Geschrieben am 7. Dezember 2013 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Frank Göhre zum 75. Todestag von Friedrich Glauser

Friedrich_Glauser75. Todestag von Friedrich Glauser

Friedrich Glauser starb in den ersten Stunden des 8. Dezembers 1938 in Nervi bei Genua.
Seine Urne wurde auf dem Friedhof Manegg in Zürich, Abteilung B, Nummer 74 beigesetzt, in der Nähe des Eingangs Thujastraße.
Es ist sein 75. Todestag.
Ein Text von Frank Göhre.

Heute werde ich sterben, ich weiß dies gewiss. Ich kann nicht mehr. Ich bin schwach. Tagelange Depressionen. Lautlose Tropfen fallen in meinem Kopf. Vater, Reue, Braut, Genuss. Assoziationen, kindlich durchaus. Ich weiß.
Mein Vater war ein Gentleman, sehr weiß die Stirn, dann schon der Bart. Wohl gepflegt sein Bart. Der Bart, der strömt und wogt, grau-schwarz wie die Rhone bei Nacht … Und ich senkte den Kopf. Als sei ich schuldig, als sei ich ein Dieb. Vater – Strafe, Hass, nutzlos.
Es prasselten die Worte, schnell und hart wie Hagelschauer auf ein ungeschütztes Glasdach.
Damals … damals ging ich ins Gymnasium, lernte Latein und Algebra und analytische Geometrie. Ich wollte Chemiker werden. Aber … der Strom, der breite Strom. Die Lockung des Meeres.
Sieh dir das Meer an, nun, da der Abend naht. Die Sonne sieht aus wie eine rote Filzscheibe, und ihre Farbe ist so stumpf, dass es ihr nicht gelingt, ein wenig Purpur auf den Himmel oder das Wasser zu legen. Aber hinter den Hügeln lauert schon die Nacht und schwärzt die bunten Mauern der Häuser.
Ich habe viele Nächte erlebt, im Krieg, auf der Wache und auf Patrouille, in der Legion. Die ärgsten Nächte sind die Nächte der Kindheit. Dann wächst die große schwarze Gestalt des Gottes in der Dunkelheit. Er blickt mich an, drohend, will mich zerschmettern. Mein Vater. Mein lieber Papa.
Ich lief durch den Kolschitzkypark. Ich fuhr mit der Tram auf den Staatsbahnhof und verlangte ein Billett. Ein Billett nach Pressburg. Ich musste doch fort. Es war nur nötig gewesen, in den Zug zu steigen. Es muss doch Städte geben, in denen man leben kann, frei und ohne tägliche Züchtigungen. Dachte ich.
Frei. Freien Ausgang.
Doch ich kam von einer bohrenden Angst nicht los.

Mein Name ist Glauser, Friedrich Glauser.
Statt Chemie zu studieren, wurde ich Dadaist. Dada. Ja, ja. Bohemien. Für nicht zurechnungsfähig erklärt. Bevormundet.
Irrenanstalt. Zuchthaus. Einzelhaft. Tisch, Stuhl, Bett, das gegen die Mauer geklappt wird jeden Morgen. Ein vergittertes Loch hoch oben, das verschieden sich färbte: blau, rötlich, grau. Kein Geräusch als Schlüsselklirren, Schritte, Vogelstimmen ganz fern.
Auf der Wand ziehen Bilder vorüber, flach, ohne Perspektive.
Die Mutter in braunem Rock sitzt unter der Lampe. Der Mond spiegelt sich in gelblichem See. Zwischen den gespitzten Ohren blinkt ein grüner, platter Kopf mit grellen Augen, um den keuchenden Körper des Tieres ringelt sich als grünes Tau die Schlange. Und blutrot wird die Ebene, Blut spritzt auf die Schlange, und Schädel zerplatzen am Boden wie Seifenblasen. Schillernde Blasen.
Mein Schlangenkomplex.

