
Ich bin der Scheingefechte müde
Helmut Mauró ist von Igor Levit offenbar genervt, er hält ihn für einen weit überschätzten Pianisten. Er kann nicht verstehen, warum Levit immer berühmter wird und offenbar auch durch sein politisches Engagement an Einfluss in anderen Bereichen gewinnt. Da hat sich etwas angestaut, das muss jetzt raus. Deshalb schreibt er mit der Autorität eines wichtigen Autors und Kritikers der SZ einen Artikel. Es ist aber kein kritisch abwägendes Stück, sondern eine durch und durch bösartige Polemik. Auch eine Polemik kann ihre Berechtigung haben, aber gerade Polemiken sollten sorgfältig und gut geschrieben sein.
Maurós Polemik ist in erster Linie schlecht geschrieben, weil sie alle Aspekte nicht klar benennt, sondern insinuiert und amalgamiert. Das Charakteristische an einem Amalgam: man weiß gar nicht, wo man anfangen und aufhören soll, die schiefen Bilder und eben mal hingeworfenen Behauptungen zurechtzurücken und auseinander zu ziehen.

Ich versuche es mit dem Einstieg in die Polemik, der ja immer besonders wichtig ist. „Der Pianist Igor Levit zeigt jetzt mehr Gefühl, er zwingt sein Gesicht auf die Tastatur hinunter, als sei er so noch mehr bei der Musik oder eben immerhin bei sich.“ Wer Levit erlebt hat, was ich schon tat, als ihn noch niemand kannte, kann ihm viel absprechen, aber sicher nicht, dass er Gefühl zeigte und zeigt. „Jetzt“ schreibt Mauró, als habe Levit das eben erst entdeckt. Schon immer hat Levit, man mag es für eine Marotte halten, vor dem Spielen sein Gesicht zur Tastatur geneigt, die Tasten gestreichelt, erst sanften Kontakt mit dem mechanischen Tier Flügel aufgenommen, sich vielleicht auch seiner selbst versichert. Ich habe das immer als sehr ehrlich erlebt, und vor allem: nicht erst seit heute. Später wird Mauró vor allem das mediale Engagement Levits hämisch beleuchten und insinuieren, dass Levit erst durch dieses ein berühmter Pianist geworden sei, was offenkundiger Unsinn ist. Der Einstieg in die Polemik wird also dann nachträglich so verstanden, als sei Levits Einstieg in seine Konzerte ein Spiegel der Twitterei. Das hat sicher nichts miteinander zu tun.

