Zeitreisender, worüber klagst du?
Zur Verfilmung von Stephen Kings Roman „Der Anschlag“ – Versuch einer hinduistisch-buddhistischen Relecture mit Max Weber
Epilog
„Die Ruinen von Al-Zahrā’
Paläste, die der Glanz der Fest füllte –
wer kann in den Ruinen jetzt noch wohnen?
Der Vögel Klage tönt von allen Seiten;
bald schweigen sie, bald hallt ihr Zwitschern wider.
Da wandte ich mich einem Vogel zu,
auf dessen Herz erschrockne Trauer lag:
«Worüber klagst und weinst du, kleiner Sänger?» –
«Über die Zeit, die ging und niemals wiederkehrt!»“[1]
11.22.63
Angenommen, es wäre einfach so – oder stellen Sie sich Folgendes vor: Bedingung I) In einem Restaurant gibt es einen Raum, der Menschen in das Jahr 1960 zurückversetzen kann. Immer an denselben Ort, immer zur selben Zeit, immer die gleichen Leute. So lange, wie Sie wollen, können Sie sich dort/damals aufhalten. In Ihrer Zeit würden nach diesem Ausflug nur 2 Minuten vergangen sein. Und Bedingung II) Die Vergangenheit versucht, mit allen Mitteln zu verhindern, dass sie verändert wird.
Das sind gewissermaßen die Spielregeln für die (Mini)Serie 11.22.63 (2016) nach dem Stephen King-Roman[2]. Und methodisch sei angemerkt, die hinduistisch-buddhistische Interpretation dieser Serie, so wie ich sie hier vorstelle, ist stark aus der Perspektive von Max Weber herausformuliert (und damit auch dem Kenntnisstand von Webers Zeit verhaftet) und in der extremen Verkürzung eher ein Wassertropfen denn ein Meer – sowohl in Hinblick auf den großen Denker als auch in Hinblick auf Hinduismus und Buddhismus. Aber für mich erschließt sich aus der Serie heraus mit einer gewissen Plausibilität eine solche Annäherung, ein solches Experiment.
Kurz zum Inhalt: Jake Epping will unter allen Umständen das Attentat auf Präsident J. F. Kennedy verhindern (das am 22.11.1963 verübt wurde) – in der Hoffnung, so eine bessere Geschichte der USA danach zu erschaffen. Es gelingt ihm schließlich sogar – zu einem hohen Preis: Sadie, seine Freundin, wird von Lee Harvey Oswald, dem vermeintlichen Attentäter, angeschossen und stirbt. Jake kehrt zurück – aber die neue Welt ist eine Trümmerwüste und Kennedy scheint keinesfalls der erhoffte Heilbringer gewesen zu sein. Inzwischen hat die Vergangenheit Jake alles Mögliche in den Weg gelegt: von einem Hausbrand, plötzlichen Unfällen bis zu unheimlichen Visionen …
Es geht mir hier um Motive monistischer Weltreligionen, die in verkürzter Form den metaphysischen Rahmen oder Sinnzusammenhang für eine ethischen Entscheidung einsichtig machen können, ohne dass sie explizit von den Filmfiguren geäußert worden wären, aber durch die zyklische Struktur der Narration eine mögliche Deutung anbieten könnten. Multiversumstheorien beispielsweise würden in dieser Serie auch greifen, aber rein quantitative Beschreibungen (der Naturwissenschaften) oder metaphysik-freie ‚Religionen‘, wie methodisch und historisch dies auch gerechtfertigt sein mag, weisen ein gravierendes Defizit auf:
„Was wäre Religion, wenn alle Metaphysik vergangen wäre? Ist sittliches Handeln ohne eine Verankerung in einem Weltverstehen noch vernunftgestützt? Wie können sich Welterfahrung und Lebensformen ausbilden in einer Zeit, von der viele meinen, sie sei nunmehr der Metaphysik in jeder ihrer möglichen Gestalten unbedürftig geworden?“[3]
Dieser Grundgedanke findet sich schon bei Max Weber, hier mit Blick auf den Hinduismus – wichtig ist auch die Beobachtung, dass ein Sich-Verhalten-Können zu dieser Ethik (einer bestimmten metaphysischen Weltdeutung) möglich ist:
„So sicher und eindeutig das Kastensystem und die Karmanlehre den Einzelnen in einen klaren Pflichtenkreis einbettete und ein so abgerundetes, metaphysisch befriedigendes Bild der Welt sie darbot, so furchtbar konnte diese ethisch rationale Weltordnung empfunden werden, wenn der Einzelne begann, nach dem ‚Sinn‘ seines Lebens innerhalb dieses Vergeltungsmechanismus zu fragen. […].“[4]
Jakes Verhalten, seine Lebensdeutung, seine am Ende paradox-glückliche Resignation weichen aber in der letzten Folgen so sehr von den vorherigen ab, dass diese gewissermaßen rückschauend als Momente einer sittlichen Reifung gedeutet werden dürfen. Die Zeitreise muss hier nicht technisch oder physikalisch erklärt werden; sie funktioniert als eine Metapher für Entscheidungen der Akteure, die zugleich ethische Dimensionen implizieren.
