abwehr von Migranten ausgibt, kann die Stellung nicht halten.
Als Zweites folgt die Geschichte eines ehemaligen coyote, der sich aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen hat und einen kleinen Laden führt, in dem sich Grenzquerer mit dem für die Reise Notwendigen versorgen können. Solche Geschäfte existieren tatsächlich, und in manchen Gegenden in Mexiko gibt es sogar Shuttlebusse, die hoffnungsvolle Migranten bis an die Grenze fahren, wo sie ihre Reise gen Norden antreten.
Interessanterweise ist es den mexikanischen Behörden weitgehend egal, ob Migranten die Grenze in die USA überqueren, und sie ermutigen sie geradezu. Doch wer ohne Papiere aus Mittelamerika kommend nach Mexiko hinein will, dem drohen von ebendiesen Behörden verhängte drakonische Strafen, und die vielen Tausende Menschen, die auf dem Weg in die USA Mexiko durchqueren, werden umgehend abgeschoben. Wer ihnen Unterschlupf gewährt, hat mit mehrjährigen Haftstrafen zu rechnen, wenn auch diese Klausel des Immigrationsgesetzes nicht allzu strenge Anwendung zu finden scheint.
Unser fiktiver coyote jedenfalls hat sich aus dem Geschäft der illegalen Grenzüberquerung zurückgezogen, weil er nicht länger zur Ausbeutung der Migranten beitragen will. Zwar unterstützt er durch seinen Laden potenzielle Grenzquerer und damit eine Straftat, aber er ist nicht mehr direkt an der Misshandlung verzweifelter Migranten beteiligt, die von coyotes oder Kartellhandlangern vergewaltigt, ausgeraubt und ermordet werden.
Im letzten Drittel des Romans beschreibe ich die Reise einer Migrantin aus El Salvador in die USA. Das Schicksal mexikanischer Migranten ist eine uns vertraute – und, wie wir gesehen haben, leicht zu ignorierende – Geschichte. Neu ist dagegen der Weg, den jemand geht, der aus dem Süden kommt und erst mehrere Länder durchqueren muss, bevor er den mexikanischen Kartellen in die Hände fällt. In diesem Fall hat unsere Heldin jahrelang gearbeitet, um das Geld für die Reise zusammenzusparen, und muss viele Gefahren – Ertrinken, riskante Fahrten auf den Dächern von Güterzügen und Übergriffe durch andere Migranten – überstehen, bis sie endlich die mexikanisch-amerikanische Grenze erreicht, wo sie noch weitaus Schlimmeres erwartet. Diese Geschichte steht absichtlich am Ende des Buches, um die harsche Realität illegaler Migration zu beschreiben – nicht als abstraktes Phänomen, wie die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden es sehen, oder als relativ harmlose Aktivität, wie die meinen, die auf der mexikanischen Seite der Grenze leben, sondern als lebensverändernde, lebensbedrohliche Tortur mit harten Konsequenzen.
„Missing“: die Kidnapping-Industrie
Mein vierter und bisher letzter Mexiko-Roman widmet sich einem Aspekt der Grenzkriminalität, der hier schon Thema war: Entführungen. Außerhalb der Kriegsgebiete im Nahen Osten ist Mexiko das Epizentrum der weltweiten Kidnapping-Industrie, und jeder kann ihr zum Opfer fallen. In „Missing“ (2014) verschwinden ein mexikanisch-amerikanisches Mädchen und ihre mexikanische Cousine nach einem Konzertbesuch in Nuevo Laredo, einer Grenzstadt im Nordosten Mexikos, spurlos. Der angloamerikanische Stiefvater des mexikanisch-amerikanischen Mädchens setzt alle Hebel in Bewegung, um seine Tochter zu finden, aber prallt an der Mauer der mexikanischen Kriminalität ab.
2011 wurde die gesamte Polizei in Nuevo Laredo wegen Korruption entlassen, und die Strafverfolgungsaufgaben wurden von der Armee übernommen. Doch aus der Sicht einer für den Krieg ausgebildeten Organisation besteht »Strafverfolgung« alleinig im offenen Kampf mit ortsansässigen Kartellen. Vermisste Personen und andere Delikte, die keine direkte Gefahr für den Staat darstellen, wie Einbruch oder Vergewaltigung, gehören für sie nicht zu ihrem Aufgabenbereich. In der Folge übernahmen das Golf-Kartell und das berüchtigte Los-Zetas-Kartell die Kontrolle in Nuevo Laredo, und die illegalen Grenzgeschäfte gingen ungestört weiter. Die Bevölkerung von Nuevo Laredo flehte, man möge die Polizei in der Stadt wieder einsetzen, aber ihr Bitten stieß auf taube Ohren. Der mexikanischen Armee ging es nur darum, die Waffengewalt auf den Straßen einzudämmen, alles andere war ihr egal. Und in den USA bleibt natürlich das Prinzip des Ein-Dollar-Cheeseburgers oberste Priorität: Die Katastrophe, die die Mexikaner südlich der Grenze erleben, existiert in den Köpfen der Amerikaner einfach gar nicht.
