Geschrieben am 3. Oktober 2019 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2019

non fiction, kurz – 10/19

Aus: Sebastião Salgado: Gold – © Sebastião Salgado

Sachbücher, kurz und bündig

Diese Rubrik, die wir im Mai erstmals aufgelegt haben, hat sich aus dem Stand zum Renner entwickelt. Offenkundig gibt es hier ein Bedürfnis. Sekundärliteratur ist unerlässlich, wenn man nicht nur konsumieren will. Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW) sind auf einem Streifzug im Revier unterwegs – mit Kurzbesprechungen von:

Anne Applebaum: Roter Hunger
Tillmann Bendikowski: Ein Jahr im Mittelalter
Wolfgang Brenner: Das deutsche Datum
Marzio G. Mian: Die neue Arktis
Grit Lemke: Das Universum Volker Koepp
Roland Meyer: Operative Porträts
Günter Müchler: Napoleon
Sebastião Salgado: Gold
Heinrich Steinfest: Gebrauchsanleitung fürs Scheitern
Richard Wrangham: Die Zähmung des Menschen

Wem gehört der Nordpol? 

(AM) Die neue Arktis von Marzio G. Mian ist ein überraschend gehaltvolles, sinn- und faktenpralles Buch. Der Autor zählt zu den wenigen internationalen Journalisten, die systematisch die Arktis bereist haben. Er ist Mitbegründer der Non-Profit-Organisation The Arctic Times Project (USA) und arbeitet regelmäßig für italienische, englische und amerikanische Medien. Neben Theaterstücken hat er ein Buch über den Balkankrieg geschrieben. Was in der Arktis passiert, findet seiner Ansicht nach in den Medien keinen gebührenden Widerhall, gehört zur „großen Verblendung der Medien“ (Amitav Gosh) gegenüber den Rändern der Welt. Das Ziel seines mit Freunden und Kollegen betriebenen Projekts sind ethische Reportagen, die der Welt des 21. Jahrhunderts gerecht werden.

Das formidabel illustrierte Buch versammelt eine Handvoll äußerst tiefschürfender, aufregender Reportagen und bietet Fakten, die nur wenige kennen. Wirtschaftsinteressen heißen das schmelzende Eis durchaus willkommen. Russland etwa gewinnt bereits 85 Prozent seines Erdgases aus der Arktis; ein chinesisches Unternehmen plant in Grönland die weltgrößte Tagebau-Mine für Uran und seltene Erden. Der geschätzte Arktis-Wert von Erdöl und Gas beträgt 18 Trillionen Dollar, das entspricht der gesamten US-amerikanischen Wirtschaft. Längst ist auch ihre Militarisierung in vollem Gange, ist die Gefahr nuklearer Zwischenfälle höher als zur Zeit des Kalten Krieges. Industrieller Fischfang sowie ein ungebremster Naturtourismus bedrohen die Lebensgrundlagen der Inuit. Die Selbstmordrate unter der indigenen Arktisbevölkerung ist so hoch wie sonst nirgends auf der Welt. In Grönland findet ein Massaker statt. Auf Italien umgerechnet, so Mian, würden sich jedes Jahr sechzigtausend Menschen das Leben nehmen.

Öfter musste ich bei der Lektüre an ein Werk der Fiktion denken, ein nachgerade visionäres: an Lionel Davidsons „Der Rabe“ (Kolymsky Heights) von 1994), als Taschenbuch zugänglich (Penguin Verlag).

  • Marzio G. Mian: Die neue Arktis. Der Kampf um den hohen Norden (Artico. La battaglia per il Grande Nord, 2018.) Aus dem Italienischen von Christine Amman. Folio Verlag, Wien und Bozen 2019. Gebunden, mit Karten und zahlreichen Farbabb.168 Seiten, 22 Euro.