Durch das Wissen aus seiner Gegenwart (von den 60ern aus gesehen: in der Zukunft) agiert Jake gottgleich – mit gutem Willen, mit guter Absicht, die katastrophalen Biographien mancher Menschen seiner Zeit zu verändern. Und dies führt aber wiederum zu neuen biographischen Katastrophen, weil Jake kein allwissender Erzähler ist, sondern ein unzuverlässiger, weil er doch nicht über alle Informationen verfügt – Informationen, die er sich erst mühsam, gleichsam in einem divinatorischen Verfahren, zusammenstellen muss, wie im Falle von Lee Harvey Oswald, und weil er nicht die alternativen Lebensgänge seiner Mitmenschen totaliter kontrollieren kann. Er wird ein scheiternder Gott – aber die Zeit ist seine Lehrmeisterin. Der anfänglich naive Jake, fanatisch getrieben und gefangen von seiner Mission, umschwärmt vom Flair der 60er, wandelt sich zu einer verantwortungsvollen Persönlichkeit. Er wird frei.
Buddhismus „[…] ist, wie alle indische Philosophie und Hierurgie, ‚Erlösungsreligion‘, wenn man den Namen ‚Religion‘ auf eine Ethik ohne Gott – oder richtiger: mit absoluter Gleichgültigkeit gegen die Frage, ob es ‚Götter‘ gibt und wie sie existieren – und ohne Kultus anwenden will. Und zwar ist er, angesehen auf das ‚wie?‘ und ‚wovon?‘ wie auf das ‚wozu?‘ der Erlösung die denkbar radikalste Form des Erlösungsstrebens überhaupt. Seine Erlösung ist ausschließlich des einzelnen Menschen eigenste Tat. Es gibt dafür keine Hilfe bei einem Gott oder Heiland. Vom Buddha selbst kennen wir kein Gebet. Denn es gibt keine religiöse Gnade.“[5]
Jake wird abermals in die Vergangenheit zurückkehren – und begegnet (wie schon zuvor) einem anderen Zeitreisenden, eher einem Gespenst gleichend, der verzweifelt immer und immer wieder versucht, da gefangen in seiner eigenen Zeitschleife, die verunglückte Tochter zu retten, was immer und immer wieder misslingt. Max Weber betont, zu fürchten sei
„[…] der stets neue unentrinnbare Tod. Immer wieder wurde die Seele verstrickt in die Interessen des Daseins, mit allen Fasern ihres Herzens gekettet an Dinge und, vor allem, an geliebte Menschen, – und immer erneut sollte sie sinnlos von ihnen losgerissen und durch Wiedergeburt in andere unbekannte Beziehungen verstrickt werden, mit dem gleichen Schicksal vor sich. Dieser ‚Wiedertod‘ war, wie zwischen den Zeilen mancher Inschriften und auch der Predigten Buddhas und anderer Erlöser erschütternd zu spüren ist, das, was in Wahrheit gefürchtet wurde.“[6]
Jake findet Sadie wieder, stellt sich ihr vor – und vielleicht im intensivsten Moment der Serie überhaupt geben sie sich zur Begrüßung die Hände … und er wird langsam die seinen aus ihren gleiten lassen: er lässt sie los! Und kehrt zurück. Seine Welt ist so, wie er sie verlassen hatte. Ob es so etwas wie eine objektive Welt geben könne, verneint die Serie; Zeit und Raum sind seit Einstein keine absoluten Größen mehr; hermeneutisch-quantenmechanisch sind wir vielleicht in die unendlich sich fortspinnenden Geschichten des Multiversums verstrickt.
