Geschrieben am 19. Februar 2011 von für Crimemag, Porträts / Interviews

Klassiker-Check: Friedrich Dürrenmatt

Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht

–Dirk Schmidt, Anfang 2011 – mitten in den Jubilarien.

Im Januar:

Runtergefallen. Vom Regal auf den Boden. Beim Aufräumen des Arbeitszimmers. Um es spannender zu machen, sagen wir mal, von selbst. Also nicht, weil eine tektonische Ruhrgebietsschwingung in dem typischen Nachkriegshaus es in Bewegung brachte, sondern weil das ins Bräunliche angelaufene Papier nach so vielen Jahren der Einsamkeit einer Berührung bedurfte? Lassen wir diese Frage unbeantwortet und gehen weiteren nach. Muss man, nachdem man sich ins Kreuz bückt, um ein gefallenes Buch aufzuheben, es auch gleich lesen? Und – gehen wir mal zynisch ran – auch noch gleich drüber schreiben? Antwort – ja, aber nur im Januar, und nur in einem, in dem der Schnee so hoch liegt, dass er alles Zynische seit November tiefgefroren einschließt wie Hundekacke. Der November ist melancholisch und hardboiled, der Mai gehört den Katzenkrimis und der Juli taugt für Weltekel angesichts der Sommeridioten oder für Juristenthriller, wenn man beschließt, ein paar Wochen als Idiot zu gehen.

Zu Weihnachten bekam ich 27 Mails von Amazon, alle priesen spannende, packende, atemraubende Krimis, alle den Krimi des Jahres. Wobei sich die Frage stellt, wie man es schaffen soll, in der kurzen Spanne zwischen den Tagen, 27 Krimis des Jahres zu lesen. Zwangsläufig liest man also den Krimi des letzten Jahres und dann kann man auch gleich den Krimi des Jahres aus dem Jahr lesen, in dem der „Verdacht“ rauskam und Zynismus ist ja auch so was von last year. Zumal wenn die vom Buch ersehnte Berührung einen madeleinenelegant in den Deutschunterricht von Dr. S. zurückbringt. Gehalten an einem Ruhrgebietsgymnasium in einem typischen Nachkriegsanbau und der leicht schlaumeiernden Art, die Dr. S. kennzeichnete, aber nichts über seine Qualitäten als Lehrer aussagt. Ebenfalls nichtssagend ist die Tatsache, dass von den linken Lehrern, die wir mit Stolz unser Eigen nannten, in jener in der Erinnerung januarschneeweißen Zeit, als die K-Gruppen noch blühten wie heute nur die Birkenpollen, Dr. S. der zweitlinkste von allen war. Also so links, dass man es gar nicht sagen durfte, weil sonst unsagbare Konsequenzen drohten, von der politischen Polizei, die es wirklich gab, jetzt echt. Linker war nur Herr G. Der war so dermaßen saulinks, seine K-Gruppe war schon eine richtige Sekte. Das behauptet jedenfalls mein Freund Matthes, der mal mitdurfte. Die hätten alle den ganzen Abend lang nur Ja und Amen gesagt (oder von mir aus Ja und Amen, Genosse), allesamt Gehirngewaschen im wahrsten Sinnes des Wortes. Gehirngewaschen ist übrigens ein Begriff, dem man einem Lehrer, Studienrat zumal, der so nett war, einen mal in die linkste K-Gruppe von allen mitzunehmen, vielleicht nicht um die Ohren haut, wenn man sich bereits festgelegt hat bei ihm Abitur zu machen. Dr. S. war da anders. Immer entspannt, immer gut drauf. Überaus deutlich erinnere ich mich an jene letzte Schulstunde vor den Ferien, als Stefan M. grundversorgt mit dem sicheren Gefühl immer einen Platz im elterlichen Bockwurstimperium zu finden und dazu versehen mit der Selbstsicherheit, welche die Mitgliedschaft in der Schüler-Union seinem ansonsten unsicheren Charakter verlieh, Dr. S. fragte, wo er Ferien zu machen gedenke. „Und Dr. S., geht’s in die Toskana?“ Dr. S. war entspannt und gut drauf wie immer. „Niemals. Ich bin doch nicht mein eigenes Klischee – ich fahr in die Provence.“ Nun denn. Warum erinnert man sich an so was?

