Die Welt der Heranwachsenden
Dominique Ott über Staffel 2 von „Stranger Things“
Sobald das Gefühl aufkommt, man habe bereits alle zumutbaren Inhalte auf Netflix gesehen, woraufhin man sich fragen könnte, ob der monatliche Beitrag für die US-amerikanische Video-on-Demand-Plattform sich noch wirklich lohnt, rückt sie mit einer hauseigenen Produktion heraus, die ihre Nutzer wieder in den Bann zieht. Das passiert zirka zwei Mal im Jahr, mit einer neuen Staffel des Breaking Bad Spin-Offs Better Call Saul oder –nach Absetzung des ursprünglich vielversprechenden, spätestens ab der zweiten Hälfte jedoch sehr schwächelnden The Get Down– nun mit Stranger Things.
Nach einer hochgefeierten ersten Staffel im letzten Jahr, veröffentlichte Netflix nun am 27. Oktober Stranger Things 2 (mit neun Folgen, die jeweils zwischen einer dreiviertel und einer Stunde dauern). Da dem Streaming-Dienst die Wichtigkeit solcher Flaggschiff-Serien für seinen Erhalt durchaus bewusst ist, wurde hierfür das bereits beachtliche Budget des ersten Laufs nochmal um Einiges aufgestockt, um eine längere, größere und bessere Fortsetzung zu produzieren. Mit einem Budget von rund acht Millionen Dollar pro Episode nähert sich Stranger Things 2 fast schon der gigantischen Game of Thrones Fantasy-Reihe des Netflix-Konkurrenten HBO an.
„I just wish it had a little more originality“
Der offensichtliche Charme von Stranger Things besteht in einer nostalgischen Inszenierungsweise der Achtzigerjahre. Dabei kommen im fiktiven Hawkins (Indiana), das immer wieder als die Art Kleinstadt beschrieben wird, wo gewöhnlich nie etwas passiert, die historischen Umstände der Reagan-Ära und des Kalten Krieges nur am äußersten Rande vor. Hingegen wird der Popkultur aus den Siebzigern und Achtzigern durchgehend Reverenz erwiesen: Die Dialoge und visuelle Gestaltung (genauso wie das Werbematerial) sind durchsetzt von Hinweisen auf Stephen Kings und Steven Spielbergs Arbeiten aus der Zeit, sowie auf weitere Werke, die heute einen gewissen Kultstatus genießen. Von Ghostbusters bis zu The Exorcist bedienen sich die beiden Schöpfer ‚The Duffer Brothers‘ an Einträgen aus unterschiedlichsten Genres, was oftmals zu spontanen und spannungserzeugenden Tonalitätswechseln führt.
Selbst die musikalische Begleitung besteht hauptsächlich aus 80’s-Hits sowie aus eigenen Kompositionen, die durch einen starken Rückgriff auf Synthesizer wie eine Mischung aus John Carpenters Filmmusik und dem Berliner Duo Tangerine Dream klingt. Diese unzähligen Rückverweise sorgen bei Liebhabern der Zeit für Begeisterung, bieten jedoch zugleich Anlass für einen durchaus berechtigten Kritikpunkt: In einem selbstreflexiven Moment wird dieser vom Neuankömmling mit scharfer Zunge, Maxine (Sadie Sink, nachdem die Ereignisse der ersten Staffel für sie zusammengefasst wurden), ironisch formuliert: „I really liked it. Well, I mean, I had a few issues: I just felt it was a little derivative in parts. I just wish it had a little more originality.“
Eine Reflexion unserer heutigen digitalen Parallelwelt
Worin besteht also der Eigenwert und die Aktualität von Stranger Things? Inhaltliche Parallelen zur Gegenwart entstehen lediglich über vereinzelte Augenzwinker. So zum Beispiel, wenn der gutwillige Bob (Sean Astin) einen VHS-Camcorder auf Joyce (Winona Ryder) richtet und angesichts ihres Widerwillen anmerkt, daran müsse sie sich gewöhnen, schließlich sei dies die Zukunft.
Auf gestalterischer Ebene greift Stranger Things für Science-Fiction- und Horrorelemente vorwiegend auf aktuelle Computer-Animations-Technologie zurück. Dass die übernatürlichen Wesen hier weniger wie jene meisterhaften Puppen- und Kostümgestalten aussehen, , die das Genrekino der Siebziger und Achtziger bevölkern, sondern eher wie generische CGI-Monster aus einem der Resident Evil-Filme (und das verstärkt in der neuen Staffel), wirkt zunächst enttäuschend.
Tatsächlich verbirgt sich hier jedoch einer der interessanteren Aspekte von Stranger Things, denn computer-generierte Effekte werden bevorzugt für das sogenannte Upside-Down –eine Art dunkle Spiegelung unserer Welt– und für die Monster, die daraus entspringen, eingesetzt. Der Hauptkonflikt der Serie besteht darin, dass ungezügelte Wissenschaftler das Tor zu dieser Dimension geöffnet haben, die sich nun jenseits ihrer Kontrolle in Hawkins wie ein Virus ausbreitet. Die im Upside-Down vorherrschenden digitalen Special-Effekte verstärken den virtuellen Charakter dieses Schattenreichs, das als Reflexion unserer heutigen digitalen Parallelwelt gelesen werden kann.
