Geschrieben am 15. März 2017 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Matthias Bertsch: Zum 50. Todestag von Victor Gollancz

gollanczDer bedingungslose Menschenfreund

Er war ein scharfer und früher Kritiker der Nationalsozialisten, doch nach dem Krieg war er auch der erste, der auf das Leid der Deutschen hinwies. Der britisch-jüdische Verleger und Schriftsteller Victor Gollancz stellte sich auf die Seite der Schwachen und Leidenden. Vor 50 Jahren starb er in London, am 8. Februar 1967. Von Matthias Bertsch – mit einem Nachtrag in Sachen Kriminalliteratur von Alf Mayer.

„Mir fiel, als ich ihm gegenüber saß, ein Satz von Thomas Mann ein, den er während der nationalsozialistischen Zeit in der Emigration gesagt hat: Wenn das deutsche Volk nach dem Hitler-Regime zusammengebrochen ist, dann wird es ein Jude sein, der zuerst seine Stimme für Deutschland erhebt. Jetzt saß ich ihm gegenüber: Victor Gollancz, der erste, der seine Stimme für Deutschland erhebt, ist Jude.“

So heißt es in den Erinnerungen Heinrich Grübers: Doch wer war dieser Mensch, dem der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer gegen Hitler im Frühjahr 1946 in London begegnet war? Victor Gollancz, 1893 in London geboren, stammte aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, seine Vorfahren waren aus Polen nach Großbritannien eingewandert. Er selbst verlegte Bücher, in denen es nicht um Religion, sondern um Sozialismus und Pazifismus ging. 1936 gründete er den Left Book Club. Die zeitweise über 50.000 Mitglieder erhielten Bücher von Arthur Köstler oder George Orwell, aber auch seine eigenen Schriften, in denen er über den Holocaust aufklären wollte. So schrieb er bereits Ende 1942:

nazis7„Wir wissen jetzt, dass ein Viertel der gesamten jüdischen Bevölkerung der Erde mit allen Mitteln des Schreckens schändlich ausgerottet ist. Wer wissen will, wie das vor sich ging, der lese diese Stelle aus dem Brief eines polnischen Kindes: ‚Nun muss ich euch Lebwohl sagen, morgen kommt Mutter in die Gaskammer, und ich werde in einen Schacht herunter geworfen.'“

Und Gollancz fährt fort und wendet sich damit an die britischen Leser:

„Nein, niemand kann behaupten, er habe nichts gewusst. Und nun frage ich dich selbst: Leser, was hast du dagegen unternommen? Nichts? Warum? Weil du dich nicht genug gekümmert hast! Weil es dich nichts anging!“

Tilman Zülch ist Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker. Die Menschenrechtsorganisation vergibt seit 15 Jahren den Victor-Gollancz-Preis. Er erinnert an die Bedingungslosigkeit, mit der Gollancz seine humanistische Haltung vertrat. Hatte er bis Kriegsende die Verbrechen der Nationalsozialisten angeprangert, so kritisierte er danach die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten in scharfen Worten.

nazis„Da hat er dann gesagt: Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, werden diese Vertreibungen als die unsterbliche Schande aller derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlasst haben oder sich damit abgefunden haben. Die Deutschen wurden vertrieben mit dem denkbar höchsten Maß von Brutalität. Und das im Jahre 1945, wo man diese Vertreibung der Deutschen eigentlich in vielen Kreisen gar nicht so zur Kenntnis genommen hatte.“

Bereits kurz nach Kriegsende reiste Gollancz nach Deutschland und war entsetzt über das Ausmaß an Armut und Zerstörung. In einer Rundfunkansprache formulierte er seine Eindrücke auf Deutsch: „Nichts hat mich mehr betrübt als die Kinder und Jugendlichen, die ich in den Straßen herumwandern und um die Bahnhofsbunker herumsitzen sah.“

Einsatz für die leidende Bevölkerung

Zurück in London startete er die Kampagne „Save Europe Now“, in deren Rahmen Tausende britischer Bürger Lebensmittelpakete nach Deutschland schickten – zunächst gegen den Willen der Regierung. In der Bundesrepublik erhielt Gollancz viel Anerkennung für seine „prodeutsche Haltung“, doch genau darum ging es ihm nicht, machte er in einem Interview 1953 deutlich.

„Ich war niemals mehr prodeutsch als ich profranzösisch, projüdisch, proarabisch oder sonst was war. Ich hasse alles, was pro und anti ist. Ich bin nur eins: Ich bin pro Menschheit.“

1960 wurde Gollancz in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In seiner Dankesrede machte er deutlich, dass Hitler der Motor für seinen unermüdlichen Einsatz für die Menschenrechte gewesen sei. Doch die Rede endete mit einem erstaunlichen Bekenntnis:

„Hätte es mehr Güte und Liebe in der Welt gegeben, wäre Hitler vielleicht nicht Hitler geworden; er wurde, was das Leben und die Welt aus ihm gemacht hatten. Ich konnte Hitler nicht hassen. Und deswegen sage ich aus der Tiefe meines Herzens, hier in dieser Halle, die einst eine Kirche war: ‚Möge seine gequälte Seele in Frieden ruhen‘.“

Am 8. Februar 1967 starb Victor Gollancz in London an den Folgen eines Schlaganfalls. In Deutschland verweisen zwar einige Straßennamen auf den britisch-jüdischen Verleger, doch ansonsten sind Denken und Handeln dieses radikalen Menschenfreundes weitgehend in Vergessenheit geraten.

