Geschrieben am 10. Mai 2014 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Hinter der Linie, vor dem Spieltag

Mara BraunHinter der Linie, vor dem 34. Spieltag

– Eine Fußballkolumne von Mara Braun.

Vor einigen Tagen bin ich mit dem Auto von Berlin nach Utrecht gefahren. Was nach einem mittelschweren Wahnsinn klingt, war tatsächlich nur die kleine Teilstrecke einer Europatour, die mich zwischenzeitlich auch zum Heimspiel des HSV gegen München geführt hatte. Weil mein Tank ebenso leer war wie mein Magen, hielt ich vorm endgültigen Verlassen der Stadt, um Benzin nachzufüllen, ein Käsebrötchen und Kaffee zu holen. (Inzwischen fragen Sie sich vielleicht, ob ich meine Fußball- mit einer Reisekolumne verwechsle, aber gleich wird all das Sinn ergeben.) Was ich nicht wusste: Jener Rasthof kurz vor der Autobahn ist ein beliebter Anlaufpunkt für Tramper. Was die nicht wussten: Ich war seit so vielen Tagen pausenlos unter (total netten!) Leuten, dass ich mich unbändig auf die lange, einsiedlige Fahrt freute.

„Wo wollen Sie denn hin?“ (Immer wieder schmerzt die Feststellung, dass ich mittlerweile in einem Alter bin, in dem Jugendliche mich siezen.) „Nach Holland.“ Der Knilch strahlt übers ganze Gesicht. „Ich muss nach Osnabrück.“ Noch ohne Morgenkaffee – und weil es wirklich ein Knilch war, ein Teenager, der da völlig allein von Berlin aus nach Hause trampen wollte – blieb das Einsiedeln ein schöner Traum, stattdessen startete ich mit einem extrem munteren Beifahrer in den Tag. Ich hätte die Frage, „worüber reden“ ja mit einem spontanen „nichts“ beantwortet, aber der Kleine plappert ohne Unterlass. Von seinem Bewerbungsgespräch, von Berlin, von seiner Zukunft und irgendwelchen obskuren Leukämievorfällen in Hamburg. Und was ich denn in Utrecht wolle? Konzertbesuch. Wen? The Jon Spencer Blues Explosion. Er deutet auf das Radio. „Sind die das?“ Ich blinzle gegen mein Entsetzen. „Das ist Nick Cave.“ „Wer?“ Ich will aussteigen, aber es ist ja nun mal mein Auto, also knirsche ich nur ein wenig mit den Zähnen und verfalle wieder in Schweigen.

Eine Schale voller Meister

Irgendwann erzählt der Kleine von Brasilien, wo er den Winter verbracht hat und da sei wohl „demnächst die WM“. Die Rettung naht: Wenn schon reden, dann wenigstens über Fußball. Ob mich das interessiere? Klar, ich war am Samstag beim HSV. Ich warte auf eine Reaktion der Marke, ach was, die Hamburger, ja, das wird knapp. Nichts. Ich wechsle die CD. „Ist das jetzt dieser Spencer?“ Nein, das ist Fink. Ich schiebe das Gespräch selbst an: „Am Samstag ist ja der letzte Spieltag.“ „Ja, aber das ist nicht mehr interessant, oder? Ist nicht irgendwer schon seit Wochen Meister? Die Bayern?“

Es sind solche Momente, in denen bei mir ganz kurz ein Bewusstsein dafür aufblitzt, dass es diese Menschen tatsächlich gibt: Leute, die sich einfach nicht für Fußball interessieren. Die das Wochenende irgendwo im Grünen verbringen oder auf der Couch, ohne den Hauch einer Ahnung davon, was die Fans in den Stadien dieser Republik zeitgleich mitmachen. Was für Dramen sich da abspielen. Welche Entscheidungen da anstehen. Leute, die Sätze sagen wie „Das ist doch nur Fußball“ und erwarten, damit ungeschoren davonzukommen. Menschen, die ihren Frauen, Vätern, Tanten und Söhnen mit Unverständnis begegnen, wenn diese nach einem Abstieg schluchzend nach Hause kommen oder beim Gedanken an den europäischen Wettbewerb elektrisierte Nackenhaare kriegen, die ihnen am Morgen des Spieltags noch eine Szene machen, weil man den Samstag nicht ganz anders verbringt.

Dieses Kribbeln im Bauch

Männer und Frauen, die nicht wissen, wie sich das erlösende Tor anfühlt. Die keine Ahnung haben, was es bedeutet, wenn ein Stadion voller Begeisterung explodiert oder unter absoluter Fassungslosigkeit zusammenfällt. Menschen, die längst aufgehört haben, diesen Text zu lesen oder die inzwischen den Kopf schütteln und sich fragen, wie man dieses Thema, diesen Sport, dermaßen überbewerten kann. Die Wahrheit ist, das kann und tut niemand: Der Fußball macht sich selbst groß. Für sich und für alle, die ein Teil dieser Begeisterung, dieses Wahnsinns, der Glückseligkeit und des Schmerzes sein wollen. Und niemals liegt all das so nah beieinander wie an diesem letzten Spieltag der Saison, wenn es am Ende immer die Falschen trifft; es sei denn, es trifft die Richtigen. Doch mit jedem Abpfiff entscheidet sich diese Frage nur darüber, ob man im Heim- oder im Gästeblock steht. Es gibt keine Gesetze und keine Garantien, kein Mitleid und keine Gerechtigkeit. Es gibt nur diese 90 Minuten. Und heute geht es um alles.

Die Ergebnisse im Überblick:

  • Bayern – Stuttgart 5:2
  • Schalke – Nürnberg 3:1
  • Leverkusen – Bremen 2:2
  • Hannover – Freiburg 1:3
  • Wolfsburg – Gladbach 1:2
  • Hoffenheim – Braunschweig 1:1
  • Mainz – HSV 2:1
  • Augsburg – Eintracht 2:2
  • Hertha – Dortmund 1:4

Die Abschlusstabelle:

  1. Bayern – 90 Punkte
  2. Dortmund – 71 Punkte
  3. Schalke – 64 Punkte
  4. Leverkusen – 59 Punkte
  5. Gladbach – 58 Punkte
  6. Wolfsburg – 57 Punkte
  7. Mainz – 53 Punkte
  8. Augsburg – 50 Punkte
  9. Hoffenheim – 42 Punkte
  10. Hertha – 41 Punkte
  11. Bremen – 40 Punkte
  12. Hannover – 39 Punkte
  13. Freiburg – 39 Punkte
  14. Frankfurt – 37 Punkte
  15. Stuttgart – 32 Punke
  16. Hamburg – 27 Punkte
  17. Braunschweig – 26 Punkte
  18. Nürnberg – 26 Punkte

Mara Braun

Mara Braun, geboren 1978 in Heidelberg, aufgewachsen im hessischen Odenwald mit einem Abstecher nach Mississippi, seit 1998 in Mainz am Rhein. Studium der Filmwissenschaft & Publizistik. Journalistin, Autorin, Fußballbegeisterte, Bücherwurm, Überzeugungstäterin. Im September 2013 erschien „111 Gründe, Mainz 05 zu lieben“ (Schwarzkopf & Schwarzkopf). Mara Braun bei Facebook, bei Twitter, im Blog.