Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Katja Bohnet war in „Tenet“

Wenn Tom Cruise ins Kino geht

„Tom Cruise geht ins Kino.“ Neulich in den online-News.
Seit wann ist das eine Nachricht wert? 
Tom Cruise nimmt ein Bad. 
Tom Cruise isst ein Butterbrot. 
Tom Cruise stößt einen Sack Reis in China um.
Wen interessiert’s? 

Wer sich darüber gewundert hat, erfährt: Tom Cruise hat sich in London angeblich während der eigenen Dreharbeiten den neuen Film von Christopher Nolan angeschaut. Erst, wenn man „Tenet“ selbst gesehen hat, wird klar warum. Cruise wollte sich überzeugen, ob sein Dauerbrenner „Mission Impossible“ Konkurrenz bekommen hat. Warum? Wer sich alle Teile der unmöglichen Missionen reingezogen hat, weiß, dass viele Sequenzen Film-Geschichte geschrieben haben. Wie der Titel schon besagt, sollte hier das Genre des Actionfilms an die Grenzen getrieben werden, manchmal auch darüber hinaus. Unvergessen die Szene, in der der damals fast kindlich anmutende Tom Cruise in Brian de Palmas Meisterwerk von 1996 (Gott, sind wir wirklich schon so alt?!) sich durch die Decke eines rein weißen Hochsicherheitscomputerraums abseilt. Jeder Tropfen Schweiß, der von seiner Stirn rinnt, wird zum Thriller. Ein Cliffhanger als Cliffhanger. Ikonographisch auch das von John Woo inszenierte Motorradduell in Teil MI.II. Davon gäbe es noch mehrere Momente. Und vielleicht könnte das auch schon alles sein, was über „Tenet“ zu sagen ist: „Mission Impossible“ lässt grüßen. 

Gegen Bregenz anstinken

Schon die erste Szene ist nicht ohne Referenz. Auch wenn der geneigte Filmbegeisterte fragen kann, ob das innerhalb des Genres überhaupt noch möglich ist. Das betrifft übrigens sowohl Bücher als auch Filme. 

Hier kommt eine andere stilbildende Reihe ins Spiel: James Bond. „Tenet“, wir befinden uns in der Oper von Kiew, ein grauer Bau; innen wird das beginnende Konzert durch ein Terror-Kommando gestört. Eine CIA Truppe greift ein. Ja, es gibt sie noch im Film, die CIA. Anstatt einen Behälter mit Plutonium zu sichern, entscheidet sich der Protagonist, das Leben der Zuschauer zu retten. Oper, Oper. Da war doch was. Architektonisch interessant ist hier die Verbindung zu der Eleganz des Bregenzer Opernhauses aus „Ein Quantum Trost“, zur Wiener Oper in Mission Impossible – Rogue Nation kontra Beton-brut in „Tenet“. Nicht nur architektonisch schließt sich in „Tenet“ vom Anfang bis zum Ende in einer vergessenen russischen Stadt aus Beton der Kreis. Aber gegen Bregenz muss Kiew erst mal anstinken.

Inversion und Anapest

Wer denkt, dass im Film der Atomkrieg droht, irrt. So einfach macht es sich der heutige Blockbuster nicht mehr. Seit den Bomben auf Nagasaki und Hiroshima wissen wir, dass die Realität immer noch mit Abstand die hässlichsten Blüten treibt. Was der Welt in „Tenet“ droht, ist die Inversion der Zeit. Invertierte Objekte werden gefunden. Zum Beispiel Munition, die rückwärts fliegt. Immer wieder gehen Menschen rückwärts durch die Zeit. Halten Sie sich fest: Ein russischer Oligarch möchte den Fluss der Zeit umdrehen. Schlagwort Entropie. Was da den Zuschauern inmitten von Schießereien, lebensrettenden Maßnahmen, pumpender Musik und der Planung neuer absurder Ablenkungsmanöver an physikalen Grundlagen aufgetischt wird, muss er erst mal fraglos schlucken. Man könnte auch einem Triathleten auf der Zielgeraden des Ironman parallel zu der Musik von Sven Väth Jambus, Trochäus, Daktylus und Anapest erklären. Was das Umkehren des Zeitflusses für die Menschheit bedeuten soll? Unbeschreiblich. Verderben. Vor manchen Bildern kapituliert sogar der Film. 

Zwei herzensgute Frauen

Die Schauspieler John David Washington und Robert Pattinson liefern gute Leistungen ab. Der Protagonist ohne Namen steht nicht umsonst für die Namenlosen, die die Menschheit vor dem retten, von dessen unheilvoller Existenz sie nie etwas erfahren werden. Geheimdienste haben sich von jeher so legitimiert. Dünnes Eis in jeder Demokratie. Der Protagonist ist schwarz. Das ist bemerkenswert, weil wir nicht nur im Film mehr Diversität brauchen. An dieser Stelle hört der Fortschritt in „Tenet“ aber auch schon auf. „Tenet“ ist ein männlicher Film, sowohl in der Produktion als auch bei den Darstellern. Zwei Hauptfiguren sind weiblich. Elizabeth Debicki verkörpert den Typ heißes, blondes Model, das aber in die uralte Rolle der Madonna-Mutter schlüpfen soll. Das Praktische am Action-Film: Die Fragen, wie diese herzensguten, schlanken Frauen immer wieder an diese fiesen, alten Waffenhändler geraten, werden einfach mit dicken Kanonen weggeblasen. Nachdenken kann man ja auch später noch. 

