Geschrieben am 15. August 2017 von für Crimemag, Interview

Interview zum G20-Gipfel: Simone Buchholz im Interview mit Marcus Müntefering

g201Verraten und verkauft

Simone Buchholz war während des G20-Gipfels nicht in Hamburg. Weil sie mitten auf St. Pauli wohnt, quasi auf halbem Weg zwischen Reeperbahn und Schanze, in einer engen Straße, die auf jeden Fall zu den Routen der Gewalt gehören würde. Und weil sie ein neunjähriges Kind hat, das sie nicht in Gefahr bringen wollte. War es die richtige Entscheidung? Vielleicht nicht. Aber es war die einzig mögliche. Im Interview mit Marcus Müntefering spricht die Schriftstellerin darüber, was sie in den Wochen nach (und vor) dem Gipfel erlebt hat – einen Stadtteil im Belagerungszustand, im Ausnahmezustand, am Ende seiner Kräfte. Aber auch Menschen, die trotz aller Widrigkeiten weiter kämpfen für ein selbstbestimmtes Leben jenseits der Konformität.
Das Gespräch fand am 27. Juli am Küchentisch von Marcus Müntefering statt. Es dauerte etwa zwei Stunden und war sehr intensiv. Dabei wurde eine Flasche Weißwein in Form von Schorle zu sich genommen. Eine kurze Fassung wurde bei Spiegel Online veröffentlicht, auch die hier vorliegende Fassung ist keine vollständige Abschrift. Simone Buchholz und Marcus Müntefering kennen sich seit zwei Jahren. Erst seit zwei Jahren muss man sagen, denn beide leben auf St. Pauli, Simone seit fast zwanzig, Marcus seit fast neun Jahren. Seit einem Jahr sprechen die beiden in der Öffentlichkeit über Kriminalromane, im Rahmen des Talks „Trio mit 4 Fäusten“, der regelmäßig in der Bar 439 stattfindet. 20638262_1595289270521106_933779555454190543_nDer nächste Termin ist der 25. Oktober. Und wahrscheinlich wird der G20 immer noch Thema sein. Zumindest am Rande.

Marcus: Wie würdest du deine Gefühle drei Wochen nach G20 beschreiben?

Simone: Um es plakativ zu sagen: Verraten und verkauft für einen Haufen Scheiße.

M: Das klingt vor allem nach Wut.

S: Es ist, als würdest du vor jemandem stehen, dem Gewalt angetan wurde, und du würdest ihn gern trösten. Aber von überall kommen permanent diese Stimmen, die sagen: Alles wird gut, wird schon alles wieder gut. Damit der, der den Schmerz hat, aufhört sich zu beschweren, und auch nicht traurig sein kann. Seine Schrammen und Wunden sollen einfach weggewischt werden.

M: Hast du das Gefühl, dass zu wenig über die Menschen aus St. Pauli und der Schanze berichtet wird, die am meisten unter dem G20 zu leiden hatten?

S: Ich habe den Eindruck, die meisten Hamburger hätten gern, dass das alles ganz schnell heilt, aber dann gibt es die im Zentrum, die aufs Maul gekriegt haben, und die sagen: Aber so einfach heilt das jetzt nicht. Gewalt hinterlässt Narben. Auf der Haut, auf der Seele. Über die wird ganz wenig gesprochen im Moment.

M: Wobei in den betroffenen Vierteln extrem viel geredet wird. Eine außerordentliche Stadtteilversammlung unlängst war völlig unüblich überfüllt. (Ergänzung: gut eine Woche nach dem Gespräch, hatte der (ein wenig zu) eilig zusammengestellte Doku-Film „The People vs G20“ im Hamburger Knust Premiere, auch hier kamen über 1000 Menschen).

S: Klar, vor allem in der ersten Woche nach dem Gipfel gab es bei uns kaum ein anderes Thema. Und der Redebedarf ist immer noch gigantisch.

M: Du lebst seit knapp 20 Jahren auf St. Pauli, was hast du in den vergangenen Wochen für Geschichten gehört?