Und vergisst so viele wichtigere Dinge? Zum Beispiel wo man gelesen hat, dass Dürrenmatt eine völkische Phase hatte, oder wo das Buch steckt, in dem jener Gastdozent, der sage und schreibe Krimiseminare anbot, was Schlaues über Dürrenmatt vs. Chesterton zu sagen hatte. Der Verdacht braucht zur Lösung des Verbrechens auch nicht viel länger als der vorliegende Text bis hier hin. Kommissar Bärlach und sein Freund, der Arzt Hungertobel kommen beim Betrachten eines Zeitungsfotos einem ehemaligen KZ-Arzt auf die Spur. Sie vermuten, dass er nach dem Krieg seine Identität gewechselt hat und immer noch lebt und praktiziert. Und genau so ist es. Der Fall ist gelöst. Der Rest ist Coda. Wir sind auf Seite fünf. Da hat die durchschnittliche Krimikatze gerade mal ihr Fell geputzt oder in den Novemberschnee geschissen.

„Na, Dr. S., lesen wir jetzt auch Der Richter und sein Henker?“. „Ach was, sind wir ein Klischee? Wir lesen den Verdacht“. Entweder wurde das so nie gesagt oder ich kann mich nicht daran erinnern. Ich lese ihn jedenfalls wieder im stumpfen Glanz der Schneesonne und finde jede Menge weggekramte Erinnerungen und sonst nicht viel. Der Gedanke, dass ein Verdacht, wenn er erst mal in der Welt ist, nicht verschwindet, dass man ihn nur ausräumen kann, wenn man ihn widerlegt oder bestätigt, ist rührend und Fifties und wir-machen-jetzt-alles-besser ehrenhaft. Der Gedanke, dass böse Menschen einfach böse sind und fertig, war schon damals vorbei und ist nach einem kurzen Seitenblick auf die immer noch steigende Serienkillerthrillerproduktion doch von beängstigender Aktualität. Emmenberger, der furchtbare Mediziner, mordet geschützt durch den Arztkittel und seiner Privatklinik für reiche Leute immer weiter und weiter. Wie damals im KZ Stutthof operiert er seine Opfer ohne Narkose. Damals operierte er Gesunde, heute Todkranke, damals versprach er die Freiheit, heute einen Aufschub. Er fühlt sich gottgleich, wenn er Menschen quält. Dr. S. mochte das Buch nicht besonders. Wahrscheinlich der fehlende Klassenstandpunkt. Mir ging und geht es da anders. Ich versuche es mal mit einem ganz frühen Fazit und einer sehr späten Erwiderung: Es ist ehrenhaft zu diesem Zeitpunkt hinzugehen und zu versuchen, das Unbegreifliche zu greifen und das Unfassbare zu fassen. Es konnte vielleicht nicht gelingen, aber irgendwer muss ja die ersten Schritte machen. Wer sich das traut und zutraut, dem muss man eine Menge verzeihen. Ja, der Text hat Konstruktionslöcher. Aber er ist ja auch aus der Schweiz. Ja, das war ein Kalauer, aber nicht halb so schlimm, wie der Quatsch, der im Web kursiert und sich immer weiter selbst abschreibt. Inklusive der lahmen Thesen, Dürrenmatt habe Parodien auf Kriminalromane geschrieben und der „Verdacht“ eine Deus-ex-Machina-Lösung. Gulliver, der ewige Jude, der Bärlach am Schluss rettet, war es auch, der das Foto, welches die Handlung in Gang setzt, geschossen und verbreitet hat. Der Deus hat die Maschine selbst gebaut. Das ist, wenn auch keine brillante, eine klassische Konstruktion und genau so wenig eine Parodie wie der Rest des Buchs. Für seine schlechte Angewohnheit die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen, ist beispielsweise Mike Hammer erst Jahre später indiziert worden. Egal – Dürrenmatt hat den Kriminalroman nicht parodiert, sondern versucht,  an neue Grenzen zu führen. (Zumindest, was den deutschsprachigen Raum angeht.) Allein dieser Versuch macht den „Verdacht“ zu einer Kathedrale in der Wüste. Ich persönlich bin Jahre meiner Jugend durch diese Wüste gegangen, bis mir der erste Band aus Rowohlts schwarzer Serie in die Hände fiel. So war das im Nachkrieg.

