Kalaschnikows statt Playmobil – der erste Spielfilm von Netflix
Zu den großen Tragödien unserer Zeit gehört, dass in Afrika unzählige Kinder zu drogenabhängigen Killermaschinen gemacht werden. Im Film „Beasts of No Nation“ geht es Schritt für Schritt um genau diese Verwandlung am Beispiel des sympathischen und intelligenten kleinen Agu. Von Christopher Werth.
Netflix setzt wie bei allen Eigenproduktionen auch beim ersten Spielfilm auf hochwertige Zutaten und wählt ein Thema, das niemanden kalt lässt. Regisseur Cary Fukunaga, der letztes Jahr mit „True Detective“ Furore gemacht hat, ist auch für Kamera und Drehbuch verantwortlich. Schauspieler Idris Elba („Luther“) spielt einen gefährlich-charismatischen „Commandante“ der brutalen Rebelleneinheit – vielleicht ein Kandidat für den Oscar als beste männliche Nebenrolle. Mindestens genauso beeindruckend: der junge Abraham Attah als Agu.
Vorlage ist der gleichnamige 2005 erschienene Debütroman von Uzodinma Iweala (hier eine Rezension der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Marcus Ingendaay und hier ein aktuelles Interview). Der nigerianisch-amerikanische Autor war selbst nie ein Soldat. Die Geschichte von Agu basiert auf den Berichten echter Kindersoldaten. Wie in einem Brennglas bündelt der Text die verschiedensten Schicksale.
In „Beasts of No Nation“ erlebt Agu eine Reise ins Herz der Finsternis – nur dass es dabei kein Ziel gibt, keine Ideale, keinen Sinn als das Kämpfen selbst.
Glückliche Familie: Agu lebt mit seinen Eltern und Geschwistern in einem Dorf und denkt sich immer wieder die verücktesten Streiche aus: Er pinkelt seinen eitlen großen Bruder, der sich für ein Rendezvous schön macht, vom Dach der Dusche voll; er ärgert seinen dementen Opa und verwandelt mit anderen Kids ein ausgeschlachtetes Fernseher-Gehäuse in ein 3D-Theater.
Krieg und die Flucht: Rebellen kommen ins Dorf, Frauen und Kinder fliehen, und die Ältesten des Dorfs beschließen, dass alle Männer bleiben sollen, um das Dorf ihrer Ahnen zu verteidigen. Allerdings gibt es keine Waffen und keine Erfahrung im Kampf. Für die brutalen Rebellen ist die Eroberung des Dorfs ein Kinderspiel, und ohne viel Aufwand werden alle Männer hingerichtet. Nur Agu kann fliehen.
Ein neuer Vater, eine neue Familie: Eine kleine Söldnertruppe greift Agu auf. Der Anführer (Idris Elba) entscheidet über Leben und Tod. Er manipuliert seine Truppe mit geschickter Agitation und Rhetorik, gibt ihnen sogar ein winziges bisschen Zuneigung und militärischen Respekt. Es gelingt ihm immer wieder, die richtigen Knöpfe zu drücken und alle zu Hörigen zu machen. Das geht sogar so weit, dass er die Jüngsten sexuell missbraucht. Agu begeht auf Durck der Gruppe seinen ersten Mord, wird selbst missbraucht und erlebt schließlich die Vergewaltigung seiner eigenen Mutter, die er dabei aber erschießt, weil er es nicht aushalten kann. Dann wird auch noch sein Freund, der kleine Scharfschütze „Striker“ tödlich verwundet.
Der Regisseur türmt Szene um Szene Schrecken auf Schrecken. Natürlich ist das hier ein Film, der keinen Spaß machen soll, aber eine etwas raffiniertere, überraschendere Erzählweise hätte vielleicht der Geschichte gut getan. Der lebhafte Agu wird nach dem linearen Hiob-Prinzip immer weiter zugerichtet. Im Laufe des Films verliert er immer mehr die Fähigkeit zu sprechen, zu beten, in Gedanken mit seiner Mutter zu sprechen. Schließlich kommt das Ende seiner Truppe, Aufreibung im Dschungel, der Warlord wird abgesetzt, alle geraten in Gefangenschaft. Aber nicht nur Agu verändert sich. Idris Elbas „Commandante“ zeigt Brüche und Zwischentöne in seiner Entwicklung von einem Mann, der glaubt, für das Richtige zu Kämpfen, zu einem manischen Machtmenschen bis hin zum gebrochenen Kriegsverlierer.
Im Gegensatz zu den meisten Kindersoldaten ist das Morden bei Agu irgendwann vorbei. In der vorletzten Szene sitzt er einer Psychologin gegenüber, die ihm helfen möchte. Er hat allerdings keine Sprache für das, was er erlebt hat, die Worte finden nicht mehr aus ihm hinaus – nur seine Gedankenstimme ist zu hören. Die viel ältere Frau kommt Agu vor wie ein kleines Mädchen. Und nach allem, was er gesehen, getan und erlebt hat, weiß er: Er ist jetzt ein alter, gebrochener Mann.
Trotz dramaturgischer Schwäche ist „Beasts of No Nation“ ein konsequenter und wichtiger Film mit starken Schauspielern, der bewusst macht, dass die Probleme, die der Westen mit Kolonialisierung, Ausbeutung und Waffenexporten in Gang gesetzt hat, noch lange nicht gelöst sind.
Hier geht es zum Trailer.
USA 2015
135 Minuten
Regie: Cary Joji Fukanage
Buch: Cary Joji Fukunaga, basierend auf “Beasts of No Nation“ von Uzodinma Iweala
Kamera: Cary Joji Fukunaga
Schnitt: Mikkel E. G. Nielsen, Pete Beaudreau
Musik: Dan Romer
Mit: u.a. Idris Elba, Abraham Attah, Ama K. Abebrese