S: Viel Schlimmes. Wie die Geschichte von der Gastronomin, die vor ihrem Zuhause eine Barrikade abbauen wollte und der von einem Polizisten die Kniescheibe zertrümmert wurde. Ein doppelter Bruch. Was das bei ihr hinterlässt, mag man sich gar nicht vorstellen. Davon ganz zu schweigen, dass sie kaum in der Lage sein wird, ihre Bar zu führen. Solche Geschichten von Anwohnern gibt es zuhauf, und wenn ich so etwas höre, denke ich nur: „Mann, Herr Scholz, wie konnten Sie uns das antun?“. Ich würde zu gern erleben, wie Olaf Scholz sich mit Menschen wie dieser Gastronomin trifft. Aber das wird wahrscheinlich nie passieren. Aber es gibt auch andere Geschichten, wie die von einer Freundin, die am Freitag, als es in der Schanze eskalierte, nach Hause ging und zwei Polizisten traf. Die saßen mit ihren Helmen im Schoß am Straßenrand und weinten. Nach 40 Stunden im Einsatz waren sie am Ende und hatten das Gefühl, dass alles aus dem Ruder läuft, weil sie beim kleinsten Scheiß reingehen müssen. Schließlich haben die beiden meine Freundin nach Hause gebracht, um „am Ende doch noch irgendwas Sinnvolles zu tun“. Das zeigt doch, dass, wenn die Menschen ihre Masken abnehmen, schnell ein Ende mit der Gewalt sein kann.

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M: Du selbst warst am G20-Wochenende nicht in der Stadt. Bereust du diese Entscheidung?

S: Ich habe schon das Gefühl, St. Pauli im Stich gelassen zu haben. Als ich in meinem Exil an der Ostsee saß und es anfing zu knallen, dachte ich, dass ich jetzt gern zu Hause wäre. Nicht um mitzumischen, sondern um da zu sein, Haltung zu zeigen. Und man hört in den Straßen immer wieder diesen Satz: Wäre der Stadtteil in der normalen Besetzung gewesen und nicht halb leer, hätte man dem Chaos vielleicht etwas mehr entgegensetzen können. Aber für mich gab es keine Alternative. Ich habe einen neunjährigen Sohn, den ich nicht in Gefahr bringen wollte. Ich hatte Angst davor, dass sich in unserer eng bebauten Straße ähnliche Szenen wie in der Schanze abspielen könnten.

M: Wann bist du zurückgekommen?

S: Am Sonntag, und ich musste abends sofort raus an den Tresen, an dem meine Freunde sitzen. Ich wollte bei ihnen zu sein, mit ihnen reden. Viele von ihnen hatten sich im Vorfeld engagiert, zum Beispiel beim Projekt Arrivati Park, der ja ein Ort des friedlichen, bunten Protests sein sollte, an dem keine Flaschen geschmissen werden. Die waren nach den Gipfeltagen ziemlich angeschlagen, aber nicht entmutigt.

M: Am Sonntag kam dann ja auch gefühlt halb Hamburg zum Putzen in die Schanze – was nicht jedem gefallen hat, der dort lebt.

S: Ich fand das sieben Sekunden rührend, und dann dachte ich: Wie können die Leute die ganze Schanze putzen? Wie können die Leute glauben, dass dadurch, dass man etwas sauber macht, eine Wunde weggeht. Man kann auch etwas kaputtschrubben, muss das doch erst mal heilen lassen. Und dann kommen da Leute aus allen Stadtteilen und haben die Graffiti weggeschrubt, eine unangenehm deutsche Nummer. Eine Freundin von mir nennt das immer Perle-Tourette: Hamburg, meine Perle, hier soll es bitteschön ganz schön sein, ganz nett und ganz sauber. Das hat den Verantwortlichen aus der Politik bestimmt gefallen.

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M: Warst du überrascht, wie heftig die Auseinandersetzungen waren?

S: Nein, mir war wie vielen anderen vorher klar, was passieren würde. Aber keiner hat im Vorfeld mit uns geredet, keiner wollte unsere Bedenken hören. Stattdessen waren wir wochenlang einer massiven Polizeipräsenz ausgesetzt. In der Woche vor dem Gipfel war es ja fast so, als hätte Einsatzleiter Dudde die Regierungsgeschäfte übernommen. Man hatte das Gefühl, permanent von der Polizei misstrauisch beäugt zu werden, nur weil man wohnt, wo man eben wohnt. Die Stimmung im Stadtteil war dadurch ziemlich unfreundlich, repressiv und demokratiefeindlich.