Notwendige Lektüre

(TW) Apropos Realität: „Das Studium der Hungersnot hilft dabei, die heutige Ukraine zu erklären“, schreibt die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum in ihrem magistralen Werk Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Der „Rote Hunger“, das war der „Holodomor“ besonders in den Jahren 1932/1933, dem ca. vier Millionen Menschen in der Ukraine zum Opfer fielen. Applebaums differenzierte Studie geht historisch zurück bis in die Zarenzeit, in der das Narrativ entstand, die Ukraine sei keine selbständige politische und kulturelle Einheit, sondern lediglich ein Anhängsel des großrussischen Reiches. Und als solches immer ein Unruheherd, weil die Ukraine im Fokus ausländischer, besonders polnischer Begehrlichkeiten lag und einerseits als primitiv und rückständig, andererseits als aufrührerisch, nationalistisch und rebellisch erschien. Die zaristische Politik der „Russifizierung“ wurde nach der Revolution von der Sowjetunion kontinuierlich weitergeführt, zumal im russischen Bürgerkrieg die „Weißen“ in der Ukraine zunächst große Erfolge erzielen konnten. Regionale Warlords wie Nestor Machno und andere fütterten Moskaus Misstrauen gegenüber der Region. Aber alle diese Konflikte konnte man auf einen Punkt konzentrieren: Getreide. Weil die sowjetische Landwirtschaftspolitik (Stichwort: Kollektivierung) wenig effizient war und, auch noch durch Dürren und Missernten verschärft, begann, in einer ersten Terrorwelle schon in den 1920er Jahren die brutale Ausplünderung der ukrainischen Agrarpolitik, die Hundertausenden von Menschen das Leben kostete. 1932/1933, also im großen Kontext der stalinistischen „Säuberungen“, schlug der Terror dann vollends zu: Es ging nicht mehr nur um die Ressource Getreide, sondern auch um das Brechen ukrainischer Identität auf allen Ebenen – kulturell, politisch, wirtschaftlich. Und es ging um das große Vertuschen, das von den westlichen Mächten nicht wesentlich behindert wurde. Man wollte sich aus verschiedenen Gründen nicht mit der Sowjetunion anlegen, Geopolitik – so verquer sie auch im Einzelfall verstanden wurde – erschien wichtiger als eine lokale humanitäre Katastrophe. Und Applebaum hört auch heute noch von der russischen Regierung (für die der Holodomor immer noch eine No-Go-Area ist) „Echos von Stalins Furcht vor der Ukraine“ und das Großnarrativ, eine allzu souveräne, sprich europäisch orientierte Ukraine bedrohe russische Interessen. Diese Klammer macht Applebaums Buch so aktuell. Brillant geschrieben, brillant recherchiert und keinesfalls problemblind (gerade was die Rolle des Antisemitismus auf beiden Seiten angeht) macht es zu einer notwendigen Lektüre zum Verständnis dessen, um was es gerade geht auf diesem Planeten. 

PS: Background auch für alle möglichen fiktionalen Werklein, in denen „ukrainische Gangster“ als besonders üble Vertreter des „Bösen“ auftreten, wenn’s nicht gerade die „Russenmafia“ ist. Oder die Tetschenen oder die Kolumbianer oder die Triaden oder die Serben usw… by the way sollte man wirklich mal das Ethno-Casting von Crime Fiction ein bisschen genauer anschauen.

  • Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine (Red Famine: The Ukranian Genocide 1932-33, 2017). Übersetzt von Martin Richter. Siedler Verlag, München 2019. 544 Seiten, mit Abb., 36 Euro.