Jake durchbricht seine Zeitschleife – religiös übertragen: er verlässt durch Einsicht den Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra), in den er drohte hineinzugeraten, er findet Erlösung (mokṣa) durch nicht mehr Anhaften-Wollen an seine Leidenschaft: er gibt Kennedy auf; aber seine große Liebe kann dafür am Leben bleiben: das äußere Loslassen ist nur das Sichtbarwerden seiner inneren Entscheidung. Er ist nun der Erwachte (Buddha[7]).
„Nirvana ist ein Bewußtseinszustand des vollkommenen Nicht-Anhaftens, wodurch alle Begriffe als ‚leer‘ in Bezug auf ein ihnen inhärent zukommendes ‚Wesen‘ erscheinen. […]. Es handelt sich nicht bloß um die in der europäischen Philosophie vollzogene Unterscheidung des Seins vom Seienden, denn auch das Sein wäre hier noch als ein Wesen gegenüber der Bedrohung des Nichts gedacht. Die Leere ist vielmehr die absolute Leere, in der der Gegensatz jeder Bestimmung durch Verneinung von Affirmation wie Negation integriert ist. Diese Leere – und nur sie – kann deshalb vollkommene Fülle sein.“[8]
Via Internet findet Jake Sadie wieder, nun eine ältere Dame geworden, mit der er auf einem Fest tanzen wird: ob sie ein glückliches Leben gehabt habe? Sie bejaht. Wer er sei? … ein guter Freund aus einem anderen Leben. In dem er Sadie vor ihrem sadistischen Ehemann gerettet hatte, gerettet haben wird.
Die 60er werden liebevoll, nostalgisch präsentiert – auf der Oberfläche. Dahinter tut sich eine Welt auf, die wir Zuschauer und Zuschauerinnen aus der Perspektive des Helden als abgründig erleben. (Im Umkehrschluss ist die Gegenwart aber auch keine heile Welt! Jake muss sich privat seiner Scheidung stellen. Es gab Vietnam, es gab 9/11 undundund.) Die 60er sind geprägt von einer Atmosphäre kommunistischer Verschwörungen, Machenschaften der CIA, von Rassismus (der verhindert, dass Menschen unterschiedlicher Hautfarbe ihre Liebe zueinander öffentlich bekennen können), von unglaublicher Brutalität einiger Männer ihren Ehefrauen gegenüber. Eine verängstigte und zugleich gewaltbereite, patriarchale Gesellschaft (man möchte fast hinzufügen der stupid white men) – und auf der anderen Seite Rock’n Roll, Optimismus und JFK.
Und die Vergangenheit ist unglaublich erfinderisch darin, nicht verändert zu werden. Sie – natürlich eine Personifikation! – spielt mit offenen Attacken, komplexen Intrigen, hinterhältigen Überraschungen, mit der Projektion von Urängsten und verdrängter Schuld – das Vergangene agiert wie ein Meister des Horror-Genres, eben wie Stephen King.
Prolog
„Fragen an die Kosmologen
[…] Könnt ihr mir sagen,
[…] auf wie viele Paralleluniversen
ich mich gefaßt machen muß?
Ehrfüchtig lausche ich
euren exakten Märchen,
ihr Hohepriester.
So viele Fragen. An wen,
wenn nicht an euch,
die letzten Mohikaner
der Metaphysik,
soll ich sie richten?“[9]
Markus Pohlmeyer
Zuerst erschienenen in: M. Pohlmeyer: Zwischen Welten verstrickt IV. Weltraum, Wildwest und allerlei wunderliche Wege, Igel Verlag Literatur & Wissenschaft, Hamburg 2017, Seite 46-51. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.