M: Wie hast du im Vorfeld die Beschwörungen empfunden, man habe alles im Griff?

S: Ich habe hinterher Stimmen aus der Polizei gehört, die gesagt haben: Es gab keine Toten und keinen Terroranschlag. Ziel erreicht. Das heißt doch, dass die Verantwortlichen mit dem Schlimmsten gerechnet haben müssen, auch Olaf Scholz mit seiner Gipfelgeilheit und seinem Weltstadtwahn. Also frage ich mich: Warum haben die vorher so getan, als wäre das alles kein Problem. Wofür halten die uns? Für einen Haufen Hobbits?

M: Olaf Scholz wird teilweise heftig kritisiert für seine mangelnde Bereitschaft, eigene Fehler zuzugeben. Wie ordnest du als Schriftstellerin in diesem Zusammenhang die Rhetorik der vergangenen Wochen ein. Es fallen ja immer wieder Begriffe wie Mordbrenner und …

S: … Denunzianten. Dieses Phrasengedresche finde ich sehr unangenehm. Wenn ich den Begriff „bürgerkriegsähnliche Zustände“ höre, kriege ich einen Rappel. Oder wenn Scholz Polizeigewalt als linken Kampfbegriff bezeichnet. Da geht es doch nur darum, die Macht über die Sprache, die Deutungshoheit zu erobern. Und damit zementiert man die Verhältnisse – was übrigens für beide Seiten gilt. Aber wir brauchen jetzt weder markige Worte noch Betonstandpunkte.

M: Was wünscht du dir stattdessen?

S: Ich möchte, dass es eine ehrliche politische Aufarbeitung gibt, dass keine Denkverbote und Redeverbote ausgesprochen werden. Wenn man so etwas wie Vertrauen in politisches Handeln zurückgewinnen will, wäre es jetzt an der Zeit, sein Gesicht zu zeigen, Fehler zuzugeben. Und das würde übrigens auch Frau Merkel und Herrn de Maizière ganz gut zu Gesicht stehen, die ja sicher an ganz vielen Entscheidungen, wie was zu laufen hat, beteiligt waren. Am Ende war Olaf Scholz doch nur der Hausmeister.

M: Der sich dann ja doch noch bei den Bürgern entschuldigt hat…

S: …ja, aber mit der Einschränkung, man habe keine Fehler gemacht. Wie kann denn das sein? Alle haben Fehler gemacht, sonst kann es nicht zu einer Gewaltspirale kommen. Alle sagen „Ich war das nicht“. Das immer wieder runterzubeten ist kindisch.

M: Genau: Und man einigt sich dann darauf, dass die Chaoten an allem Schuld waren. Die haben ja auch die Heckscheibe deines Autos zerstört.

g20S: Aber die kann man einfach reparieren. Ein Herz nicht, wie Udo Lindenberg sagt. Ich finde Gewalt auch gegen Sachen nicht okay. Ich kann aber nachvollziehen, dass Jugendliche, etwa aus Ländern, in denen extreme Jugendarbeitslosigkeit herrscht, die keine Zukunft haben, nach Hamburg kommen und Tage des Zorns abfackeln. Und eigentlich geht es darum, diesen Zorn gar nicht erst zu produzieren. Auch in Hamburg geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Ich rede schon lange davon, dass irgendwann die wütenden jungen Männer kommen, ob aus Syrien, Südeuropa oder Ostdeutschland, und sich nicht mehr verarschen lassen wollen. Die Wut ist da. Und sie ist berechtigt.

M: Aber Wut greift, glaube ich, zu kurz, um die Randale zu begreifen. Das hatte ja auch etwas Dyonisisches. Karl Nagel, Altpunk und Gründer der APPD, spricht in seinem Blog zum Beispiel von geradezu sexueller Energie, die Freitagnacht in der Schanze bei ihm und anderen freigesetzt wurde.

S: Das hatte ja auch etwas Rauschhaftes. Feuer geht ganz tief rein ins Reptilienhirn und löst nicht nur Bestürzung aus. Das ist aufregend, spricht niedrige Instinkte an, wie Sex und Gier. Ich könnte mir gut vorstellen, dass da nachts noch so einiges gelaufen ist.