Bilanz eines Forscherlebens

(AM) Er war ein Genie, ein Macher mit modernen Ideen, ein Tyrann. Unter allen Gedenktagen dieses Jahres war auch der 15. August 2019 ein bedeutsames Datum für die Weltgeschichte. Es war der 250. Geburtstag von Napoléon Bonaparte, der in nicht einmal zwanzig Jahren zu einer Jahrhundertgestalt heranwuchs und Europa seinen Stempel aufgedrückt hat. Die Welt machte jedoch dieses Mal nicht allzu viel Aufhebens um ihn, nach wie vor ist er umstritten. In Frankreich selbst steht er unter Verdacht, ein Rassist und Sklaventreiber gewesen zu sein. Der französische Historiker Claude Ribbe meint gar, Napoleon habe Adolf Hitler, der sich – ebenfalls ein “le petit caporal“ – im Juni 1940 während seines nur wenige Stunden dauernden Aufenthaltes vor seinem Grab verneigte, den Weg geebnet, weil er das Aufkommen aller rassistischen und pseudo-wissenschaftlichen Thesen des 19. Jahrhunderts gefördert habe, die später von den Nazis aufgegriffen wurden.

Mehr als eine Million Bücher gibt es nach Einschätzung des Historikers Thomas Schuler über Napoleon: „Über keinen anderen Menschen wurden mehr Bücher geschrieben.“ Trotzdem hier eine klare Empfehlung für ein weiteres. Napoleon. Revolutionär auf dem Kaiserthron heißt das 624-Seiten-Werk von Günter Müchler, es ist die Summe von mehr als 30 Jahren Beschäftigung mit dem Korsen und sein viertes Buch zum Thema. Es ist die Bilanz eines Forscherlebens. Müchler, Jahrgang 1946, promovierte über „Das Bündnisverhältnis von CDU und CSU“ – was ihn, als ich ihn als Lokalchef der „Günzburger Zeitung“ erlebte, schon damals zum Experten für Macht- und Strategiefragen machte. Er war langjähriger Programmdirektor von Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur, ist ein gestandener Journalist, die Sprache sein Metier, das Buch rundum lesbar. Seinem Gegenstand setzt er keinen Heiligenschein auf, zeigt auch seine Erbarmungslosigkeit als Kriegsherr, zeichnet ein Psychogramm Napoleons, beschreibt ihn als Menschen, erforscht seine Charakterzüge, sein Begehren, seine Ängste, seine schriftstellerischen Ambitionen. Das Buch ist in sechs große Abschnitte unterteil: „Suche“ (1769 – 1799), „Gestaltung“ (1799 – 1804), „Improvisationen“ (1804 – 1811), „Lähmung“ (1811 – 1813), „Absturz“ (1813 – 1815) und Nachhall. Dieses Echo brandet auch gegen all die zeitgenössischen Einzelherrscher, sein Schicksal sollte ihnen Lehre sein.

  • Günter Müchler: Napoleon. Revolutionär auf dem Kaiserthron. Wgb (Wissenschaftliche Buchgemeinschaft) Theiss, Darmstadt 2019. 624 S. mit 32 s/w Abb. und 2 Karten, 24 Euro.

Das Glück im Scheitern

(rum) Jede/r kennt es, nicht alle reden gern darüber: das Scheitern. Dabei ist es für gute Geschichten, für gute Kriminalgeschichten allemal, unabdingbar. Wenn alles nach Plan läuft, mag das im Leben zwar beruhigend (wenngleich selten) sein, erzählt ist das aber meist ziemlich langweilig. Denn im Scheitern, schreibt der Stuttgarter Autor Heinrich Steinfest in seiner so klugen wie unterhaltsamen Gebrauchsanweisung fürs Scheitern, stecke doch eine ungeheure Komik, „eine befreiende Kraft des Negativen, des Fragilen und Verbesserungswürdigen“. Und so spürt er ihm elegant und pointiert nach, dem Scheitern der Hoffnung, der Wahrheit, dem Scheitern in der Liebe, der Religion, der Kunst („Porträt des Künstlers als ein Häufchen Elend“), der Architektur, der Literatur, im Sport. 

