


Immer vorbildgetreuer!
Wenn man die Märklin-Kataloge der vergangenen Jahrzehnte durchblättert, fällt auf, dass die Entwicklung zur vorbildgetreuen Miniatur-Nachbildung der „großen“ Bahn sehr allmählich erfolgte und nicht etwa das Produkt einer einmaligen unternehmerischen Idee war. Bereits von der frühesten Geschichte des Unternehmens an hatte man sich bemüht, Modelle herzustellen, die dem Vorbild möglichst irgendwie ähnlich sahen. Aber zum Beispiel erst in den 1950er Jahren bekamen die Modelle die Baureihennummern eines ganz bestimmten großen Vorbilds (wie etwa „44 690“ (vorher „G 800“ als Produktname) oder „E44 039“ (vorher „SE 800“)) und auch erst ab1953 versteckte man schamhaft den elektrischen Mittelleiter unter die metallenen Hohlprofil- Gleise, so dass nur noch die schwarzen „Punktkontakte“ herausguckten. Ganz zu schweigen von den weiteren Entwicklungen wie Rauch- und Geräusch- Simulation und digital verfeinerter Geschwindigkeits- Steuerung. Man kann sich unschwer eine Fortentwicklung vorstellen (z.B. eine realistische Anbringung von Dreck-Spuren am rollenden Material oder Fahrtwind-Produktion in Abhängigkeit von der Fahrgeschwindigkeit o.a.).
Katalog 1955, S. 30 u. 32
Denkbar wäre mittlerweile auch, dass man als ModelleisenbahnerIn mittels VR-Brille oder -Helm in den Führerstand einer der Loks auf der Modellbahnanlage versetzt wird und diese Lok (und nur diese) von dort aus fährt – mitsamt all der Geräusche und Gerüche, die dort so anfallen. Müsste ein tolles Gefühl sein.(1 )
Allerdings: die Fahrdienstleitung müsste dann ein anderer Mensch ausüben, oder aber sie müsste an einen Algorithmus delegiert werden.
Das Bestreben nach Vorbildtreue kann so weit getrieben werden, dass es sich ganz offen selbst ad absurdum führt: Das Märklin Magazin 06/2021 liefert eine Reportage über den Transport der restaurierten Dampflok 44 1315 zum Märklin Museum, wo sie in einem eigens dafür im Maßstab 87:1 (statt 1:87!) gebauten Märklin-Modellkarton zu bestaunen ist. So verwandelt sich das Vorbild in das Modell seines Modells (des Märklin-Artikels 39889 für knapp 500.- €), das Original erscheint als Abbild seines Abbilds. Eine solche Ästhetisierung von Lokomotiven geht sicherlich umso leichter, wenn deren eigentliche Funktion seit einem halben Jahrhundert gar nicht mehr erfahren werden kann.
Grenzen der Vorbildtreue
Der Pferdefuß all dieser Bestrebungen wird aber wohl die Tatsache bleiben, dass man gewöhnliche Schnellzüge mit einer maßstabsgetreuen Länge von ca. drei Metern und schwere Güterzüge mit fünf Metern Länge auf einer Modellbahnanlage einfach nicht unterbringen kann, nicht in einem Wohnzimmer und nicht mal in einer Garage. Das Schnaufen, Dampfausstoßen, Pfeifen, Kesselglutflackern usw. des voll digitalisierten Modells einer schweren Güterzuglok macht einem nur umso schmerzlicher bewusst, dass man ihre eigentliche Funktion, nämlich einen 500 Meter langen Zug zu ziehen, auf der eigenen Anlage nicht nachbilden kann. Man kann das im Prinzip zwar auf einer professionellen Großanlage wie im Hamburger „Miniaturwunderland“ – aber dort müssen die Geräusche „verpuffen“, weil aus physikalischen Gründen der Ausbreitungsradius des Schalls nicht im Maßstab 1:87 verringert werden kann. Ähnliches gilt für die Simulation von Gerüchen.
Nicht nachbilden kann man auch die Distanzen zwischen Bahnhöfen. Selbst die vielleicht kürzeste Distanz zwischen zwei städtischen U-Bahnhöfen von etwa einem halben Kilometer würde auf einer H0-Modellanlage eine gerade Strecke von fast 6 Metern benötigen; die Distanz zwischen zwei Großstädten würde auf der Anlage eine Strecke von ca. einem halben Kilometer erfordern. Das bedeutet, dass für die Vorstellung und Planung einer Modellbahnanlage (also für den Begriff einer Modellbahnanlage) fast all das, was man auf der Fahrt mit der „großen“ Bahn zwischen zwei Bahnhöfen sehen und wahrnehmen kann, als uninteressant gelten muss.