Das Sator-Quadrat

Schöner Moment, wie sich die andere weibliche Hauptfigur, Frau eines indischen Waffenhändlers, als die eigentliche Chef-Dirigentin entpuppt und ihren Mann zum Drinks-machen abkommandiert. Bond umgekehrt. Geschüttelt und gerührt. Das war’s dann aber auch. Der Rest ist männliches Testosteron. Das blonde Sexgiftmuttertier soll bei der Rettung der Welt eine Schlüsselrolle spielen. Natürlich vergeigt sie es, weil sie lieber Rache an ihrem bösen Ehemann Andrei Sator üben will. Den Russen Sator gibt übrigens Kenneth Branagh und falls Sie wissen wollen, warum Andrei mit Nachnamen Sator und der Film „Tenet“ heißt, dann schlagen sie es doch einfach so wie ich nach. Stichwort: Sator-Quadrat. 

O-Ton der Rächerin im Film: „Euch (Männern …) wird schon was einfallen.“ Doofer geht’s schon gar nicht mehr. Männer sind Macher, geile Frauen blond, die Russen die Bösen. Die Welt mag unsicher geworden sein, aber auf diese Eckpfeiler ist Verlass. 

Terminator lässt grüßen

Die Action in „Tenet“ ist schnell und treibend. Nur der Showdown in einer russischen Geheimstadt hat Längen. Da gehen selbst manche Videospiele steiler. Daher rührt die Ästhetik in diesen letzten Szenen. Schnitt: Jennifer Lame. Meisterin des Cuts von „Manchester by the Sea“. Andere Baustelle, aber auch ein dickes Brett. Filmisch anspruchsvoll und aufregend dennoch, wie Nolan Zeitebenen parallel vorwärts und rückwärts laufen lassen kann. Ein Hoch auf das fast vergessene Spionage-Vokabular „Drehkreuz“ und „toter Briefkasten“! Der Algorithmus, der am Schluss die Welt bedroht, ist ein Metallding aus überdimensionierten Schraubenmuttern. Ist doch tröstlich, dass das Digitale irgendwann wieder das Analoge braucht, um sich zu manifestieren. Hier lässt Arnold Schwarzenegger aus „Terminator“ grüßen. Die Musik im Film ist furios. Mit dem entsprechenden Dolby-Super-Mega-Ultra-Surround-System brennt der tekknoide Sound Löcher in die Trommelfelle. Der Ton brutzelt, pumpt, zischt, dröhnt, heult wie eine Sirene, bis fast die Lautsprecher bersten. Er zieht die Zuschauenden durch die 150 Minuten Film. Das musikalische Werk von Ludwig Göransson, der nicht umsonst stets kurz nach Nolan genannt wird. 

FSK für Senioren

Altersfreigabe: ab 12 Jahren. Hey, da nehme ich doch die Kinder mit! Wer die Angaben der Freiwilligen Selbstkontrolle beobachtet, stellt fest, dass besonders Sex auf dem Index steht. Gewalt muss schon sehr explizit sein, damit der Film ab 16 oder 18 Jahren empfohlen wird. In „Tenet“ erfahren die Zuschauer, dass dem Protagonisten unter der Folter die Zähne gezogen wurden, aber während es geschieht, fährt gnädig ein Zug vorbei, der das Grauen verdeckt. Macht ja nichts, wenn Zwölfjährige sich das nur vorstellen. Welche Ironie. Was die ständige Ballerei anbelangt, sind Kinder von „Fortnite“ Schlimmeres gewohnt. Headshot. Heavy sniper. Nur in lustigen Skins und Kostümen. Man muss mittlerweile fragen, ob die Freiwillige Selbstkontrolle nicht lieber eine Altersgrenzen für Senioren festlegen sollte. Altersfreigabe für „Tenet“: unter 50 Jahren.

Grundsätzlich geil

Christopher Nolan spielt in „Tenet“ virtuos mit Zeitebenen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nur Spielwiesen, das Lineare gehört der Vergangenheit an. Endlich stoßen wir in andere Dimensionen vor, lernen wir, „neu zu denken“. Erzählungen heute dürfen sich ruhig häufiger an diesem Credo orientieren. Der Film bietet trotz des Verharrens in alten Rollenmustern furiose Action. „Tenet“ ist wie die schnelle Fahrt auf einem getunten Motorrad. Zu laut, braucht zu viel Sprit, nicht mehr zeitgemäß, aber eine aufrüttelnde, fast körperliche Erfahrung, die wir immer wieder mal benötigen. Ein Riesenspaß, bei dem die Guten noch gewinnen dürfen.  

Katja Bohnet

Tenet: Regie: Christopher Nolan, mit John David Washington, Robert Pattinson, Kenneth Branagh, Elizabeth Debicky, Schnitt: Jennifer Lame, Kamera: Hoyte van Hoytema, Musik: Ludwig Göransson. USA/UK 2020, 150 min, FSK 12.

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