Als nächstes zieht Mauró völlig unerwartet ein Kaninchen aus dem Zylinder: „Nur eine Pose? Schwer zu sagen. Der mit 29 Jahren vier Jahre jüngere Daniil Trifonov verzieht seit jeher das Gesicht am Klavier, andere Pianisten wie Alfred Brendel waren geradezu berüchtigt für ihr Gesichtsballett.“ Trifonov spiele aber „in einer ganz anderen Liga“ als Levit. Trifonov ist offenbar der heiß verehrte Pianist der Generation Levit, der sich aber eben nicht politisch äußere und daher vermutlich weniger anerkannt werde, obwohl er es doch viel mehr verdiene. Wie ich Trifonov erlebe, der völlig unabhängig von Levit Karriere macht und viel Ruhm genießt: Eher Levit durchaus ähnlich, mit einem radikal subjektiven Ansatz, den ich bei beiden für nicht unproblematisch halte. Mauró: „Trifonovs technisches Raffinement, sein perfektes Legato (über das Levit leider gar nicht verfügt), sein Formbewusstsein, sein hochriskant emotionales Spiel, sein Sinn fürs Ganze, für Spannungsaufbau, für schiere musikalische Intensität heben ihn derzeit über andere weit hinaus.“ Einmal davon abgesehen, dass Legato kein Selbstzweck ist und Levit durchaus über eines verfügt, das sich aber von demjenigen Trifonovs unterscheidet, so könnte man die Aussage genau auf Levit anwenden. Was soll das? Mauró hält einen von zwei sich im Grunde gar nicht unähnliche Künstler für himmelhoch dem zweiten überlegen. Wie kann die dumme Welt das bloß nicht merken! Weil sie, so Mauró, erst durch Levits Twitter-Äußerungen überhaupt von ihm erfahren hat und sich jetzt davon beeindrucken lässt. „Levit ist als Twitter-Virtuose ebenso bekannt wie als Pianist. Und das ist für eine Karriere 2020 offenbar mindestens so entscheidend wie das Musizieren selbst. Während Trifonov sich auf ein paar private, vor allem aber künstlerisch bestimmte Tweets beschränkt, ist Levit auf Twitter nicht mehr zu entkommen.“ Wirklich? ich habe überhaupt kein Twitter, und wenn ich es hätte, könnte ich immer noch das lesen, was mir gefällt. Trifonov ist Maurós (ganz ungeeigneter) Kronzeuge, obwohl kaum einer der vielen Anhänger Levits ihn vermutlich dauernd vergleicht und herabsetzt. Das tut aber Mauró mit Levit und schiebt Trifonov in Wirklichkeit vor, das ist unredlich und ein Scheingefecht.
Und dann der Aufreger, der Mauró jetzt den Vorwurf des Antisemitismus eingebracht hat: „Es hat sich da ein etwas diffuses Weltgericht etabliert, deren Prozesse und Urteile in Teilen auf Glaube und Vermutung, aber auch auf Opferanspruchsideologie und auch regelrechten emotionalen Exzessen beruhen. Es scheint ein opfermoralisch begründbares Recht auf Hass und Verleumdung zu geben, und nach Twitter-Art: ein neues Sofa-Richtertum.“ Die Chefredaktion der SZ hat sich dafür entschuldigt, Gefühle der Leser und des Juden Igor Levit seien verletzt worden, man habe ihn „als Menschen herabgewürdigt“. Mauró erwähnt später, dass Levit in einer Talkshow den AfD-Anhängern das Menschsein abgesprochen hat. Wie bequem für alle Seiten, wenn man die Antisemitismus-Keule immer parat hat und sich gegenseitig das Menschsein absprechen kann. Auch das ist ein Scheingefecht. Mauró spricht über die virtuelle Welt von Twitter und Co. und hat mit manchem auch Recht, er insinuiert mit belasteten Begriffen aber inakzeptable, diffuse Bilder. Und Levit ist also auch Teil davon, weil er sich dort äußert? Jetzt müsste die genaue Diskussion anfangen, ob Levits Ansichten tragfähig, akzeptabel oder sinnvoll im Kampf gegen Rechts sind. Stattdessen werden wir mit nicht nachprüfbaren ästhetischen Vergleichen mit einem wehrlosen Pianisten-Kollegen konfrontiert, was jede Diskussion über das öffentliche Wirken Levits verunmöglicht. Ein Scheingefecht. Und die Verteidiger Levits können sich wohlig hinter dem Antisemitismus-Vorwurf zurücklehnen, ohne den kritischen, differenzierenden Denkapparat in Bewegung zu setzen und sachlich, gründlich, und sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer) mit anderen diskutieren zu müssen.
Ich bin zu müde, um noch alle anderen diffusen, von Ressentiment und Versteckspiel geprägten Aspekte der Mauró-Polemik auseinander zu nehmen. Ich bin auch zu müde, um die nicht wirklich offene, direkte Entschuldigung der Chefredaktion weiter zu beleuchten. Diese hätte ein Zeugnis von schlechtem Journalismus vorher mit dem Autor diskutieren sollen.
Clemens Goldberg
Zu dem Vorfall Hintergrund auch auf br-klassik.de

Der Cellist, Musikwissenschaftler, Radio-Autor und Moderator Clemens Goldberg lebt in Berlin. 2003 gründete er die Goldberg Stiftung, inzwischen längst ein fester Bestandteil des Kulturlebens nicht nur in Berlin, sondern auch international, und auf vielfältige Weise mit den Akteuren der Musik des 15. Jahrhunderts verbunden. Nach dem Vorbild der Florentiner Akademie im 15. Jahrhundert errichtete die Goldberg-Stiftung auch eine Internet-Akademie. Jenseits der eingefahrenen universitären Forschung in einzelnen Disziplinen soll ein freies interdisziplinäres Forum für Beiträge zur Ästhetik, Musikwissenschaft, Soziologie, Geschichte, Literatur-wissenschaft und Semantik zur Verfügung stehen. Schwerpunkt: das Zeitalter der Renaissance.
Internetseite der Stiftung: www.goldbergstiftung.org