Geschrieben am 15. Juni 2013 von für Crimemag, Porträts / Interviews

Im Gedenken an Jack Vance

Jack_Vance_Boat_Skipper„Ich bin doch kein Egoist“

 Jack Vance (28. August 1916–26. Mai 2013) – ein Nachruf von Gisbert Haefs.

John Holbrook Vance, so der komplette Name, war der Letzte der großen SF-Klassiker, und er hat sie alle überlebt: Poul Anderson, Isaac Asimov, Alfred Bester, Arthur C. Clarke, Robert Heinlein, Frank Herbert, Kurt Vonnegut … Vance hat SF geschrieben, Fantasy, Krimis, Erzählungen, TV-Drehbücher (Captain Video); in einigen der Nachrufe, die ihm nun Zeitungen wie New York Times, Guardian und FAZ gewidmet haben, wird festgestellt, er sei einer der besten Stilisten der amerikanischen Literatur gewesen und einer der konstant meistunterschätzten Autoren – weil er sich nicht vom Spiel mit strengen Genre-Regeln zu beliebigem Mainstream herablassen wollte.

In den USA, Frankreich, den Niederlanden und Belgien war und ist er überaus beliebt (und größtenteils lieferbar); in Spanien und England wurde er geschätzt, bei uns ist er – vergriffen. Orpheus mag Steine zum Weinen gebracht haben, Vance brachte sie zum Grinsen. Er war ein sorgfältiger Sprachmetz von unendlichem Einfallsreichtum und boshafter Ironie: offenbar nicht das, was deutsche SF- und Fantasy-Leser mögen.

„Wenn man zu einem Bankett geladen ist, beschwert man sich nicht über zu viele feine Speisen, sondern deren Ermangelung. Lassen Sie uns weiter das schmackhafte Verbrechen der Völlerei zelebrieren, ohne einen Gedanken an den hohläugigen Vegetarier zu verschwenden, der uns so neidisch anstarrt.“ (Night Lamp)

Vance ist ein permanentes Bankett für Feinschmecker. Man lasse sich z. B. den eleganten Raubtierdialog zwischen zwei Basar-Konkurrenten auf der Zunge zergehen. Beide bieten angeblich magische Kuriositäten feil, aber Fianosther macht mehr Umsatz als Cugel, der die Bude des anderen gründlich betrachtet und einen Einbruch erwägt.

„Ich kann deine Verwirrung auflösen“, sagte Fianosther. „Deine Bude befindet sich, wo der alte Galgen stand, und hat Unglücks-Essenzen absorbiert. Aber ich glaube bemerkt zu haben, daß du die Verfugung der Balken meiner Bude untersucht hast. Von drinnen hast du einen besseren Blick darauf, aber zuerst muß ich die Kette des gefangenen Erb kürzen, der nachts dort umherstreift.“
„Nicht nötig“, sagte Cugel. „Es hat mich nur beiläufig interessiert.“ (The Eyes of the Overworld)

Cugel der Gerissene, einer von Vances amüsantesten Protagonisten, ist ein Schuft; „Schelm“ wäre zu niedlich. Aber trotz seiner schäbigen Überlebenstricks folgt man als Leser den pikaresken Abenteuern mit Sympathie – einen negativen Helden zum Sympathieträger zu machen ist keine geringe erzählerische Leistung, auch und gerade im Rahmen der oft unbedarften älteren Fantasy. Bei Vance ist sie nie unbedarft, sondern sarkastische Fantastik für Erwachsene. Wer einmal mit Befremden festgestellt hat, dass im „Herr der Ringe“ niemand je Geld braucht und alle entweder edel oder verworfen sind, wird die zwielichtigen Charaktere bei Vance und ihre Anstrengungen, zu Geld zu kommen, besonders genießen.

Jack_Vance_Mazirian_The_MagicianSchauplatz ist hier die Erde in fernster Zukunft, kurz bevor die müde alte Sonne erlischt: die Sterbende Erde. Mit „The Dying Earth“ begann 1950 die Reihe von Vances wichtigen Werken. Dan Simmons (Hyperion) schrieb, Vance zu entdecken sei für ihn eine Offenbarung gewesen, vergleichbar der Entdeckung von Proust oder Henry James. Ähnliche Äußerungen gibt es von Neil Gaiman, Ursula LeGuin, George R. R. Martin, Michael Moorcock, Michael Chambon, Christopher Priest, Hans Kneifel und zahllosen anderen Autoren, für die Vance Anregung und oft auch Vorbild war.

Neben den Dying-Earth-Geschichten ist an Fantasy vor allem zu erwähnen seine Lyonesse-Trilogie, ein üppiger, bunter und grausamer Dreidecker, in dem Vance mit Artus-Mythen vor der Artus-Zeit spielt und Fantastik, Magie und Realpolitik elegant und spöttisch kombiniert.