Da ist ein Freund von mir. Ein lieber Kerl … der ein weiches, rundes Gesicht hatte und weiche Haare. Wir trafen uns vor der Stadt. Wir machten einen Spaziergang.
Sidi-Bel-Abbes. Im afrikanischen Felsental.
Das Stadttor, aus roten Ziegeln erbaut … Und hinter dem Gitter der Kasernenhof, umgeben von trostlosen Gebäuden; sie erinnerten mit ihrem Aufsatz an die Häuser, die in den Vororten von Paris am Zuge vorbei gehumpelt waren.
Eines Abends, als der Staub rötlich in der ausgeglühten Luft des Kasernenhofes hing … Der Himmel, grün wie ein Flaschenhals, lag über der Kaserne. Es war sehr still in seinem Zimmer.
Erwartungsvolle Angst.
Mit prallen Lippen hatte er sich am Blechrand der Tasse festgesaugt und dann mit der Zunge noch den Boden ausgeleckt. Er hob die Hand. Warum zitterst du?
Die Einsamkeit lockerte sich.
Die Wärme des fremden Körpers. Diese Berührung.
Plötzlich wieder der Badestrand. Glarisegg. Das Knabeninternat. Das lange Sprungbrett, das weit in den See hineinführte, und ich stehe am Ende. Mit Schwung schmeißt mich der Direktor hinein. Ich sinke unter. In der Nacht versuchte ich, mir die Adern im Ellbogengelenk aufzuschneiden.
O Chuja. O Bruder.
Am Morgen trugen sie mich aus meiner Zelle. Ich hatte viel Blut verloren. Dass man eine Frau im Blut haben kann. Sehr erregt ist diese kleine Frau. Sie zittert immer ein wenig. Wie eine bunte Papierschlange vor einem Ventilator.
Die Schlange.
Manchmal, wenn wir kochten, kroch unter dem Kamin eine feiste Ringelnatter hervor.
Meine Gedanken sind Bilder. Was ich erlebte und erkannte, ist nur in Bildern wiederzugeben.

Ich bin in Wien geboren. Ich stamme aus einer so genannten guten Familie. Mein Vater … Wenn er mich auf den Arm nahm und mir oft und oft wiederholte, ich sei „un citoyen de la libre Helvetie – ein Bürger der freien Schweiz“. Der Sommer in Raßberg. Eine große Wiese war dort, eine frisch gemähte, und die Stoppeln stachen mich in die Sohlen meiner nackten Füße. Eine Frau sang leise, und ich erkannte die Stimme meiner Mutter.
„Nun muss der Bub auch mit mir tanzen.“
Die Hände meiner Mutter waren heiß. Sie hielt meine Hand. Sehr zart liegt der Abend über dem See, die Kämme der Wolken blenden wie geschmolzenes Silber. Ich hielt das Glück in den Händen.
Mein Vater hielt ein gesatteltes Pferd am Halfter. Er stieg auf und ritt davon.
Dann ist die Nacht mondlos, und ich bin allein, über mir der schwarze Himmel, zu dem ich mich fürchte aufzublicken. Es ist kalt.
Was macht die Mutter?
Rot lief der Wein über das glatte Tuch, überschwemmte eine herab gefallene
Nelke … Das Buch fiel mit einem leichten Knall auf die Marmorplatte des Nachttisches. Ein leises Stöhnen.
Das nutzlose Gebet verklingt. Das Klavier schweigt. Und nun, und nun – dann nützt es nichts, mit sich nach Haus zu fliehen, und falls man Schnaps zu Haus hat, Schnaps zu nehmen.
Unten auf der Straße flammten die Gaslaternen auf, und ein gelber Schein fiel auf die vergrößerte Photographie meiner Mutter.
Ein leichter Leichengeruch, süßlich und fremd … Ach, warum auch hat die Mutter sterben müssen, so jung?
Ich liebte meine Mutter. Meine Mutter nahm mich in Schutz. Ich hustete viel und oft übertrieb ich dieses Husten, weil dann meine Mutter mich pflegte.
Die Mama.
Ein böser Husten. Eine starke Lungenblutung. Ich spuckte Blut. Und so begann das Unglück.
Ich nahm Morphium, schluckte es. Dann kaufte ich mir eine Spritze.
Per Schub in die Anstalt. Ein Jahr administrativ in Witzwil. Anstalt Bel-Air. Irrenanstalt Münsingen.
Ich trug gestreifte Sträflingskleider. Legionsuniform. Dann die schwarzen Leinenhosen der belgischen Grubenarbeiter.
Draußen ist der Tag grau, ein Schwungrad surrt laut, bisweilen klagt eine Sirene, die Züge pfeifen verträumt in einer ungewissen Ferne.
Die Pfiffe der Maschinen weckten immer zuviel alte Dinge in mir auf. Ich hörte, wie ein Flaschenhals am Rand eines Glases schepperte.
Da lag man auf einem Ruhebett und musste einem Mann erzählen … Angst vor dem Leben, oder wie man es nennen will, Angst vor dem Dunklen, Problematischen. Suchen ganz unten im Schlamm. Das Bedürfnis, die tägliche Wirklichkeit zu ignorieren.
Ich fing an zu trinken. Begann mit Äther. Versuchte es mit Opium. Kokain genommen. Morphium muriaticum, was gleich bedeutend ist mit hydrochloricum. Dazu destilliertes Wasser.
Kein Schlaf. Sehr intensives Denken.
Kif. Alles ist in diesem Rauch, alles, was wir brauchen.