Steinfest hat einen weiten Blick, findet in den unterschiedlichsten Lebensbereichen Gelegenheit, dem Scheitern philosophisch zu Leibe zu rücken. „Gott anders als einen Gescheiterten zu definieren wäre eigentlich Blasphemie. Es wäre, als würden wir ihm einen teuflischen Ehrgeiz andichten“, sinniert er im Kapitel „Ist Scheitern göttlich?“. Dann zoomt er sich ins Alltägliche, dem anspruchsvollen Kochen mit einer Herdplatte etwa, wohl wissend, dass nichts so schön ist, wie anderen beim Scheitern zuzusehen. Dafür gräbt er Anekdoten aus, die sich gelegentlich lesen, wie das Kondensat eines Steinfest’schen Romans. 

Nirgends, konstatiert der Autor im Architekturkapitel, „geht so viel Geld in Umlauf wie dort, wo ein Scheitern stattfindet“. Ganz klar, hier geht es um den Flughafen und den Bahnhof. All die Diskussionen für und wider des neuen „quer zur Topographie der Stadt liegenden“ Stuttgarter Bahnhofs etwa seien wohl nicht mehr „als ein barocker Rahmen, eine verschnörkelte Erregung, eine opulente Ornamentik“. Denn das im Rahmen befindliche Bild sei keineswegs ein Bahnhof, sondern ein schnödes Grundstücksgeschäft. Durch die Verlegung des Gleisvorfelds in den Untergrund wird Platz frei für ein neues Viertel. „Was bleibt, ist, dass eine Eisenbahn, die allen gehört, einer Stadt, die allen gehört, eine Menge Grundstücke verkauft hat.“ 

Alltag ist das Scheitern im Sport, ein Feld, das Ilija Trojanow mit „Meine Olympiade“ bereits aufs Schönste abgegrast hat. Unschlagbar aber ist Steinfests Anekdote, wie er 30-jährig in einem chinesischen Dorf versucht haben soll, einen Mr Ku im Tischtennis zu besiegen, was ihm partout nicht gelingen wollte. Wochenlang trat er zusammen mit anderen Reisenden gegen diesen Mr Ku an, einem Ladenbesitzer, der sich so ein paar Groschen dazu verdiente. „Wir fühlten uns alle als Verfluchte“, schreibt Steinfest. „Aber ebenso als Auserwählte. Wir wollten ja etwas lernen.“ Das Scheitern als Chance begreifen, als skurrile Lektion der Realität, des Miteinanders, als etwas, das eingepreist ist im Leben oder wie Steinfest es zugepitzt formuliert: „Der Mensch ist Scheitern.“ 

  • Heinrich Steinfest: Gebrauchsanleitung fürs Scheitern. Piper-Verlag, München 2019. 240 Seiten, 15 Euro.

Medienarchälogie mit kriminalistischem Einschlag

(AM) Ein Tonfall melancholischer Zeitenthobenheit durchwehte Roland Barthes’ letztes Buch „Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie“, das wie ein Märchen beginnt: „Eines Tages, vor langer Zeit, stieß ich auf ein Photographie.“ Sein Buch machte das Foto zu einer Reliquie. Roland Meyer hingegen beschreibt in seiner als Dissertation an der HfG Karlsruhe entstandenen Studie Operative Porträts: Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook die Geschichte einer Eskalation – einer Enteignung und Serialisierung. Meyer hat auch an der Ausstellung „Das Gesicht. Eine Spurensuche“ mitgearbeitet, die im August 2017 am Deutschen Hygiene-Museum Dresden eröffnet wurde. In seinem Buch untersucht er den Funktionwandel des Porträts vom repräsentativen zum operativen Porträt.