M: Noch einmal zur Aufarbeitung: Viele Hamburger haben das Gefühl, dass man davon ganz weit entfernt ist, auch und gerade bei der SPD. Warum hört man keine anderen Stimmen aus der Fraktion?

S: Ich glaube, dass Olaf Scholz wie ein König regiert, und dass es schon verdammt viel Mut braucht, um den Mund aufzumachen. Ich finde das befremdlich. Und wenn ich höre, dass sich die SPD-Bürgerschaftsabgeordnete, die seit Jahren auf St. Pauli gute Arbeit leistet, im Supermarkt anspucken lassen muss und sich im Viertel eigentlich kaum noch blicken lassen kann, finde ich es umso seltsamer, dass alle strammstehen.

M: Nicht nur die Politik lässt eine Diskussionsbereitschaft vermissen, oder?

S: Richtig. Als ich mich bei mir in der Straße mit Polizisten unterhalten habe, bei denen ja auch gewaltiger Redebedarf besteht, fuhr jemand mit dem Fahrrad an uns vorbei und rief mir über die Schulter „Verräterin“ zu. Was für ein Schwachsinn! Als wäre es verwerflich, miteinander zu reden.

M: Glaubst du, dass die Menschen sich wieder mehr selbst um ihr Viertel kümmern werden, weil sie nach dem G20 verstärkt das Gefühl haben, allein gelassen worden zu sein?

S: Ich spüre das Bedürfnis und hoffe, dass es sich in Aktion umsetzt. Möglichkeiten dazu gibt es reichlich auf St. Pauli, viele Gruppen setzen sich für die urbane Kultur ein, für eine andere, menschlichere Art des Zusammenlebens, da kann man leicht andocken.

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M: Wird es in dann auch mehr Solidarität für die Flora geben, die ja unter heftigen Beschuss geraten ist? Gefühlt will halb Polit-Deutschland die Schließung.

S: Absurd ist es, wenn jemand wie Peter Altmaier in Berlin sagt, die Flora muss weg – ich lade ihn gern mal ein, hier ein paar Monate zu wohnen. Die Flora ist auf jeden Fall ein starkes Symbol dafür, dass man es schafft, mehrere konträre Lebensentwürfe parallel zuzulassen. Und das in einer Stadt wie Hamburg, die ansonsten für Reichtum und Geschäftstüchtigkeit steht. Ich kenne hier in der Gegend niemanden, der sagt, die Flora müsse weg. Was soll denn da hin? Noch mehr Eigentumswohnungen? Ich hoffe, unabhängig von der Flora, dass der G20-Gipfel im Nachgang noch mehr nach hinten losgeht, weil Menschen sich politisieren, die vorher ganz viel mit sich haben machen lassen und jetzt sagen: „Moment mal, wir wollen St. Pauli selber machen. Oder Hamburg.“ Denn die Stadt gehört nicht den Touristen, nicht den Großveranstaltungen, nicht dem Senat: Die Stadt gehört uns!

M: St. Pauli verändert sich rasant in den letzten Jahren, und das nicht unbedingt zum Positiven. Bleibst du trotzdem?

S: Klar, weil St. Pauli für mich immer noch die einzige Möglichkeit ist, in Hamburg so frei zu leben, wie ich das möchte. Weil man hier auf eine positive Weise so sein kann, wie man will. Dieses Viertel zeigt, dass viele Menschen aus vielen Ecken der Welt friedlich zusammenleben können, zumindest tagsüber. Nur nachts kommen manchmal die marodierenden Banden. Und das nicht nur zum G20 Gipfel.

M: Viele Kreative haben allerdings keine Lust mehr auf den Stadtteil und ziehen weg. Kannst du das verstehen?

S: Klar, denn es ist ja wirklich, wie Rocko Schamoni einmal gesagt hat: „Alles, was scheiße ist und Geld bringt, wird hier gemacht.“ Und dass hier Menschen leben, ist denen, die dann Autos anzünden oder uns vor die Tür kotzen, völlig egal. Aber das hat vor allem viel mit einem Senat zu tun, der den Stadtteil mit Großveranstaltungen pflastert und die Bedingungen schafft, dass es immer mehr Massenbesäufnisse gibt.

M: Aber liegt nicht ein Teil der Faszination St. Paulis darin, dass hier der Exzess erlaubt ist?