Ich wohnte in einem möblierten Zimmer, über einem Café. Ich lag im Bett. Unter meinem Fenster im Hof hörte ich Leute: Den werden wir uns jetzt holen, das geht nicht mehr so weiter. Sein ganzes Geld gibt er für Rauschmittel aus.
Die Brust hebt sich keuchend.
Ich schnitt mir mit einer Gilletteklinge … Fand den Blechdeckel einer alten Zigarettenschachtel. Hosenträger … an eiserne Spinnennetze geknüpft.
Aber was wollen Sie: Auch der Tod ist nicht billig. Er kommt nicht auf Anruf. Ich habe ihn gesucht und nicht gefunden. Ja, ich habe viele Dummheiten gemacht. ich habe Schulden gemacht. Und gequält habe ich mich, wie selten einer.
Mein Gott, ich will keine Entschuldigungen suchen. Es war ziemlich scheußlich. Ich halt die Einsamkeit nicht aus. Das ist so, ich kann nichts dafür. Ich suchte das Leid auf, ganz unbewusst sicherlich, aber irgendein Teil meiner selbst brauchte das Leiden.
Heut zähl ich dreiundvierzig. Die Zahl der Internierungen, der Entwöhnungskuren, der verschiedenen Katastrophen in meinem Leben festzustellen, deren Dauer und Daten aufzuzählen, ist unwichtig. Nur bin ich müde jetzt. Ein Lumpen, über einen Stuhl geworfen. Aber … ich weiß dann schon, was mir zu tun übrig bleibt.
Heute … heute werde ich sterben.
Schau, ich will ganz ehrlich mit dir sein.
Liebe Berthe.
Wir haben keinen Rappen mehr, unsere Heirat steht vor der Tür. Meine Zähne sind kaputtgegangen. Mein Hirn funktioniert schlecht. Aus Mattos Stundenglas fließt der Sand, ohne Lärm. Oh, die Stille. Angst bisweilen, wahnsinnig zu werden.
Und die Sorgen. Woher das Geld für den morgigen Tag nehmen? Wieder Schuhe gebraucht. Ein Kleid .
Bureauläufe, Korrespondenzen … und tagsüber gibt es viel Lärm.
Ich habe vier Romane angefangen, diesen Sommer, den einen sogar fünf Mal. Es ist ein Kreuz zu schreiben, manchmal. Alle Bücher, die ich bisher geschrieben habe, musste ich herunterhauen. Was wollen Sie … 500 Franken, 800 Franken, 1100 Franken. Immer nur um Geld.
Du, ich habe mein Möglichstes getan. Doch jetzt … ich hab es satt.
Ich mache Schluss.

Hör, du musst nicht böse sein. Du weißt, dass ich dich lieb habe. Du bist ein so sauberer Kerl. Aber eine Ehe … eine Ehe ist ein komplizierte Sache.
Ich hab eine Freundin gehabt … Mit sehr dunklen Haaren und einem runden Gesicht. Weißt du, meine Mutter hatte ebensolche Haare. Ich hätte sie heiraten können.
Sie saß auf meinem Bett, es war Nacht. Ich nannte sie „Sceurette“, das klingt zärtlicher als das deutsche „Schwesterlein“. Wir sprachen die gleiche Sprache. Wir haben ein Jahr zusammengelebt. Diese schöne, reife Zeit.
Die Tänzerin und ich.
Weißt du, wenn wir nebeneinander gelegen sind und auch getanzt haben, im Atelier … Schwarz schlief der See in der Ferne. Gestalten schwebten über die Wiese. Und war die Wiese nicht schon einmal da, früher, sehr früh?
Dann machte das Atmen mir Mühe, ein unsichtbares Geschöpf saugte an mir und wuchs. Es hockte in der Magengrube … Mein Gott, ja, man hat mich gern gehabt.
Das Wolkenreh. Das Mowgli – so heißt ein Junge. Mein kleiner Mick. Ein Kamerad.
Erotische Komplikationen. Liebe hat verschiedene Masken. Ein kleines, blondes Geschöpf. Sie schrieb Gedichte ohne Rhythmus und Reim, die lang gezogen gellten wie ein nie enden wollender Schrei.
Die Spitze der klaren Glasspritze – ach, es gab so viele Sachen, über die zu sprechen schwierig ist. Ich war jung, sehr jung.
Ja, Berth, Kleines, Liebes … ich schwindle dir nichts vor von platonischem Verhältnis.
Braut. Genuss.
Frauen. Das Mo …
Und doch … Das ganze Leben ist man herumgetorkelt und hat … hat die Mutter gesucht. Sie ist nicht gestorben. Und ich sehne mich so. Laut mich doch endlich in den Schlaf der Erde ein.
Denn war der Tod in meiner Nähe, verwandelte er sich in meine Mutter – wie sollte ich ihn fürchten? Im Gegenteil … Nun werde ich die Verschwundene endlich wieder finden.
Lebwohl, mein Liebes. Ich wart dann dort auf dich.

Frank Göhre

Foto: gemeinfrei, Wikimedia Commons. Zur Homepage von Frank Göhre. Frank Göhres Buch „Mo“ über Friedrich Glauser.

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