Wo Lavater noch Schattenrisse fertigte und ein Pionier wie Bertillon sich noch der Mitarbeit etwa von Emile Zola versichern musste und die „Bewegungskonten“ des BKA in den 1970er Jahren noch auf die Erfassung sporadischer Verkehrs- und Passkontrollen angewiesen war, gewähren heute Milliarden von Menschen privaten Unternehmen – und damit jedem mitlesenden und mitschauenden Staat – freiwilligen Einblick in ihr Kommunikations- und Informationsgeflecht, in dem sie sich alltäglich bewegen und dabei selbst zu „Logistikern“ eines ungeheuren Datenflusses werden, Versuchskaninchen der Gesichtserkennung. Herolds „Rasterfahndung“ und Zuckerbergs Facebook sind dabei nur zwei Stationen. Der veränderte Zugriff auf Körper, Gesichter und Bilder blieb und bleibt nicht auf die polizeiliche Praxis beschränkt, er wandert in Alltag und Kunst, Datenbanken und Wirtschaft und Algorithmen. In zwölf Kapiteln zeichnet Roland Meyer eine längst nicht abgeschlossene Entwicklung nach. Seine Porträts von Kriminalisten und Künstlern, Wissenschaftlern und Unternehmern – von Lavater bis Zuckerberg und Warhol – machen die Schnittstellen deutlich, an denen Bilder von Gesichtern zu Objekten eines identifizierenden Blicks wurden, der sie in lesbare Information zu verwandeln versucht. Das Buch unternimmt eine Medienarchäologie der Identifizierung von der frühen Kriminalistik bis zur automatisierten Gesichtserkennung und wirft einen neuen Blick auf die Geschichte des Gesichts unter den Bedingungen seiner technischen Reproduzierbarkeit. Meyer: „Die Plattformen, die heute digitale Identitäten verwalten, seien es Facebook, Instagram oder Snapchat und andere, setzen darauf, dass ihre Nutzer und Nutzerinnen nicht müde werden, Bilder von sich und all jenen, die ihnen wichtig sind, auszutauschen.“

  • Roland Meyer: Operative Porträts: Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook. Konstanz University Press, Göttingen 2019. Hardcover, 468 S., 85 Abb., 39 Euro.

Aufs ins weite Feld

(AM) Was für eine wunderbare Idee für ein Filmbuch und auch was für ein Geburtstagsgeschenk: Je einen Handvoll kundiger Frauen und Männer schauen sich in einem kleinen Kino ein paar Filme eines Regisseurs an, in seiner Anwesenheit. Etliche von ihnen waren selbst an der Entstehung dieser Filme beteiligt, alle haben sie ein Interesse am Dokumentarischen. Danach reden und diskutieren sie miteinander, fragen nach beim Macher, hinterfragen sich selbst, ziehen weite Kreise. Dies in wechselnder Besetzung – quer durch das Werk des Regisseurs, eine Retrospektive mit breitem Erkenntnischarakter. Der Ort: das Berliner Kiez-Kino „Krokodil“ im Prenzlauer Berg. So entsteht ein werthaltiges, enorm spannendes Filmbuch. Abgerundet wird es mit einer kundigen Einführung der Filmjournalistin Anke Westphal und weiteren Interviews, einer ausführliche Bibliographie (auch Zeitschriftentexte) und Filmographie, eigens notiert dabei die Filmverfügbarkeit. Die Dokumentarfilmkennerin und Journalistin Grit Lemke liefert mit diesem Buch ihr Meisterstück.

Im Jahr des 75. Geburtstags von Volker Koepp zeigt sie uns Unter hohen Himmeln. Das Universum Volker Koepp. Das von der DEFA-Stiftung herausgegebene Buch ist eines der schönsten und besten Werke zum Dokumentarfilm, die mir je begegnet sind. Es ist ein Buch, dem man viele Leser wünscht. Atem und Ausgreifen werden diesem Filmemacher gerecht, der zu den ganz Großen des Dokumentarfilms gehört. Eigentlich über eine Disziplinaraktion zum Genre gekommen, hat er in fünf Jahrzehnten über 60 Dokumentarfilme gedreht. Gerühmt werden sie wegen ihres genauen Blicks, ihres langen Atems, ihrer Demut, ihres Sinns für Menschen und Landschaften. Und ihrer Hartnäckigkeit.

