
Harte Arbeit, keine Idylle
Ein Nachruf auf Jerome (Jerry) Oster – von Robert Brack
Das erste Mal, als ich Jerry Oster begegnete, stand er im Flur einer seriösen Pension in Hamburg und sah in seinem schwarzen Anzug ebenfalls erstaunlich seriös aus. Ich hatte einige seiner schrägen New Yorker Polizeiromane gelesen, deren deutsche Titel Dschungelkampf oder New York Babylon lauteten, und war darauf gefasst, einen schrägen Typen kennenzulernen. Aber der Mann der vor mir stand, kam mir eher vor wie ein Kleinstadt-Priester aus einem amerikanischen Film noir der 1940er Jahre – ein bisschen streng, sehr diszipliniert.

Jerry gab mir die Hand, musterte mich seinerseits und lachte über meine Converse-Turnschuhe, die ihn an seine Schulzeit erinnerten. Die war lange vorbei. Aber über die Turnschuhe kamen wir auf seine Lebensgeschichte: Jerome Oster wurde 1943 in New Mexico geboren und wuchs in New York auf. Sein Vater, so erzählte er mir, betrieb irgendein obskures Geschäft in der Nähe des Times Square. Damals in den 50er Jahren war dies eine heruntergekommene Gegend mit Drogenszene, zwielichtigen Geschäftemachern, Kleinkriminalität, organisierter Kriminalität, Obdachlosen. Jerry erinnerte sich nicht gern daran, obwohl er alles sehr lebendig schilderte. Meine Anregung, doch über seine Jugendzeit einen Roman zu schreiben, überging er resolut.

Diesen Roman hat er meines Wissens nie geschrieben. Aber New York war das Thema in fast allen seinen Büchern. Nicht das New York der 1950er oder 1960er Jahre, sondern NYC wie er es bewusst erlebt hatte, als Erwachsener, als Journalist. Denn er arbeitete eine Zeitlang für die New York Daily News. Vom Schreiben über Literatur und Film kam er zum Schreiben von Romanen und landete bei dem Genre, das ihm am besten geeignet erschien, die brutale Wirklichkeit einer Zivilisation zu sezieren, unter deren dünner Oberfläche der Krieg aller gegen alle tobt. Logisch, dass er den Polizeiroman für sich entdeckte, denn der Polizist steht an vorderster Front in diesem Krieg, bewegt sich auf unsicherem Terrain mit vielen Untiefen. Die Buchtitel bei Rowohlt sprechen für sich: Nowhere Man, Violent Love, Death Story (sie wurden für die E-Book-Neuausgaben eingedeutscht).
Im Ganzen betrachtet beschreiben Jerry Osters Romane ein Amerika, das das Vietnam-Debakel zwar verdrängt hat, das daraus resultierende Trauma aber nicht los wird. Weder die Nüchternen noch die Berauschten, weder die Erfolgreichen noch die Gescheiterten können sich der Leere entziehen, die an Stelle des amerikanischen Traums getreten ist. Alle Versuche, den Schmerz zu betäuben, den diese Leere erzeugt, schlagen fehl.

Das war Jerry Osters Thema. Die Verstrickung der Polizisten in die allgegenwärtigen Kriminalität und Korruption, die Verbrechen des Menschen am Menschen und an sich selbst, des Polizisten an sich selbst. Joe Cullen vom NYPD zum Beispiel, der in mehreren Romanen auftritt, kämpft sich durch diesen Dschungel und kann gar nicht anders als scheitern. Auch als Mann, denn zu dem Krieg, der ohnehin schon zu viele Fronten hat, kommt nun auch noch der Geschlechterkampf hinzu. In Saint Mike zum Beispiel bestimmen eine Undercover-Polizistin und eine Koksdealerin das Geschehen.

In der Nachfolge des großen Ed McBain hat Jerry Oster den Polizeiroman in neue Gefilde geführt. Kurz war er sogar erfolgreich damit, wurde unter anderem von der New York Times als Hoffnungsträger gefeiert. Aber dann ging es doch schief. Seine Agentin starb, und er wurde im Literaturbetrieb zum „Waisenkind“, wie er selbst sagte. Seine Bücher wurden in den USA nicht mehr verlegt. Er kehrte New York den Rücken und zog nach Chapel Hill in North Carolina, raus aus dem Moloch, rein in die Provinz. Aber er schrieb weiter. Der Rowohlt Verlag hielt zu ihm und publizierte in den 90er Jahren regelmäßig die aktuellen Romane von Jerry Oster auf Deutsch als Originalausgaben. 1999 bekam er den Deutschen Krimi-Preis.

Das war immerhin ein Anlass nach Deutschland zu kommen und aus den Büchern zu lesen. Es gefiel ihm so gut, dass er wiederkam, als das Künstler-Kollektiv im Hamburger Westwerk ihm ein „Artist in Residence“-Stipendium anbot. Anschließend schrieb er eine Kriminalerzählung, die einen amüsierten Blick auf die Hansestadt und die dortige Künstlerszene wirft.
In Deutschland hatte er sich über die Jahre eine Gemeinde treuer Leser geschaffen. Zu Hause geriet er in Vergessenheit. Das hat ihn gewurmt. Mehr als ein Mal drohte er, mit dem Schreiben aufzuhören. Einem von seiner Arbeit besessenen Autor, der morgens um fünf Uhr aufsteht, um noch vor dem Brotjob am Küchentisch seine zwei, drei Seiten zu schreiben, konnte man das nicht glauben. Er brauchte die Disziplin des Schreibens. Als er mich in meinem Büro besuchte, schaute er durchs Fenster in den Garten und sagte: „Hier könnte ich nicht arbeiten. Zu viel Idylle.“

Natürlich konnte Jerry nicht mit dem Schreiben aufhören. Aber mit den Krimis hörte er auf. Sein Roman Black is the New Black, den er in Hamburg vorstellte, war auch mehr ein Gesellschaftsroman. Dann wandte er sich dem Theater zu, schrieb einige Stücke, die aufgeführt wurden, und bekam sogar Preise dafür. Außerdem war er ein wachsamer Beobachter des Zeitgeschehens und hielt mit seinen Kommentaren über die Katastrophen der amerikanischen Politik nicht hinterm Berg.
Auf deutsch sind viele seine Bücher als E-Books, weiterhin erhältlich (bei Spraybooks erschienen). Wer ihn nicht kennt, kann ihn also kennen lernen. Die Krimi-Gemeinde wird ihn irgendwann wieder lesen. Besonders die Amerikaner sollten ihn für sich entdecken: Als scharfzüngigen, bitteren Chronisten der 80er und 90er Jahre, als grandiosen Stilisten und wunderbaren Dialog-Schreiber.
Seine letzten beiden Kriminalgeschichten trugen die deutschen Titel Höhenangst und Sturz ins Dunkel. Jerome Oster hat als Schriftsteller mit eiserner Disziplin die Abgründe des menschlichen Daseins ausgelotet. Am 26. Januar 2020 ist er endgültig abgetaucht.
Robert Brack
Robert Brack bereist Welten und Epochen in Büchern, entweder auf eigenem Ticket oder als blinder Passagier. Sein letzter Kriminalroman „Der Kommissar von St. Pauli“ (Ullstein Verlag) handelt von politischen Morden im Jahr 1931, ist also leider fast gar nicht historisch. Seine Texte bei CrimeMag hier.