Geschrieben am 15. Februar 2016 von für Crimemag, Kolumne, Kolumnen und Themen

Kolumne: Frank Göhre: Gelesen. Gehört. Gesehen (5)

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Glut und Asche: Blaise Cendrars

Er ist ein Weltreisender, ein Abenteurer.
Er stellt sich jeder Situation mit offenem Blick. Bereit, neue Erfahrungen zu machen.
Er ist ein Kämpfer. Seine Linke ist gefürchtet. Der rechte Arm ist ihm weggeschossen worden.
Sein Gesicht ist wie aus Leder, wettergegerbt. In seinem Mundwinkel klebt immer eine Zigarette. Er raucht Kette, und er trinkt: Gebt mir Wein, Champagner, Cognac, Whisky zu trinken, aber bleibt mir vom Hals mit Gin und all diesen Getränken auf Ginbasis, mit denen die ganze Welt sich benebelt und die mir üble Streiche spielen …
Er wird am 1. September 1887 als Frédéric-Louis Sauser in La Chaux-de-Fonds geboren. Es ist mit 1.000 m.ü.M. eine der höchstgelegenen Städte Europas, weltweit bekannt als Schweizer Uhrenstadt.
Der oft benannten Schweizer Enge zu entrinnen ist sein Antrieb. Wie nur einige Jahre später der Friedrich Glauser haut auch er als Schüler von zuhause ab.
Er verschafft sich in St. Petersburg Einblicke in den legalen und illegalen Diamantenhandel, er arbeitet in Brüssel als Statist am Theater, knüpft erste Kontakte zu Literaten und bildenden Künstlern.
Er geht nach Paris und verdient seinen Lebensunterhalt als Übersetzer. Wieder zurück in St. Petersburg beginnt er mit einem eigenen Roman, schifft sich aber schon bald von Lettland aus nach New York ein.

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Er ist 25 Jahre alt und hat ein Leben gelebt, das für viele andere schon ein ganzes Leben ist. Für ihn ist es nur der Beginn einer langen Reise: Er gibt sich ein Gelübde. Kaum hat das Schiff gehalten, springt er auf den Quai, stößt die Soldaten der Miliz auf die Seite und umfängt mit einem Blick den unendlichen Meereshorizont, entkorkt, leert in einem Zug eine Flasche Rheinwein und wirft das leere Gefäß unter die schwarze Mannschaft eines Bermuda-Dampfers. Dann bricht er in ein Lachen aus und läuft in die unbekannte, große Stadt hinein, als hätte er´s eilig und erwarte ihn jemand.
In New York bildet er aus den Wörtern la braise (Glut) und les cendres (Asche) seinen neuen Namen: Blaise Cendrars.

Nach einem fünfmonatigen Aufenthalt kehrt er nach Europa zurück und lebt in Paris, in einer seiner dann letztlich siebenundzwanzig Wohnungen in Frankreich und anderswo.
Er freundet sich mit Guillaume Apollinaire, Philippe Soupault und Louis Aragon an, mit den Surrealisten und Anarchisten, mit den Malern Leger und Modegliani.
Er schreibt Artikel über die moderne Kunst, Filmscripte und Reportagen, Gedichte und Prosa. Nach wie vor aber ist er umtriebig und reist im Land umher.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs verpflichtet er sich als Freiwilliger bei der französischen Fremdenlegion: Das Entsetzen, das Grauen … die Bombeneinschläge, die Flüche, das Elend, der Kanonendonner der Offensive, die Bomben, die Explosionen, die Schlachtbefehle, das Knattern deutscher Maschinengewehre die uns in den Stacheldrahtverhauen niedermetzelten, der Mann, den ich mit einem Messerstich festgenagelt hatte, mein mitgerissener Arm … das spritzende Blut, die sich in mir ausbreitende Kälte und die plötzliche Angst, die heillose Furcht, zu verrecken.