Ab 14.11. 19 verfügbar

Koepps unfassbar großes Werk kartographiert den ostelbischen Raum zwischen dem brandenburgischen Wittstock und dem ehemaligen Ostpreußen bis ins Kaliningrader Gebiet und hinunter zum Schwarzen Meer. Er ist einer der Wenigen, die – dank nicht unmutiger Fernsehredakteure, hartnäckiger Filmverleiher und Kinobetreiber – nach der Wende weiterarbeiten konnten. Koepp hat sich vor und nach 1989 mit einem bedeutenden Œuvre in die internationale Filmgeschichte eingeschrieben. (Mitte November erscheint für schlankes Geld bei absolut Medien Koepps „Wittstock-Zyklus 1975 – 1997„, 393 Minuten Film.)
„Und ihr zeigt das so?“, ist das Gespräch mit Werner Dütsch überschrieben, dem langjährigen Redakteur beim Westdeutschen Rundfunk und Förderer von Volker Koepp. Wenige Tage nach der Aufzeichnung dieses Gesprächs verstarb Dütsch im Alter von 79 Jahren. Eigentlich braucht es über ihn auch solch ein Buch.

  • Grit Lemke: Unter hohen Himmeln. Das Universum Volker Koepp.Gespräche und Reflexionen. Schriftenreihe der DEFA-Stiftung/ Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2019. Hardcover, 300 Seiten, 35 Fotos, 25 Euro.

Zeitreise

(AM) Ein Jahr im Mittelalter liegt schwer in der Hand, das macht das gestrichene Papier für das durchgängig farbig illustrierte Buch von Tillmann Bendikowski. Der bei Hans Mommsen promovierte Journalist und Historiker ist Gründer und Leiter der Medienagentur Geschichte in Hamburg und hat viel Ausstellungserfahrung. Anschaulichkeit ist also sein Metier, das kommt hier auf jeder Seite zum Tragen.
Sein Buch ist eine Zeitreise in die Welt des Mittelalters, es beginnt am 23. Juli 1164 mit der Ankunft der Reliquien der Heiligen Drei Könige in Köln und geht dann in Monatsschritten weiter. Köln ist damals mit rund 40.00 Einwohnern die größte Stadt im Deutschen reich. Saubere Luft etwa war in Städten wie Köln damals schon ein heißes Thema.

Das Buch stellt nicht die Großen, sondern die kleinen Leute in den Mittelpunkt, bricht Geschichte auf Alltagserfahrung, Lebenswirklichkeiten und kleine Nöte herunter: Sexualität, Verbrechen und Strafen, Glaube und Religion, Wissen und Medizin, Schrift und Handwerk, Tischsitten, Ernährung, das Reisen und die Räuber, das Pilgern und die Reliquien, Mühlen und Bauern, Ritter und Turniere, Hungersnöte, Krankheiten, Seuchen, Mönche und Klöster, Einstellung zur Arbeit. Ein kleine Chronik am Ende zoomt durch Personen und Ereignisse im 12. Jahrhundert, vom Kreuzzug-Aufruf des Papstes Urban II. im Jahr 1095 bis zum Tod Heinrichs VI. im Jahr 1197, der ein Machtvakuum hinterlässt. Schöne Idee, schönes und lehrreiches Buch.

  • Tillmann Bendikowski: Ein Jahr im Mittelalter. Essen und Feiern, Reisen und Kämpfen, Herrschen und Strafen, Glauben und Lieben. C. Bertelsmann Verlag, München 2019. Hardcover, 446 Seiten, durchgängig farbig illustriert, 28 Euro.

Geschichtsstunde

(AM) „Man muss B sagen, sobald man A gesagt“, zitiert Wolfgang Brenner für sein Buch Das deutsche Datum: Der neunte November Karl Marx als Motto. Brenners These ist, dass die Ereignisse des 9. Novembers quer durch das deutsche 20. Jahrhunderts miteinander verbunden sind – eine Interpretation, die auch Alexander Kluge gefallen dürfte. Brenner ist Autor zahlreicher Kriminalromane und Sachbücher, zuletzt wurde er für „Die ersten hundert Tage. Reportagen vom deutsch-deutschen Neuanfang“ mit dem Friedrich-Schiedel-Literaturpreis für herausragendes historisches Erzählen ausgezeichnet. 