Matthias Bertsch

(Dieser Beitrag wurde am 8.2.2017 im Deutschlandfunk publiziert.)

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Immer noch in Gebrauch: die Frankfurter Vase von Victor Gollancz (Foto: Ann Anders)

Erinnernswert – Lorbeer für zwei Männer und eine alte Vase 

Eine Ergänzung von Alf Mayer, Redaktion CrimeMag: Heutige Leserinnen und Leser von Kriminalliteratur sind weit mehr von Victor Gollancz und seinem deutschen Freund, dem Exilanten Karl Anders, geprägt, als ihnen bewusst ist. Eine Vase der Höchster Porzellanmanufaktur, die bis heute in Gebrauch ist (siehe Foto), kündet von der besonderen Verbindung der beiden linken Verleger. Beide waren sie Liebhaber, Förderer und Verteidiger der Kriminalliteratur, beide taten sie ungeheuer viel für das Genre – und dies in einer Zeit, nämlich direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als es besonders evident war, dass der Kriminalroman die Literatur der Demokratie ist, in einem totalitären System nicht möglich in seiner freien Ausdrucksweise und seiner Kritik an den Zuständen.
Aber die Anekdote zuerst: An einem Oktobersonntag des Jahres 1960 also stand der kleine, knubbelige und schnauzbärtige Victor Gollancz in der Wohnung seines deutschen Freundes Karl Anders (den er er in dessen englischem Exil als Widerstandskämpfer kennengelernt hatte) und hielt die weinrot mit einer alten Stadtansicht Frankfurts bemalte Porzellanvase in der Hand, die ihm im Frankfurter Römer eben zusätzlich zum eben verliehenen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels von der Buchmessen-Stadt überreicht worden war. „Die will ich aber nicht nach Hause nehmen“, sagte er – sehr zur Freude der Frau von Karl Anders, die das Geschenk gerne einbehielt. Tja, und bei Ann Anders, der Tochter, ist diese Vase eben heute immer noch in Ehren. Das exklusive Foto entstand jetzt am 10. März, als Alf Mayer sich meldete, um sein Porträt von Karl Anders zu komplettieren (siehe in dieser CrimeMag-Ausgabe).

Hier die damals in der Paulskirche gehaltene Rede samt Laudatio. Victor Gollancz nutzte – darin dem Freund Karl Anders ein Vorbild – seinen 1928 gegründeten eigenen Verlag als Sprachrohr für seine politische Überzeugung, suchte mit ihm besonders den Pazifismus, die Völkerfreundschaft und die Sozialdemokratie zu fördern und Antisemitismus und Nationalsozialismus entgegenzutreten. Zu seinen Erstlingsautoren gehörte neben Daphne du Maurier, Kinglsey Amis und Anthony Price auch George Orwell, den er kommissionierte, über die Arbeiterklasse im nördlichen England zu schreiben, das Resultat war „The Road to Wigan Pier“ (siehe dazu auch Peter Münder unlängst bei CrimeMag). Die von Gollancz gegründete Buchgemeinschaft „Left Book Club“ (LCB) hatte an die 60.000 Mitglieder und über 1.000 Diskussionszirkel, es gelang ihm so, sozial und politisch engagierte Publikationen preiswert in weite Bevölkerungsschichten zu tragen. Eine verlässlich tragende Säule des Verlages waren dabei die bei Gollancz verlegten Kriminalromane, die meist mit gelbem Cover erschienen.

gollancz dorothylsayersmystdetectiongollancz1„Die Engländer liebten Kriminalromane“, erzählte mir Karl Anders, dessen 20. Todestag sich gerade gejährt hat. „Sie lasen sie auch mitten im Krieg in den Bombennächten, in den U-Bahnschächten, überall. Und Victor hatte damit eine sichere Einnahmequelle. Jeder neue Kriminalroman wurde ihm sofort von den Bibliotheken abgenommen. Das waren 5.000 Exemplare, von vorneherein als verkaufte Auflage sicher. Darauf konnte man bauen.“ Im Westdeutschland der Nachkriegszeit versuchte Karl Anders es ihm gleich zu tun. Aber die Romane von Raymond Chandler oder Dashiell Hammett und anderen, die er in guten Übersetzungen nach Deutschland brachte, stießen auf ungnädige Sittenwächter, nämlich auf die deutschen Bibliothekare. Denen war diese Art Kriminalliteratur zu unmoralisch. Diese Türen blieben zu. Das Selbstverständnis, das solche Literatur in Großbritannien oder in den USA genoss, galt hier nicht. Da mochte man noch so fundiert versuchen, das Genre literarisch aufzuwerten. (Siehe dazu auch das Porträt von Karl Anders nebenan und ebenso den Text über Fritz Wölckens Studie „Der literarische Mord. Eine Untersuchung über die englische und amerikanische Detektivliteratur“ von 1953: „Wie viel weiter man im Nachdenken schon gewesen ist“.)

Der Verlag Gollancz gehörte seit 1989 zu Houghton Mifflin, dann zu Orion und Cassell & Co und seit 1996 zu Hachette. Gollancz ist dort ein science fiction/fantasy Imprint. Eine Check- und Wertliste enthält R. Williams/ E. Spurriers 1989 erschienenes Buch „Gollancz Crime Fiction 1928-1988“. Eine Auswahl aus den Schriften von Victor Gollancz erschien 1960 im Nest-Verlag von Karl Anders. Der Titel: „Stimme aus dem Chaos“.

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