Es gibt keine simplen Lösungen
Es ist ganz und gar nicht meine Absicht, Grenzkriminalität als unterstützenswert darzustellen, trotz des offensichtlichen Nutzens, den mein Heimatland daraus zieht. Ausbeutung, Folter und Mord sind unter keinen Umständen zu akzeptieren. Dennoch findet sich in all meinen Mexiko-Romanen eine Haltung umrissen, die das Problem gar nicht lösen will, vorausgesetzt, es wäre überhaupt lösbar. Das massive Ausmaß ist schwer zu begreifen und lässt sich kaum in Stücke herunterbrechen, die für eine Regierung oder andere Organisationen bequem zu schlucken wären. Der Ein-Dollar-Cheeseburger steckt den Behörden in der Kehle, und sie haben nur die Wahl, ihn hinunterzuwürgen, bevor sie den nächsten schlucken.
Was also ist das Ziel? Wenn unter den gegenwärtigen Umständen der kriminelle Grenzhandel stillschweigend gebilligt, sogar unterstützt wird, weil sowohl Mexiko als auch die USA davon profitieren, was wollen die Behörden dann letztendlich unternehmen? Verschiedene Denkansätze lassen sich beschreiben, die dies wenigstens ansatzweise verständlich machen.
Die lautesten und nachdrücklichsten Stimmen verkünden, es gäbe nur eine Lösung für die Grenzkrise: der Migrantenflut Einhalt zu gebieten. Undokumentierte Migranten müssten abgeschoben, die Sicherungmaßnahmen an der Grenze verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht werden, und nur ein Rinnsal dürfe noch durchsickern. Interessanterweise findet man diese Haltung nicht allein in den USA. Man muss nur nach Europa blicken und erkennt in der Reaktion auf die anhaltende syrischen Flüchtlingskrise etwas, das sich höflich als Ethnozentrismus, genauer als Fremdenfeindlichkeit bezeichnen lässt und dazu führt, dass eigentlich vernünftige Leute zu extremen Mitteln greifen, um Migranten, die als das »Andere« gesehen werden, die Einwanderung zu verwehren. Genau wie in der mexikanisch-amerikanischen Grenzkrise kann die Situation hier nicht mit einer simplen Lösung vereinfacht werden, aber das hält manche nicht davon ab, es zu versuchen.
In den USA fürchtet die weiße Mehrheit, die um 2045 wahrscheinlich nicht mehr die ethnische Mehrheit stellen wird, um ihre privilegierte Stellung. In gewisser Hinsicht ist ihre Angst berechtigt: Historisch gesehen waren auch die weißen Einwanderer in Gruppierungen unterteilt, von denen manche als mehr oder weniger unterlegen angesehen wurden – darunter Iren, Italiener und Juden. Diese nicht-ganz-so-perfekten Immigranten waren gezwungen, bestenfalls niedere Tätigkeiten zu verrichten, schlimmstenfalls zu fast sklavenähnlichen Bedingungen zu arbeiten, doch letztendlich gewannen diese ethnischen Gruppen immer mehr an Einfluss und übernahmen schließlich die Vorherrschaft im Land.
„Die Träumer“ hoffen auf eine bessere Zukunft
Heute wächst die Latino-Bevölkerung ständig, selbst wenn man die Zahl der undokumentierten Migranten darin nicht berücksichtigt, und diese Latinos bilden den ökonomischen Kern des American Way of Life. Daher ist es nur eine Frage der Zeit, wann ihr Einfluss so zunimmt, dass sie die tonangebende ethnische Gruppe im Land sein werden.