Er fragt sich, was diese Ereignisse miteinander verbindet:
9. November 1918: Novemberrevolution, die in der Ausrufung der ersten deutschen Republik kulminiert. 
9. November 1923: Putsch-Anzettelung des bis dahin weithin unbekannten Adolf Hitler gegen eben diese Republik. 
9. November 1938: Die Novemberpogrome der Nazis münden in der „Reichskristallnacht“.
9. November 1989: Die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland fällt.

Brenner, Jahrgang 1954, geht der Frage nach, was diese unterschiedlichen Ereignisse miteinander verbindet. Davon erzählt er Geschichten, auch aus den Jahren dazwischen. So entsteht ein deutsches Panorama, ein deutsches Jahrhundert. Und er findet: Der 9. November reagiert auf den 9. November.

Das Buch endet mit einem Plädoyer für das wiedervereinigte Deutschland. Brenner erzählt dazu unter anderem von einem Besuch des Künstlerpaares Otl und Inge Aicher aus dem Allgäu bei Christa und Gerhard Wolf in ihrem Haus im mecklenburgischen Woserin Ende September 1989. Die Vier träumten von einem neuen Deutschland als „Drittem Weg“. Ein Flugblatt der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ machte ihnen Hoffnung, „dass aus dem Folgeprodukt der DDR“, so Brenner, „eine wirkliche sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ werden könne. – So ist es nicht gekommen. 

  • Wolfgang Brenner: Das deutsche Datum: Der neunte November. Herder Verlag, Freiburg 2019. Hardcover, 320 Seiten, 26 Euro.

Zivilisationsstifter Todesstrafe

(AM) Er war Doktorand bei Jane Goodall in Tansania, er wollte das Verhalten von Tieren erforschen und bekam 1987 tatsächlich ein eigenes Forschungsprojekt mit frei lebenden Schimpansen im Kibale-Nationalpark von Uganda. Hin und wieder wurde er dabei Zeuge von Episoden extremer Gewalt unter Schimpansen. Um die evolutionären Hintergründe solchen Verhaltens zu verstehen, stellte er Vergleiche an zwischen Schimpansen und ihren nächsten Verwandten, den Bonobos, die nur durch den breiten Kongo getrennt lebten. 
Bereits 1996 veröffentlichte er zusammen mit Dale Peterson die Studie „Bruder Affe“, in dem die Aggression von Menschen und Schimpansen aus der Evolution heraus zu erklären versucht wurde. Für Richard Wrangham aber blieb genug Rätsel, wie unsere menschlichen domestizieren Eigenschaften und unsere Fähigkeit zu grausamer Gewalt so widersprüchlich nebeneinander bestehen können. Mit Die Zähmung des Menschen. Warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat. Eine neue Geschichte der Menschwerdung versucht er nun von unserer Zähmung zu erzählen – nämlich wie unsere Spezies ihr reaktives Aggressionspotenzial mit einem friedlichen Verhalten in Einklang brachte, wie also Gut und Böse in uns zu Existenz fand.

Der Professor für Anthropologie an der Harvard Universität, der bereits mit „Feuer fangen: Wie uns das Kochen zum Menschen machte“ eine neue Theorie der menschlichen Evolution entwickelte, sieht sich dafür die Geschichte unserer Domestizierung an. Das entscheidende Mittel zur Menschwerdung, findet er, war die Todesstrafe. Gewalt erzeuge Gegengewalt – und die verhelfe zu friedlichem Zusammenleben. Die Neandertaler starben deshalb aus, weil ihr reaktives Aggressionspotenzial so hoch war, dass es ihnen nie gelang, in größeren Gruppen zusammenzuleben. Sie konnten sich nie entspannen, konnten sich am Lagerfeuer keine Geschichten erzählen. 

