Unsere Games-Kolumne von Christopher Werth
Willkommen in den Ruinen des interplanetaren Kapitalismus! Ein rechteloser Arbeiter versucht in Citizen Sleeper auf einer gesetzlosen Raumstation seiner Vergangenheit zu entfliehen, um die Zukunft zu verändern.

Du wachst auf. Aber da stimmt etwas nicht. Die Signale, die zwischen Deinem Verstand und Deinem Körper hin und hergehen sind seltsam verzögert. Dieser Körper zerfällt langsam. Da fällt Dir ein: es ist gar nicht Dein Körper. Der schläft Lichtjahre entfernt in den Kühlräumen des Konzerns, an den Du ihn verkauft hast. Sie haben eine digitale Kopie Deines Bewusstseins gemacht und sie in diesen Arbeitsroboter geladen, der jetzt Dein Körper ist. Du hast mit tausenden Sklaven geschuftet. Dann bist Du mit zehn von ihnen geflohen. Offenbar bist Du der Einzige, der es geschafft hat. Hierher. Auf die zerfallene Raumstation Erlin’s Eye, die sich langsam, wie ein gigantischer Kreisel im schwarzen Weltraum um ihre eigene Achse dreht.
So beginnt Citizen Sleeper, das Cyberpunk-getränkte Table-Top-Role-Playing-Game (TTRPG) von Gareth Damian Martin und des Studios Jump over the Age. Inspiration war das eigene Leben in London, als sich Gareth Damian Martin von einem schlechtbezahlten Job zum nächsten hangeln musste – ohne Garantie auf genug Essen und medizinische Versorgung. Vor dem Spiele-Entwickeln war Gareth Damian Martin Grafikdesigner:in, Kritiker:in und erwarb einen Doktortitel in experimenteller Literatur. Nach dem Adventure In Other Waters ist es das zweite Spiel. Schon In Other Waters, wurde gefeiert: “hypnotic art, otherworldly audio and captivating writing” (Eurogamer).
In Citizen Sleeper spielt man einen sogenannten Sleeper. Einen Roboter mit menschlichem Bewusstsein, der aber juristisch nicht als Person gilt. Das Setting ist ein unterkühltes, turbokapitalistisches Science Fiction Szenario. Der nonbinäre Held steht am untersten Ende der Hackordnung und muss sich auf der großen von verschiedenen Interessensgruppen umkämpften, dysfunktionalen Raumstation durchschlagen. Der Konzern, der ihn eigentlich laut Vertrag besitzt macht ebenfalls Jagd auf ihn, um sein Eigentum zurück zu holen. Der Roboterkörper braucht regelmäßig ein Mittel, um sich nicht selbst zu zersetzen, Nahrung für Energie und Geld, um beides zu beschaffen. Die Station Erlin’s Eyesteht offen. Spieler:innen können entscheiden, wohin sie gehen und in welche Richtung sich die Story weiterentwickeln soll. Nach und nach tauchen mehr Charaktere auf und mit ihnen verschiedene Handlungsstränge und Entscheidungen. So kann man Freundschaften schließen, bei einer Gang einsteigen, gemeinsam mit anderen die Flucht auf einem neuen Raumschiff planen, sich ins alte Netzwerk hacken, Pilze ernten, Babysitten, auf die Jagd nach dem dunklen Geheimnis der Raumstation gehen – oder einfach nur überleben.

Die Tage sind hier Cycles, also Umdrehungen der Station. Für jeden Cycle stehen den Spieler:innen je nach Gesundheitszustand bis zu fünf Würfel zur Verfügung. Das Würfelglück entscheidet, wie erfolgreich die Interaktionen Laufen. Wie auf einem Spielbrett wählt man die nächsten Züge. Oben links gibt es ein einfaches Questlog und oben rechts ein unkompliziertes Skill-System. Für jede erfüllte Quest kann man den Sleeper mit einem weiteren Skillpunkt hochleveln. Bei den Quests, hier Drives genannt, wird nicht, wie in RPGs üblich, zwischen Neben- und Hauptquests unterschieden. Welcher Handlungsstrang verfolgt werden soll, entscheiden wertungsfrei die Spieler:innen.

Das Medium, um Handlung, Atmosphäre, Charaktere und Spannung zu vermitteln ist einfach nur: Text. Und das funktioniert erstaunlich gut. Damit übt das Spiel leise einen unwiderstehlichen Sog aus. Man verbindet sich mit den verlorenen Charakteren, die bei Interaktionen wirksam durch die Illustrationen von Guillaume Singelin lebendig gemacht werden. Der Soundtrack von Amos Roddy ist ein dunkler Klangteppich aus elektronischen und mechanischen Geräuschen, Beats und Cyperpunk-Atmo, der je nach Dramaturgie mit gelegentlicher melodischer Wärme oder Dramatik aufgeladen wird. Wenn man sich darauf einlässt, wird das ganze Spiel so zu einer immersiven, interaktiven Lese-Erfahrung.

Das Indie-Game beweist damit, dass Dramatik und Spannung auch ohne Gewalt als Spielmechanik erzeugt werden können und setzt zur Vermittlung der Story vor allem auf eines der ältesten Kommunikationsmittel der Menschheit: Sprache. Citizen Sleeper ist eine ruhige, sehr gut und präzise geschriebene und gestaltete Experience, die Spieler:innen langsam immer mehr in den Bann ziehen kann. Und dass bei er einer perfekten Spielzeit von einem normalen, kapitalistischen Arbeitstag.
Zum Trailer:
Copywright für alle Bilder und mehr Informationen hier: jumpovertheage.com