Anders als den meisten bedeutenden SF-Autoren lag Vance in seiner Science-Fiction nicht viel an gegenwartsnahen Dystopien oder technischen Großkomplexen. Seine SF-Romane („Durdane“, „Planet of Adventure“, die Serie „Demon Princes“, „To Live Forever“, die „Alastor“-Romane) wurden gelegentlich spöttisch als „galaktische Heimatromane“ bezeichnet. Tatsächlich sind sie eine in dieser Form einmalige Mischung aus Abenteuer, Krimi bzw. Thriller und Ethnologie/Anthropologie: Der jeweilige Protagonist hat sich in einer völlig fremdartigen, oft bizarren Welt mit detailliert ausgeklügelten Gebräuchen, Religionen, Institutionen zurechtzufinden und zu überleben. Das ist immer spannend, unterhaltsam, hat literarische Eleganz und philosophischen Tiefgang, und wenn – wie Michael Chabon schrieb – nicht Jack Vance, sondern z. B. „Italo Calvino“ darüberstünde, wäre ihm unsterblicher Ruhm außerhalb der Genre-Kreise sicher. Aber diese Debatte ist leider müßig.

Daneben – aber was heißt daneben? – hat Vance eine Reihe erstklassiger Krimis geschrieben; er ist vielleicht der einzige, sicher aber einer von ganz wenigen Autoren, die sowohl in der SF als auch im Krimi sämtliche wesentlichen Preise zugesprochen bekam – Hugo, Nebula, Edgar (letzteren für „The Man in the Cage“, 1960). Besonders zu erwähnen sind hier die beiden kalifornischen Kleinstadt-Romane „The Pleasant Grove Murders“ und „The Fox Valley Murders“, die neben sorgfältig ausgearbeiteten Plots Soziogramme fiktiver Orte des San-Joaquin-Valley enthalten.

Eines der Probleme der Vance-Rezeption in Deutschland ist sicherlich, dass viele seiner Romane bis in die 80er Jahre in unzulänglichen, oft verstümmelten Übersetzungen erschienen. Das Buch durfte nicht mehr als z. B. 4,80 DM kosten, also nicht mehr als z. B. 192 Seiten umfassen, also wurde z. B. „Emphyrio“ auf etwa 60 Prozent gekürzt. Bei einem gewissenhaften Sprachwerker, der jedes Wort dreimal abwägt und nichts Überflüssiges im Text stehen lässt, bleibt dann nicht mehr viel übrig, was man noch wichtig oder amüsant finden könnte. In „The Palace of Love“ beispielsweise ist eine der wichtigen Nebenfiguren ein verrückter Poet, Navarth; natürlich schreibt Vance nicht über einen Dichter, ohne einige seiner Gedichte mitzuteilen. Die in der alten deutschen Ausgabe natürlich fehlen. Ein Jammer – man betrachte diese Strophe:

Drinking whisky by the peg,
Singing songs of drunken glee,
I thought to swallow half a keg
But Tim R. Mortiss degurgled me.
Tim R. Mortiss, Tim R. Mortiss,
He’s a loving friend.
He holds my hand when I’m asleep,
He guides me on my four-day-creep,
He’s with me to the end.

Jack_Vance_Herrscher_von_LyonesseWer ist dieser liebevolle Freund Tim R. Mortiss, von dem es heißt, he degurgled, disturgled, occurgled, perturgles me? Und was sind das für Verben? Es ist Vances sarkastisches Spiel mit dem Satz aus der alten katholischen Totenmesse: Timor mortis conturbat me – Todesangst verwirrt mich. Lohnt sich nicht, dies anständig herauszugeben? Na bravo.

Zurzeit sind, abgesehen von gebrauchten Ausgaben, bei uns nur einige „Luxus“-Bände in der Edition Andreas Irle erhältlich. Irle hat neu und vollständig übersetzt; Fans des Agnostikers Vance, bei dem organisierte Religion immer als Institut der Unterdrückung und Ausbeutung erscheint, mögen sich nicht irritieren lassen, wenn sie auf der Webseite der Edition von einem Jesus-Zitat begrüßt werden.

In den USA haben Fans und Freunde die – auch dort oft unzuverlässigen – alten Vance-Ausgaben durch eine Vance Integral Edition (VIE) in 44 bzw. 46 Bänden ersetzt. Ein Desideratum, allen deutschen Verlagen dringend empfohlen.

Bei einem SF-Treffen in Holland erschien Vance in den 80ern mit Ukulele und Kazoo. Er wolle jazzen, sagte er, und er werde nur eine Frage beantworten. Jemand aus dem Publikum wollte wissen, ob er in seinen Büchern eigene Erfahrungen verarbeitet habe. Vance: „Ich bin doch kein Egoist!“

Kollegen wie Homer, Shakespeare, Cervantes und ein paar andere, die auch nicht über sich geschrieben haben, werden ihn inzwischen in der Unterwelt begrüßt haben. Falls er nicht der hübschen Überschrift gefolgt ist, die der belgische Le Soir seinem Nachruf gab: „Jack Vance s’en est allé faire rêver les étoiles – Jack Vance ist fortgegangen, um die Sterne zum Träumen zu bringen.“

Gisbert Haefs

Gisbert Haefs, Jahrgang 1950, lebt und schreibt in Bonn; als Übersetzer/Herausgeber verantwortlich für Borges, Kipling, Brassens, Dylan u.a., als Autor haftbar für Erzählungen, historische Romane (Hannibal, Alexander, Troja, Radscha, Die Rache des Kaisers u. a.), SF (Barakuda, Mungo Carteret) und Krimis („Matzbach“).

In Gisbert Haefs’ SF-Romanen findet der aufmerksame Leser die eine oder andere Hommage an Jack Vance. Zur Homepage von Jack Vance. Porträtfoto: Wikimedia CommonsHayford Peirce.

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