Die Faszination der Modellbahnen lässt sich also meines Erachtens nicht allein auf das Bedürfnis zur Aneignung mittels Nachbildung (Mimesis) zurückführen. Faszinierend sind zwar auch Schiffs-, Flugzeug-, Auto-, Weltraumshuttle- und natürlich auch Gebäude-Modelle und jede Menge von Dioramen, die jeweils ebenso die Tendenz zur Perfektionierung in sich bergen. Das ist das Konzept des Miniaturwunderlands. Zweifellos höchst beeindruckend. Auch kann man zwar Schiffsmodelle im Pool fahren, Modellflugzeuge über eine Wiese fliegen oder Modellautos über ihre Carrera-Bahnen sausen lassen – aber diese jeweiligen Bewegungen sind ziel- und planlos und in diesem Sinne selbstgenügsam.
Warum die Eisenbahn (noch) fasziniert: Funktion statt bloß Ästhetik
Demgegenüber besteht das Besondere der Eisenbahn, des großen Vorbilds für die Konstruktion von Modellbahnen, im Folgenden:
- in den Gleisen und
- dem Transport von Waggons:
- Die Lok kann fahren, man kann
- die Fahrt stoppen vor von einer externen Instanz (Fahrdienstleitung) gesetzten Signalen und die Geschwindigkeit regulieren – aber eben
- nur auf extern vorgegebenen Wegen („Bahnen“). Ihr Weg kann durch ein
- Gewirr von Weichen führen – aber sie bleibt zuverlässig in der Spur, die sie zu einem vorzugebenden Ziel führt. Das Ziel ist, ebenso wie der Start,
- Teil eines Netzes, das viele Orte, im Prinzip in einem gesamten Kontinent, miteinander verbindet und damit alle Orte, die keinen Netzanschluss haben, sozusagen „exkommuniziert“.
- Ein entscheidender Unterschied besteht damit zwischen den Endbahnhöfen einerseits, die per definitionem Startund Ziel sind, und Streckenbahnhöfen andererseits, die bloß mögliche Haltepunkte darstellen.
- Theoretisch kann (logischerweise) ein Gleis auch im Nichts enden (weil aus z.B. politischen, historischen oder natürlichen Gründen die Strecke unterbrochen wurde): Das ist dann im wahrsten Sinne des Wortes un-heimlich, denn wer auf ein solches Gleis gerät, kann nirgendwo mehr heimkommen, obwohl doch das sichere Geleit (Geleise) gerade der Sinn des Netzes ist. Denn das ist ein weiteres Merkmal des Verkehrs auf Gleisen:
- Man kann nicht umdrehen (wie etwa mit Fahrrad oder Auto); man kann höchstens rückwärts fahren, wenn es nach vorn nicht mehr weitergeht.
- Und die Lok fährt nicht für sich allein: Sie zieht viele – viele Waggons, die nicht allein fahren können, Waggons mit Gütern oder mit Menschen („Alles schläft – einer fährt“: so lautete, glaube ich, mal ein Werbeslogan für Nachtzüge), und die ebenso zuverlässig über die Gleise geleitet werden.
Darin liegt meines Erachtens ein großer Teil der Faszination von Eisenbahnen, die eben deshalb auch nicht entsprechend der zunehmenden Dominanz des auto-mobilen Individualverkehrs verschwinden wird. Wenn sich aber bei der Konstruktion von Modelleisenbahnen das Streben nach Perfektionierung der bloß sinnlich-ästhetischenVorbildtreue gegenüber dieser Faszination des Funktionalen verselbständigt, wird es parasitär. Der Boom von Spielzeug-Holzbahnen, für die Modelltreue nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist eine Folge davon.
