Hinter der Linie, vor dem 28. Spieltag
– Eine Fußballkolumne von Mara Braun.
Nach einem richtig beschissenen Spieltag, an dem einfach jede Mannschaft verloren hatte, die ich auch nur im Ansatz sympathisch finde, bin ich kürzlich aufgefordert worden, ich solle mir doch vom Fußball nicht die Laune verderben lassen. Bis dahin war die mit kreuzunglücklich gut beschrieben, in diesem Moment kippte sie aber so ansatzlos, wie es sonst nur Frischmilch am dritten Tag im Kühlschrank vermag. Man muss sich das ja mal auf der Zunge zergehen lassen – als nächstes sagen solche Leute noch: Es ist doch nur Fußball! Und mir stellt sich zwangsläufig die Frage, wie es sich eigentlich so lebt, im Tal der Ahnungslosen?
Auch wenn Menschen, die mit diesem Sport eben nichts am Hut haben, es vermutlich sowieso nicht verstehen werden: Es ist niemals einfach nur Fußball. Es ist eine hochkomplizierte, sehr emotionale, völlig irrationale, wundervolle und grausame Sache, die in unseren Herzen tobt, unseren Eingeweiden wühlt und Teile unseres Gehirns besetzt, die Fußballverweigerer damit vielleicht für verschwendet ansehen, von denen ich aber behaupte: Sie werden anderswo auch nicht sinnvoller genutzt. Das geht mit dem Herzensverein los, der unsere Familie ist – und mit der verhält es sich nun mal so, wie mit jeder anderen Familie auch: Man sucht sie sich nicht aus und man wird sie nie mehr los. Es gibt Mitglieder, die uns besonders nahe stehen, für die wir eine ganz spezielle Liebe empfinden ebenso wie solche, die uns in den Wahnsinn treiben und mit denen wir längst gebrochen hätten, wären sie nicht – eben: Familie.
Tuchel und der Erleichterungsschluckauf
Genau wie bei einer echten Familie bleiben wir vielen dieser Menschen auch dann verbunden, wenn sie sich längst aus dem inneren Kreis verabschiedet haben – und sie uns. Natürlich wird kein Mainzer je die magischen Worte vergessen: „Alles was ich bin, alles was ich kann habt ihr mich werden lassen.“ Deswegen ist es uns auch nicht egal, wenn Jürgen Klopp sich mit dem BVB plötzlich im Abstiegskampf befindet, und wie sollte es? Der Verein geht uns unter diesem Trainer etwas an, weil Jürgen Klopp uns etwas angeht. Oder meinen Sie, ich verfolge die Ergebnisse des spanischen UD Levante, weil mich das untere Tabellendrittel dieser Liga interessiert? Natürlich nicht, es ist vielmehr Andy Ivanschitz, der mein Herz in seiner Mainzer Zeit so nachhaltig berührt hat, dass ich diese Saison emotional schon lange vor meinen 05ern im Abstiegskampf steckte. Und bei Thomas Tuchels Absage an die Bullen aus Leipzig hatte ich einen akuten Anfall von Erleichterungsschluckauf, weil mir allein die Möglichkeit dieser unglücksseligen Verbindung zuletzt massive Bauchschmerzen bereitet hatte.
The World in a Nutshell
Schlimm sind auch Fälle wie der tapfere Leon Andreasen, der bei Mainz 05 eine wundervolle Saison lang die Herzen der Fans einsammelte, und dessen Anblick in der Arbeitskleidung von Hannover 96 mir regelmäßig Unbehagen bereitet. Wie muss es da erst den BVB-Fans gehen, wenn Robert Lewandowski im Dress der Bayern ihre Niederlage besiegelt und was sind seine wunderbaren Tore einst gegen Real in der Champions League in einem solchen Moment noch wert? Denn natürlich hat die Familientheorie auch ihre Grenzen, so wird mich beispielsweise nicht mal André Schürrle dazu bringen, plötzlich für den VfL Wolfsburg zu jubeln. Wohl aber freuen mich seine Einsätze im Nationaldress, und wenn er das überstreift, wird er in meiner Wahrnehmung immer ein Mainzer Bub sein – bitte verwirren Sie mich da nicht mit Fakten.
Insofern ist das, was sich da Wochenende für Wochenende in den Stadien abspielt, keinesfalls einfach nur Fußball, es sind groß angelegte Familientreffen, mit all der Euphorie und Tragik, die zu solchen Zusammenkünften eben dazu gehören. Es sind aber auch Bewerbungstermine, weil Vereine wie Mainz 05 bei jedem Spiel um ihren Verbleib in der 1. Liga kämpfen. Es sind nervige Pflichtaufgaben, weil niemand gerne an einem verregneten Abend im November bei knapp über null Grad seinem Team zum soundsovielten Mal hintereinander beim Verlieren zuschaut. Es sind Festtage und solche, an denen letzte Hoffnungen zerplatzen, wir erleben im Stadion grenzenlosen Jubel und echte Verzweiflung. Fußball ist das viel zitierte Universum in der Nussschale – und es geht dabei spätestens in dieser Phase der Saison: um alles.
Die Ergebnisse im Überblick
Hannover – Hertha 1:1
Bayern – Frankfurt 4:1
Schalke – Freiburg 2:2
Gladbach – Dortmund 3:2
Mainz – Leverkusen 1:1
Paderborn – Augsburg 1:3
HSV – Wolfsburg 0:0
Köln – Hoffenheim 2:3
VfB – Bremen 2:2
Mara Braun
Mara Braun, geboren 1978 in Heidelberg, aufgewachsen im hessischen Odenwald mit einem Abstecher nach Mississippi, seit 1998 in Mainz am Rhein. Studium der Filmwissenschaft & Publizistik. Journalistin, Autorin, Fußballbegeisterte, Bücherwurm, Überzeugungstäterin. Im September 2013 erschien „111 Gründe, Mainz 05 zu lieben“ und am 15. Januar 2015 „111 Gründe, an die große Liebe zu glauben“ (beide Schwarzkopf & Schwarzkopf). Mara Braun bei Facebook, bei Twitter, im Blog.