  • Richard Wrangham: Die Zähmung des Menschen. Warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat. Eine neue Geschichte der Menschwerdung (The Goodness Paradox.The Strange Relationship Between Virtue and Violence in Human Evolution, 2019). Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. DVA, München 2019. Hardcover, 496 Seiten, 28 Euro.

Von biblischer Wucht

(AM) Serra Pelada bedeutet „Nackter Hügel“ oder „Geschälter Berg“. Dem Fotografen Sebastião Salgado gelang dort 1986 der Zugang. Er sagt: „Die meisten Journalisten würden da nur einen Tag bleiben. Ich blieb über einen Monat. Als ich in der Mine ankam und in dieses Loch blickte, sah ich dann eine Masse von Menschen, die alle ohne irgendwelche Hilfsmittel mit der bloßen Hand gruben. Ich dachte, das kann nicht wahr sein – ich hatte die Minen König Salomos vor Augen. Das Geräusch der auf den Boden hämmernden Spitzhacken klang wie das Geräusch in den Seelen dieser Schürfer. Sie waren zu Sklaven des Goldes geworden.“

Alle Fotos aus: Sebastião Salgado: Gold – © Sebastião Salgado

Es war die weltgrößte Freiluftmine, der Ort des größten Goldrausches seit über hundert Jahren, seit den Goldfunden in Klondike. Ein Jahrzehnt lang weckte Serra Pelada die Sehnsüchte nach dem legendären Goldland El Dorado. In den 1980er Jahren arbeiteten dort rund 50.000 Goldgräber unter unmenschlichen Bedingungen, sogenannte Garimpeiros. Heute ist es eine Landschaft voller Narben und ein tiefer See mit einem Durchmesser von über 200 Metern. Vor Selgados Augen tat sich ein gewaltiges Loch auf, in dem Zehntausende kaum bekleidete Männer wie Ameisen schufteten. Die Hälfte von ihnen schleppte bis zu 40 Kilo schwere Säcke über hölzerne Leitern nach oben, die anderen rutschten über schlammige Böschungen wieder hinunter in den Schlund, Körper und Gesichter ockerfarben von der ausgeschachteten eisenerzhaltigen Erde. Oder wenn es regnete, vom Schlamm. Bis zu 40 Mal am Tag kletterten die Träger mit ihrer Last nach oben. 99 Prozent ihrer Säcke enthielten nichts als Erde und Steine, aber es manchmal fand sich eben ein bis zu sieben Kilo schweres Nugget. Das feinere Gold wurde mit Quecksilber extrahiert.

Als Salgado seine Aufnahmen machte, dominierten Farbfotos die Hochglanzseiten der Zeitschriften. Schwarz-Weiß war eigentlich passé, doch die Fotostrecke zur Goldmine der Serra Pelada und die Wucht seiner biblisch anmutenden Reportage führten zu einer Rückbesinnung auf die monochrome Fotografie.  Das großformatige Gold enthält das vollständige Portfolio mit an die 90 Fotos in Museumsqualität, ein Vorwort des Fotografen, sowie einen Essay von Alan Riding. Wim Wenders hat den Fotografen im sehenswerten Film „Das Salz der Erde“ porträtiert, am Buchmessensonntag erhält Sebastião Salgado den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

  • Sebastião Salgado, Lélia Wanick Salgado, Alan Riding: Gold. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Verlag Taschen, Köln 2019. Hardcover, Format 24,8 x 33 cm, 208 Seiten, 50 Euro. – Ebenfalls erschienen als signierte und limitierte Collector’s Edition (800 Euro) und als Art Edition. –
  • Samstag, 19. Oktober 2019, von 11 bis 12 Uhr, signiert Sebastião Salgado exklusiv am Stand von Taschen auf der Frankfurter Buchmesse (Halle 3.0, D 85) sein neues Buch GOLD .

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