Ein entscheidender Teil des Horrormoments besteht darin, dass diese computer-generierte Welt zunehmend in unsere eindringt und dort reale zerstörerische Konsequenzen hat. Unter anderem werden vorzugsweise junge Menschen im Upside-Down gefangen, und drohen, nie mehr frei zu kommen. Dabei ist es kein Zufall, dass gerade die jüngste Generation in Stranger Things jene ist, die mit dieser Welt auf die eine oder andere Art interagieren kann: Will (Noah Schnapp) ist mit dem Upside-Down verbunden und springt unbeabsichtigt zwischen beiden Welten umher, Dustin (Gaten Matarazzo) schafft es, ein Wesen daraus zu zähmen, während Eleven (Millie Bobby Brown) nicht nur telekinetische Kräfte besitzt, sondern in der Lage ist, Portale zum Upside-Down zu öffnen und zu schließen. Mit Hilfe technologischer Signalverstärkung kann sie sogar Leute virtuell ‚besuchen‘, ohne wirklich vor Ort zu sein. Dabei gestaltet sie aktiv einen Großteil der digitalen Effekte, die in die alltägliche Welt vordringen.
Ausgereifte Figuren, überzeugende Darsteller
Tatsächlich besteht die Hauptstärke von Stranger Things in seinen zahlreichen ausgereiften Figuren und (trotz eines vorwiegend sehr jungen Casts) den durchwegs überzeugenden Schauspielerinnen und Schauspielern. Am Anfang stehen die Jungs Mike (Finn Wolfhard), Lucas (Caleb McLaughlin), Dustin und Will. Sie sind Außenseiter, die dadurch umso loyaler zueinander sind und problemlos die Gunst der Zuschauer für sich gewinnen können. Nachdem Will am Anfang der ersten Staffel verschwindet, begegnen die anderen drei bei einer Suchaktion der desorientierten Eleven. Letztere wirkt trotz nur weniger Dialogzeilen und des jungen Alters der Darstellerin Millie Bobby Brown (zu Beginn der Dreharbeiten war sie gerade mal elf) extrem überzeugend, reif und zeitweise angsteinflößend. Während die Jungs beschließen, sie zu verstecken, führen zwei ihrer großen Geschwister einerseits, Wills Mutter und der Polizeichef andererseits ihre eigenen Ermittlungen durch.
Spannung entsteht durch die Frage, ob die einzelnen Puzzlestücke, welche die jeweiligen Figuren ihrerseits auffinden, rechtzeitig zusammengeführt werden können. Die gleiche Dynamik gelingt auch wieder im zweiten Teil mit teils gleichen, teils unerwarteten Figurenkonstellationen und einigen neuen Weggefährten. Wie im Horrorgenre üblich, verbergen sich dabei hinter dem paranormalen Charakter der Handlung reale Probleme. So wird in Stranger Things neben Themen wie Mobbing, elterlicher Vernachlässigung, sogar häuslicher Gewalt sowie Trauma im allgemeinen vor allem der Verlust des eigenen Kindes verhandelt.
Im Kontrast zum neurotischen Handlungsdrang von Wills Mutter Joyce –die Winona Ryder mit herzzerreißender Intensität spielt– baut Polizeichef Jim Hopper (David Harbour) eine stoische und undurchdringliche Fassade auf, während der späte Besuch bei einer Terry Ives (Aimee Mullins) eine komplett von der Realität abgeschnittene, in einer endlosen traumatischen Wiederholungsschleife gefangene Mutter zeigt.
Es bleibt spannend …
Innerhalb dieses Netzes an Handlungsdynamiken bleibt Stranger Things 2 meistens spannend, außer wenn es wegen zu großem Vertrauen in bewährte Genrevorlagen unglaublich vorhersehbar wird. Nachdem am Ende der ersten Staffel ganz bewusst Fragen offen gelassen wurden, ist hier demgemäß nichts anderes zu erwarten. Die siebte Folge stellt jedoch einen Exkurs dar, der komplett abseits des restlichen Handlungsnetzes der Staffel lokalisiert ist. Er ist lediglich vorhanden, um einen unerschlossenen Handlungsstrang zu öffnen, der in einer zukünftigen Staffel weitergesponnen werden soll. Dieser Versuch, die Vorfreude auf den nächsten Teil zu steigern, geht hier jedoch nach hinten los. Die ganze Folge scheint fehl am Platz, verzögert den weiteren Verlauf der Staffel und hätte besser weggelassen werden können. Angesichts der Tatsache, dass bereits vor der Veröffentlichung der zweiten eine dritte Staffel bewilligt (und eine vierte angekündigt) wurde, sollte dieser aus jetziger Perspektive eher unspannende Handlungsstrang schon im nächsten Jahr erkundet werden. Dann wird sich zeigen, ob Stranger Things seine einnehmenden Charakterentwicklungen und -verstrickungen erfolgreich weiterspinnen kann, oder ob es (wie so viele Serien auf Dauer) zunehmend klischeehaften narrativen Strukturen verfällt, was exzessive Cliffhanger oder überflüssige Flashback-Sequenzen bereits andeuten.
Dominique Ott