Ist das unbedingt schlecht? Für einen Weißen, der aus seiner ethnischen Zugehörigkeit in Amerika alle möglichen Privilegien zieht, ist es eine erschreckende Aussicht. Doch wenn man die relative Stellung ethnischer Gruppen in der amerikanische Machtstruktur mit etwas mehr Zuversicht betrachtet, ist es kein so großes Problem mehr. Die junge Generation, die sogenannten »Millenials«, stehen dem »Erbräunen Amerikas« bereits viel toleranter gegenüber als ihre Eltern oder Großeltern. Zu dieser demographischen Gruppe gehört die Untergruppe der »Dreamers«, der Träumer: undokumentierte Migranten, die als Kinder in die USA gekommen sind, durch und durch amerikanisiert wurden und keine andere Heimat kennen, rein rechtlich gesehen aber Bürger eines anderen Landes sind. Mit den Veränderungen der Machtstrukturen in Washington, D. C., und dem wachsenden Einfluss der Latino-Wählerschaft gewinnt die Entwicklung hin zu Staatsbürgerschaft oder zumindest Entkriminalisierung der »Dreamers« an Fahrt. Das ist nicht zu vergleichen mit der Generalamnestie von 1986, die (im Moment) politisch nicht umsetzbar wäre, aber ein Schritt in diese Richtung.
Der Tag wird kommen …
Was passiert, wenn der Tag kommt – anscheinend unausweichlich –, an dem alle elf Millionen undokumentierten Migranten in den USA durch politische oder rechtliche Mittel legalisiert werden? Die Grenze wird auf einen Schlag ihr Gesicht verändern. Was jetzt auf der Landkarte wie eine harte Linie aussieht, wird auf Dauer durchlässiger werden. Denn nicht nur werden weiterhin undokumentierte Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben den Rio Grande überqueren, sondern es wird die stillschweigende Übereinkunft herrschen, dass dies der erste Schritt in einem Prozess ist, der letztendlich zu Staatsbürgerschaft und voller Teilhabe an der repräsentativen Demokratie Amerikas führt.
Diese Veränderung wird außerdem die coyotes und ihre Kartellbosse quasi legalisieren. Sie werden damit zu einem Teil eines etablierten Prozesses, und obwohl sie Verbrecher bleiben, werden die ökonomischen und politischen Realitäten des Ein-Dollar-Cheeseburgers ihren Status als Kriminelle nach und nach verändern. Sie werden dieselben »Dienste« leisten, mit demselben Maß an Korruption und Ausbeutung, aber sie werden im Gesamtbild einen unumkehrbaren Schritt nach vorne gemacht haben.
Wie bei praktisch allem, das mit der mexikanisch-amerikanischen Grenze in Verbindung steht, hat Geld oberste Priorität. Die USA brauchen die undokumentierten Einwanderer, um den Hunger nach Ein-Dollar-Cheeseburgern zu stillen, und das bedeutet – falls nicht irgendwann der Tag kommt, wenn dieser billige und ausbeutbare Pool an Arbeitskräften plötzlich keine Rolle mehr spielt –, dass die kriminellen Machenschaften auf beiden Seiten der Grenze weiterhin gedeihen werden. Nur die Migranten selbst vermögen zu sagen, ob ihr Opfer es wert ist.
© 2015 by Sam Hawken; Deutsch von Karen Witthuhn. Mit freundlicher Genehmigung der Beiden und des Droemer Taschenbuchverlages.
Sam Hawken, geb. 1970, Studium der Geschichte an der University of Maryland, ist Historiker und Romancier, der sich in seinen Büchern mit la frontera beschäftigt, der Grenzregion zwischen Mexiko und den United States of America. Viel beachtet war sein Roman über die massenhaften Frauenmorde in Ciudad Juárez. Letzte Veröffentlichung auf Deutsch: Kojoten (Polar Verlag, 2015). Hawken lebt in Baltimore, Maryland. Seine Internetseite.
Die Mexiko-Romane von Sam Hawken:
Die Toten Frauen von Juarez (The Dead Women of Juárez, 2011). Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber. Tropen Verlag, 2012.
Tequelia Sunset, 2012.
Kojoten (La Frontera, 2013). Aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn. Mit einem Vorwort von Tobias Gohlis. Polar Verlag, 2015.
Missing, 2014.
Offenlegung: Das im Dromer Taschenbuchverlag erschienene Krimimagazin „Crime & Money“, aus dem dieser leicht gekürzte Text stammt, wird herausgegeben von Tobias Gohlis und Thomas Wörtche.
„Crime & Money“ liefert Hintergründe zur Globalisierungskriminalität, zur Verquickung von Mafia und US-Politik, zur Finanzkrise oder zu den Ursachen der Griechenlandkrise – und zwar von denen, die es professionell wissen, darüber sprechen können und seit langem darüber recherchieren, – den Verfassern der modernen Kriminalliteratur. Mit Beiträgen von Thomas Adcock, D. B. Blettenberg, Carlo Bonini/Giancarlo de Cataldo, Martin Burckhardt, Alan Carter, Sam Hawken, Dominique Manotti, Petros Markaris, Mike Nicol und Charlie Stella. 240 Seiten, 12,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.