S: Natürlich, ich male ja auch gern mal über den Rand. Was aber bei vielen verloren geht, die hierherkommen, um es krachen zu lassen, ist der Respekt. Das Bewusstsein dafür, dass St. Pauli schon immer auch ein Wohnviertel der bunten Menschen und Freigeister war. Stattdessen herrscht eine Scheiß-egal-Haltung, sowohl bei den Besuchern als auch bei der Politik oder der bürgerlich-konservativen Presse. Das erlebe ich selbst, und das höre ich, wenn ich mit Freunden, Polizisten oder Türstehern auf dem Kiez rede.

M: Wenn man deine Romane liest, beginnt man von einem anderen, besseren St. Pauli zu träumen. Romantisierst du den Stadtteil?

S: Ich sehe das Viertel romantisch verklärt, weil ich die Welt mit liebevollen Augen sehe.

M: Dann würde der G20 wahrscheinlich nicht als Hintergrund für einen neuen Roman passen, oder?

510dpKaaThL._SX309_BO1,204,203,200_S: Was sich nach dem G20 gezeigt hat, muss immer Hintergrund für Kriminalromane sein: Die Frage danach, was Gewalt hinterlässt. Bei den Tätern, den Opfern, den Ermittlern. Gute Kriminalromane sprechen davon, wie ratlos und hilflos wir immer wieder vor der Gewalt stehen. Wer einmal eine reingedrückt bekommen hat, ob ins Gesicht oder ins Herz, merkt sofort, wie dünn die Decke der Zivilisation ist. Und daraus entsteht eine Leerstelle, etwas, das nicht zu lösen ist. Aber um deine Frage zu beantworten: Vielleicht werden in meinem nächsten Roman jede Nacht Autos brennen in Hamburg, als Symbol für den Zerfall der Zivilisation.

M: Zerfällt sie denn?

S: Ich glaube, dass wir uns auf einen alles zerfetzenden Moment zubewegen, eine Katharsis. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Es ist ein Wendepunkt. Ein G20-Gipfel hilft da nicht. Dabei ging es doch vor allem darum, wie man weitermachen kann wie bisher, die Beute verteidigt, die man gemacht hat, die Spaltung zu zementieren. Als Schriftstellerin ist es natürlich reizvoll, solche Themen in Romanen aufscheinen zu lassen.

M: Als besonders politisch habe ich deine Romane bislang nicht wahrgenommen.

UnbenanntS: Auf keinen Fall sind sie tagespolitisch, keine Schnellschüsse. Aber Kriminalromane sind immer auch Geschichten über gesellschaftliche Zustände. Ich versuche, das nicht allzu plakativ zu machen und meinen Lesern nicht vorzuschreiben, was sie da politisch rausziehen. Ich versuche Licht anzumachen und es auf die Gestalten in den dunklen Ecken zu richten. Und damit zu zeigen, dass es wichtig ist dorthin zu gucken, dass auch die Politik dort mal hingucken sollte, statt immer nur Ergebniskosmetik zu betreiben.

M: Was sind das für dunkle Ecken?

S: Ich habe zum Beispiel mit einem Drogenfahnder geredet, der seit 20 Jahren durch die Straßen hier geht, und die Spaltung der Gesellschaft, die Rücksichtslosigkeit jeden Tag hautnah erfährt. Er erzählte davon, wie er in einem Haus auf den 17-jährigen Sohn eines reichen Medienunternehmers trifft, der sich gerade das Hirn wegkokst, während er zwei Häuser weiter in eine dunkle Wohnung geht, wo im hintersten Zimmer auf einem Haufen von Müll und schmutzigen Klamotten ein Säugling liegt und dahinter die Junkie-Mama mit der Spritze im Bein. Für den Polizisten ist das frustrierend, weil er nichts wirklich ändern kann, sondern, wie er sagt, nur an den Symptomen rumschrauben kann. Solche Geschichten nehme ich in meine Bücher auf, und das finde ich durchaus politisch.

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Eine Kurzfassung dieses Gesprächs erschien auf SPON
Aktuell von Simone Buchholz zur Zeit: „Beton Rouge“, Suhrkamp Taschenbuch. Klappenbroschur, 227 Seiten, 14,95 Euro. Verlagsinformationen.

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