Mit der fortschreitenden Durchsetzung von Triebwagenzügen sowie Wendezügen mit Steuerwagen (bei denen man Vorn und Hinten immer weniger unterscheiden kann) büßt die Eisenbahn logischerweise einen Teil ihrer Faszination ein: Denn die ziehende Lokomotive ist als solche kaum noch erkennbar. Und selbst wenn und insoweit sie erkennbar ist, macht sie doch – im Gegensatz zu einer Dampflok – weder optisch noch akustisch den Eindruck einer komplexen und kraftstrotzenden Maschine. Daher ist es erklärlich, dass im Modellbahnmilieu Dampfloks (im Gegensatz zu alten Diesel- oder E-Loks) immer noch eine wichtige Rolle spielen, lange nachdem sie aus der Wirklichkeit verschwunden sind. Bunte über die Gleise huschende Metallschlangen sind kein vollwertiger Ersatz. Und daraus ergibt sich auch, dass das Spielen mit Modelleisenbahnen allmählich zu einem Nostalgie-Hobby werden muss.
Die Kreisbahn – „Landschaft“ als Ersatz für Distanzüberwindung
Der Modellbahn-Kreis steht eigentlich im Widerspruch zur Konzeption der Eisenbahn als Faszinosum, denn er macht eine Unterscheidung von Start- und Ziel(-bahnhof) unmöglich. Angemessener wäre eigentlich ein Netz von einander überkreuzenden und miteinander verbundenen Strecken, die jeweils Anfangs- bzw. Endbahnhöfe hätten, welche so weit wie möglich auseinander lägen. Idealerweise müsste dann an jedem Endbahnhof ein Ausweichgleis vorhanden sein, so dass die Lokomotive vom Anfang des Zuges abgekuppelt und an dessen Ende verschoben werden kann, um ihn dann in die Gegenrichtung zu ziehen (und eben nicht zu schieben).
Das lässt sich aber in gewöhnlichen Spielzimmern nicht realisieren. Deswegen die Kreisbahn. Deswegen aber auch das Bedürfnis nach Landschaft, vor allem nach Gebirgen und Tunneln für eine heimische Modellbahnanlage. Denn dadurch wird es möglich, Züge scheinbar verschwinden zu lassen und sie später als scheinbar andere Züge an anderer Stelle auftauchen zu lassen. (Ein Schnellzug XX verlässt Bahnhof A und verschwindet im Tunnel, und kurz darauf erscheint ein Schnellzug YY (materialiter der gleiche) am Tunnelausgang und fährt in Bahnhof A ein – alles auf dem gleichen Modellbahnkreis.)
Große professionelle Modellbahnanlagen lösen das Problem bekanntlich mit „unterirdischen“ Schattenbahnhöfen, die es ermöglichen, dass am Tunnelausgang tatsächlich ein anderer Zug erscheint als der, der hineingefahren ist. Die Landschaft einer Modellbahnanlage hat also nicht in erster Linie die Funktion, Natur und Ortschaften abzubilden, sondern Züge verschwinden und neu wieder auftauchen zu lassen. Je weniger Platz für eine Anlage, desto wichtiger die Gebirgslandschaft. Es macht zweifellos Vergnügen, diese mit immer neuen Details auszustatten; aber das ist, jedenfalls auf einer Modellbahnanlage, nicht ihre primäre Funktion.

Verschlungene Pfade als Spielmotiv
Die Kreisstruktur der Modelleisenbahn bringt allerdings eine Eigenschaft mit sich, die dem großen Vorbild weitgehend fehlt: Man kann einen Zug über komplizierte und verschlungene Strecken leiten und dabei doch sicher sein, dass er genau dort wieder ankommt, wo man ihn verabschiedet hat – ohne zurückfahren (rückwärts fahren) zu müssen. Dergleichen gibt es im „großen“ Verkehr lediglich bei den seltenen „Ringlinien“ in großen Städten, und dort sinnvollerweise ohne verschlungene Strecken mit Schleifen o.ä.. Die Idee eines Netzes, das alle Orte miteinander verbindet, ist in der Modellbahnwelt daher anders zu verstehen als im Vorbild-Bahnverkehr: Dort nämlich kann ein Zug typischerweise unbegrenzt im Endbahnhof liegenbleiben; im Modellbahnkreis hingegen kommt er typischerweise wieder „heim“ zu einem Durchgangsbahnhof. Die verschlungenen Wege eines Holzbahn-Netzes in einem kindlichen Spielzimmer machen diesen Unterschied sinnfällig.

Individualverkehrs-Straßennetz: Alternative zur Modelleisenbahn?