Im Februar

Schnee weg. Neues Leben. Aasiger Winterregen und in der Zeitung ein Familienvater, der einen Zehnjährigen vergewaltigt und ermordet hat. Er gibt an, er habe beruflich unter Stress gestanden. Am nächsten Morgen meldet sich ein Schauspieler und fordert eine Meldepflicht für Sexualstraftäter. Wer wissen möchte, wo der nächste wohnt, braucht nur im Web nachzusehen. Wie in Amerika eben. Bleibt anzumerken, dass der durchschnittliche Amerikaner in der Regel wenigstens gut genug bewaffnet ist, um seine Probleme mit einem nebenan wohnenden Sexualstraftäter final auszudiskutieren. Wir können viel von den Amerikanern lernen. Warum fangen wir nicht mal mit der Kunst einen Kriminalstoff zu entwerfen an? Um einem alten (amerikanischen) Witz die Ehre der Variation zu geben: Wenn ich noch einmal leben dürfte, würde ich alles wieder genau so machen, nur den Schimanski vom 29. Januar 2011 würde ich mir nicht noch mal ansehen. Die Kriminalromane von Dürrenmatt würde ich noch mal lesen. Für die Begräbnissequenz von „Der Richter und sein Henker“ gebe ich einen großen Teil der 27 Krimis des letzten Jahres und für den Spannungsaufbau im „Verdacht“ so ziemlich jeden Tatort der letzten Jahre.

Fazit die Zweite: Was kann der arme Dürrenmatt dafür, dass er als ewiges curriculares Feigenblatt für mittlerweile Generationen von Studienräten herhalten muss, deren Schüler auch mal einen „literarischen Krimi“ gelesen haben sollen, bevor sie Grisham/Larsson/was der Markt gerade ausspuckt lesende Investmentbanker werden. Der „Verdacht“ braucht keinen Klassikercheck. Man muss nur ein wenig Staub vom Papier blasen und fertig werden bis der Schnee schmilzt.

Dirk Schmidt

P.S. Warum der Mai den Katzenkrimis gehört? Weil die vielen Allergiker, die seit April nicht aus dem Haus können, spätestens dann keinen Stoff mehr haben und der Mai ist nun mal nicht der Monat um den „Verdacht“ zu lesen. Und außer den Birkenpollen steht auch der Zynismus bereits wieder in voller Blüte und deshalb, so habe ich mir sagen lassen, bekommt eine erschütternd hohe Zahl von Allergikern Katzenkrimis geschenkt. Da dankt man dem Herrn, dass man katzenkrimiresistent und auch ansonsten allergiefrei ist. Nur von der Post-3.Reich-Nazi-Architektur im Ruhrgebiet kriege ich manchmal Pickel. Die Architekten hier haben als Nazibaumeister angefangen und dann einfach weitergemacht und immer weitergemacht und ich muss drin wohnen. Immerhin, Dr. S ist immer noch entspannt und gut drauf wie immer. Ich habe ihn das letzte Mal getroffen, als er mir sein zum Verkauf stehendes Jugendstilhaus zeigte. Wir konnten uns leider nicht im Entferntesten auf einen Preis einigen. Aber ich habe ihn immerhin etwas gefragt, was ich schon immer wissen wollte. Fontane. Er hat über Fontane promoviert.

Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht. Diogenes, 2004. 128 Seiten. 8,90 Euro.
Friedrich Dürrenmatt:  Sein Leben in Bildern. Texte aus dem Nachlass und Hunderte von unveröffentlichten Fotos. Diogenes. ca. 304 Seiten.  87 Fr., erscheint im Frühling 2011. Verlagsinfo
Alexander Mitscherlich / Fred Mielke (Hg.)
: Medizin ohne Menschlichkeit – Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt: Fischer Verlag.
Mickey Spillane, The Mike Hammer Collection Volume 1. Max Allan Collins (Introduction) Publisher: NAL Trade. First Edition. 1 in number line edition (June 12, 2001) ISBN-10: 0451203526 ISBN-13: 978-0451203526

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