Äpfel sind Äpfel und Birnen sind Birnen
Von Wolfgang Franßen
Und die Debilen gehören in ein Heim für Debile. Kinder, die das Leben der Eltern stören, sowieso. Mag es gerade mal für Mahlzeiten reichen, das Mobiliar längst rausgetragen sein, es in den Schlafsaal hineinregnen, die Kinder auf Kleidersammlungen angewiesen sein, Hauptsache sie sind aus dem Blickfeld verbannt.
Alle Jahre wieder sorgen die deutschen Buchmessen dafür, dass Autoren/Innen in unseren Blickpunkt rücken, die es auf dem deutschen Buchmarkt nicht leicht haben. Eine Geschichte aus der Ukraine über ein Kinderheim, das sich selbst überlassen ist, in dem Lehrer sich an Schülerinnen vergehen? Selbst die Schüler besitzen ein brutales Aufnahmeritual, indem sie jedes neue junge Mädchen erst einmal in den Dreck ziehen und sie gemeinsam festhalten, damit sie einer von ihnen missbraucht. Gäbe es da nicht die Heldensaga der Weggesperrten, die darauf beruht, dass einige von ihnen es geschafft haben, dieser Hölle zu entkommen, um sich irgendwo als Hilfsarbeiter zu verdingen, würde dieses Abstellgleis verrotten.
Dass die Geschichte nicht in einer blanken Sozialanklage verödet, verdankt der Roman „Das Birnenfeld“ seiner Autorin Nana Ekvtismishvli, die inmitten des allgemeinen Zusammenbruchs die achtzehnjährige Lela in den Mittelpunkt rückt. Eine junge Mutter Courage, die zusammen mit ihrem Schützling Irakli, der es vielleicht als Adoptivkind bis nach Amerika schafft, den unwirtlichen Verhältnissen trotzt. Iraklis Mutter sucht in Griechenland Arbeit und vertröstet ihren Sohn ständig am Telefon, dass bald alles besser wird, sie wieder zusammen sein werden, wo sie eigentlich froh darüber ist, dass er ihr nicht an den Rockschößen hängt. Falsche Lügen, falsche Hoffnungen bestimmen den Alltag in einem falschen Leben.
Nana Ekvtismishvlis Heim, in der Kertsch-Straße in einem Außenbezirk von Tblisi trägt als einzige einen Namen in mitten von Plattenbauten tschechischer und Moskauer Bauart. Die Häuser sind sonst in Blöcke und Nummer unterteilt. Gleich zu Anfang steht Lelas Wunsch, jemanden zu töten, sich für das zu rächen, was ihr angetan wurde. Inmitten gesichtsloser Fassaden, hinter denen die Bewohner lieber in ihren Wohnungen ausharren oder sich gleich das Leben nehmen, rebelliert Lela, indem sie die Gemeinschaft zusammenhält. Sie ist in dem Heim aufgewachsen und weist die Gewalttätigen ebenso in die Schranken, wie sie die Schutzlosen mittels List vor dem Schlimmsten zu bewahren versucht. Sie geht sogar so weit, sich selbst zu prostituieren, um Iraklis Englischunterricht zu finanzieren, damit er einen guten Eindruck hinterlässt, wenn sich seine zukünftigen amerikanischen Eltern wie in einem Tierheim einen Familienzuwachs aussuchen.
Ekvtismishvli ist die bittere Geschichte eines unbesiegbaren Lebenswillens gelungen. Wenn du alles verloren hast, kämpfe, gibt nicht auf, besiegt bist du eh schon. Angesichts von Ausweglosigkeit ist das Plündern eines Kirschbaums in der Nachbarschaft wie ein stiller Triumph über das Vergessenwerden werden. Auch wenn der gutmütige Hund des Nachbarn danach erschossen wird. Es kommt darauf an, sich über Wasser zu halten.
Ausgemustert an den Rand gedrückt haben Zizo, Waska, Stella und Nona nur noch sich selbst. Während die Jungs sich in Gewalt flüchten und verhärten, setzt Lela alles auf den einen Tag, der kommen wird. Irgendwann. Ein Roman Noir aus einem Kinderheim in Georgien, zersetzend in der Schilderung, wie Leben dort existiert, wo niemand mehr hinschaut. Nüchtern erzählt, ohne mit dem Schicksal zu hadern.
Die 1978 in Tblisi geborene Nana Ekvtismishvli hat Philosophie, danach Drehbuch und Dramaturgie an der Filmhochschule Babelsberg studiert. Ihre beiden Filme Die langen hellen Tage und Meine glückliche Familie sind preisgekrönt und handeln ebenfalls vom stummen Ertragen der Gewalt, die von Männern ausgeht, denen die Seele verlorengegangen ist. Ein Coming-of-Age als weibliches Aufbegehren, als Einsicht, dass niemand auf dieser Welt wirklich machtlos ist. Selbst in der Kertsch-Straße nicht.
Es gibt einen Weg hinaus. Für jeden, scheint die Autorin uns sagen zu wollen. Man darf sein Leben nur nicht als Hinrichtung betrachten. Ein reicher Roman einer Autorin, die auf knapp 220 Seiten eine Welt voller abblätterndem Putz und niemals wieder heilender Verletzungen beschreibt, in der ein abgebranntes Haus als Titanic bezeichnet wird.
„Nun stehen sie da, die Birnbäume, von allen verlassen, mit niedrigen, knorrigen, warzenbedeckten Stämmen und langen, ineinander verflochtenen Ästen, die fast bis zur Erde reichen. Diese Bäume tragen jeden Sommer große, grüne, glänzende Birnen, wer doch eine abpflückt und hineinbeißt, merkt, dass sie steinhart sind und wässrig schmecken, vielleicht weil sie nie rechtzeitig bis zum Kälteeinbruch reif werden, vielleicht auch wegen des Wassers unklarer Herkunft.“
Warum schreiben, fragen sich manche Autoren. Nana Ekvtismishvli findet eine ergreifende Antwort darauf.
Wolfgang Franßen
Nana Ekvtimishvili: Das Birnenfeld. Aus dem Georgischen von Ekaterine Teti und Julia Dengg. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. Klappenbroschur, 221 Seiten, 16,95 Euro.