Mit dem technischen Wandel des Schienenverkehrs und seiner gegenüber dem Individualverkehr auf den Straßen abnehmenden Bedeutung wird sich wohl auch die Begeisterung für Modelleisenbahnen verringern. Was könnte an ihre Stelle treten? Man kann sich etwa folgende Modellspielzeug-Alternative vorstellen: das Straßennetz einer kleinen Stadt, auf dem man eine mehr oder weniger große (und jederzeit ergänzbare) Anzahl Autos (PKW, LKW, Busse) über Magnetfelder steuern kann. Je nach Anzahl der MitspielerInnen könnten mehrere Fahrzeuge gleichzeitig gesteuert werden, und ein System von Ampelanlagen, Einbahnstraßen und Abbiegehindernissen würde ein Verkehrschaos verhindern. Die Möglichkeit, das Straßennetz mit vorbildgetreuen Gebäuden einer bestimmten Stadt sowie mit Menschenfiguren zu vervollständigen, wäre selbstverständlich gegeben und würde die Bastelfreude anspornen. Ein solches städtisches Straßennetz würde die heutige Individualverkehrs-Realität sicherlich vorbildgetreuer widerspiegeln als ein Netz von Gleisen, auf denen mehrere Eisenbahnzüge unaufhörlich über Brücken und Schleifen ihre Kreise ziehen, in Tunneln verschwinden und hinter einem hohen Berg wieder auftauchen. Aber wesentliche Merkmale, die, wie beschrieben, gerade die Eisenbahn zum Faszinosum werden ließen, würden einer solchen reinen Automobil-Modellanlage fehlen. Deshalb würde sie auch kaum zum Massen-Spielzeug taugen. Und jene Automodelle, die heutzutage jede größere Modellbahnanlage schmücken, werden, auch wenn sie teilweise sogar auf Magnetspuren hin und herfahren, schmückendes Beiwerk bleiben.
Denkbar – wenn wohl auch Zukunftsmusik – wäre es allerdings, jedes Fahrzeug in einem solchen Modell-Straßennetz mit KI für autonomes Fahren auszurüsten, derart dass man von einer externen Zentrale aus einem jeden Fahrzeug (das sich zum Zeitpunkt tx am Ort lx befindet) einen beliebigen Zielort ly im Straßennetz einprogrammieren kann und sich dieses Fahrzeug dann autonom zu seinem Ziel hinbewegt, ohne dabei mit den anderen Fahrzeugen, die das Gleiche tun, zu kollidieren. Bereits einem einzelnen Spieler wäre es dann möglich, mehrere Fahrzeuge gleichzeitig fahren und sicher zu ihren jeweiligen Zielen gelangen zu lassen. Die Lenkung des einzelnen Fahrzeugs und die „Fahrdienstleitung“ wären wie bei der Modelleisenbahn getrennt. Die Variationsmöglichkeiten wären zahlreich und deren Komplexität anspruchsvoll, anspruchsvoller als bei Modelleisenbahnen. Damit würde eine solche Anlage zur vielversprechenden Alternative zur Modelleisenbahn – auch wenn es dort keine Loks gibt, die viele Waggons ziehen.
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Als kleines Kind bekam ich Jahr für Jahr „Eisenbahnbücher“. Das waren Märklin-Kataloge. Als Zehnjähriger hatte ich dann meine erste kleine Anlage mit einem Schienenbus, der im Dunkeln leuchtete. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich mit einer wachsenden Menge an rollendem und technischen Material und viel Bastelei immer wieder neue und raffiniertere Anlagen entworfen, sie auf- und wieder abgebaut, zuletzt vor allem für die Enkelkinder. Insofern ist dieser Text unterschwellig als eine autobiografische Reflexion zu verstehen.
Anm. 1. Aber letztlich doch unnatürlich: Man fährt aus einem Bahnhof heraus, über ein paar Weichen, blickt auf ein Signal und eine kurze Schienenstrecke, durchquert womöglich eine sehr enge Kurve, taucht nach wenigen Sekunden in einen „Tunnel“, in dem man gar nichts sieht, gelangt nach weiteren wenigen Sekunden wieder auf einen hellen Schienenstrang und fährt gleich in den nächsten Bahnhof (womöglich denselben) wieder ein. Wie viel anstrengende Fantasie muss man bemühen, um sich bei sowas wie ein Schnellzug-Lokführer zu empfinden?