Er überlebt und setzt als Armamputierter das Tippen auf seiner jazzigen Remington als sich erprobender Linkshänder fort. Mit ihr im Koffer reist er mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland, er bereist die Mandschurei und China, er reist mehrere Male nach Brasilien und hält sich dort längere Zeit auf.
Er erkundet Marseille, Bordeaux, Brest und Toulon. Er begegnet Gaunern und Gangstern, Phantasten und Besessenen. Er zieht mit Zigeunern herum und lebt in ausrangierten Eisenwagenwaggons mit Herumtreibern, Landstreicher, Clochards, Vagabunden, dem ganzen streunenden Pack, das am Rand einer Großstadt haust, den Fayence-Klebern, Regenschirmflickern und Strohflechtern, den Matratzenpolsterern, Lumpenhändlern, den Fechtbrüder, den Straßensängern und den Säuferfamilien mit ihrer Brut, ihren rotznäsigen Sprösslingen, tolpatschigen Gören, Tölen, ihrem Krimskrams, ihrem verlausten Plunder und ihren alten Opas.

 Er verbringt unzählige Tage und Nächte in Zugabteilen und Schiffskabinen, in Absteigen und besseren Hotels, logiert aber auch mal in einem Schloss mit Blick auf Küste und Meer, Champagner trinkend in Gesellschaft eleganter Frauen, die Zigarette lässig im Mundwinkel.
Er verdient als Autor und Zulieferer für die Filmindustrie mehr als 1 Million und verliert sie über Nacht bei einer Bankpleite.
Er lacht darüber: Karacho! Das Leben geht weiter.

Cendrars+Wind-der-WeltjpgEr schreibt die autobiografischen Erzählungen „Wind der Welt“ (dtv, München, 1963); „Der alte Hafen“ (Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1964); „Zigeunerrhapsodien“, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1963)
Er erzählt das abenteuerliche Leben des Trappers und Goldsuchers Jean Galmot, der fündig wird und mit dem Gewinn ein Rumhandel Imperium aufbaut, Zeitungen gründet, Banken aufkauft und schließlich als Abgeordneter von Guyana eines rätselhaften Todes stirbt: „Rum“ (Arche Verlag, Zürich, 1977).
Er schreibt „Gold“ (Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1963), den „Lebensroman“ des wie er in der Schweiz geborenen Johann August Sutter, der als General Suter Kalifornien für die Vereinigten Staaten erobert hat und der, als Milliardär, durch die Entdeckung von Goldminen auf seinem Land ruiniert wurde.[1]

Das Hauptwerk des unermüdlich reisenden und reportierenden Blaise Cendrars aber sind die beiden Romane „Dan Yack“ (Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1963) und „Moloch. Das Leben des Moravagine“ (Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1961).
Moravagine, der letzte Nachfahre ungarischer Könige, ist ein „Frauenaufschlitzer“, ein in der Irrenanstalt einsitzendes Monster. Am liebsten würde er die ganze Welt aufschlitzen. Er beschwört in wüsten Tiraden die Destruktion.
Sein Zwillingsbruder im Geiste ist Dan Yack. Er liebt, er verschwendet sich. Cendrars bringt in diesem Roman viel von seiner Zeit in St. Petersburg ein, seinen Liebschaften, den Abschieden und Aufbrüchen. Wie letztlich in jedem seiner Bücher. Denn sein Leben ist in der Tat ein einziger, großer Abenteuerroman.

cenards mora5Blaise Cendrars stirbt am 21. Januar 1961 in Paris.
Vor jetzt 55 Jahren.
Er wird 74 Jahre alt.
Es gilt, sein Gesamtwerk neu zu entdecken. [2]

Frank Göhre

[1] Wer mehr über die Vorgeschichte wissen möchte, sei als spannende Lektüre empfohlen: Jedediah Smith, Durch Amerikas Südwesten. Die Expeditions-Tagebücher, 1826 – 1827. Neu übersetzt von Niels-Arne Münch. Edition Erdmann, Wiesbaden, 2015. 248 Seiten, 24 Euro.

[2] Die Zitate sind entnommen: Blaise Cendrars. Ein Kaleidoskop in Texten und Bildern. Herausgegeben von Jean-Carlo Flückiger, Lenos Verlag, Basel, 1999; Cendrars entdecken. Herausgegeben von Peter Burri. Lenos Verlag, Basel, 1986; Blaise Cendrars: Gold. Der Lebensroman des General Suter. Übersetzt von Marlis und Paul Pörtner. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1963; Blaise Cendrars, Zigeunerrhapsodien. Übersetzt von Dieter Steland. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1963.
Im Lenos Verlag, Basel, sind leider nur noch einige Titel von Blaise Cendrars lieferbar.

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