Geschrieben am 17. September 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Fortsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (16)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige tatsächlich ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen, und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu einer Übersicht aller bisherigen Teile geht es hier

Es geht weiter, endlich, heute mit Lorenzo Lunar, übersetzt von Jannike Haar. Das ganze Projekt wurde initiiert, koordiniert und lektoriert von Doris Wieser.

XVI
Rum, viel Rum

Übersetzt von Jannike Haar

„Rum. Viel Rum“, hörte Bill Toledo Caronte sagen.

„Rum. Viel Rum“, sagte auch der Mayor. Und sofort schob ihm eine Hand im Halbdunklen ein Glas zu.

„Rum. Viel Rum. Sie können so viel Rum haben, wie Sie wollen“, glaubte Bill Toledo zu hören und war sich nicht sicher, ob es die Stimme von Lázaro Andrés war oder die von …

„Rum. Viel Rum“, sang der Chor im Takt einer kubanischen Guaracha. Und die gigantische Blondine wackelte mit ihren Titten vor Toledos Gesicht.

„Rum. Viel Rum“, bestellte Caronte. Und konnte nur einen Schluck aus dem ersten Glas trinken. Genau wie Toledo.

Der Mayor legte seine Lippen an den Rand des Glases und schon wurde ihm schwindelig. Seine Knie knickten ein, das Glas fiel ihm aus den Händen und er selbst fiel zu Boden, der Blondine zu Füßen, gleich neben Carontes schlappen Körper. Seine Augen schlossen sich und die Welt drehte sich weiter.

Die Blondine schälte sich aus ihrem roten Kleid, das anlag wie eine Wurstpelle. Ihre üppigen Titten zeigten auf einen Punkt in unendlicher Ferne. Ihr Unterleib war bloß durch ein knappes Höschen bedeckt. Sie beugte sich über den Körper des Mayors und nahm ihn auf den Arm, als wiege er nicht mehr als ein Grashalm.

„Leg ihn auf das Sofa“, befahl ihr Lázaro Andrés, während er mit dem Zeigefinger der rechten Hand nach einem Popel im hintersten Winkel seiner linken Nasenhöhle bohrte.

„Ihr Wunsch ist mir Befehl, Teniente“, antwortete die Blondine mit nun unverstellter Lastwagenfahrerstimme.

„Rum. Viel Rum“, dachte Caronte, der noch einen bestellte. Aber nein. Der Totenzureiter trieb schon auf den Armen der Lastwagenfahrer-Blondine dahin, die ihn ganz sanft auf die Chaiselongue legte, die bereits das Gewicht seines Partners Bill Toledo aushielt.

Der schmierige und unrasierte Fettsack Andrés befreite sich hastig aus seinen Kleidern. Er stürzte sich wollüstig auf die Lastwagenfahrer-Blondine, die seinem ersten Ansturm gleich einer Salzsäule standhielt. Er schlug ihr hemmungslos mit den Innenflächen seiner rundlichen Hände auf den Hintern, rieb wie wild seinen kleinen aufgerichteten Penis gegen die Knie des blonden Koloss und biss ihm in den Bauch. Vom Chor schallte herüber:

Er ist der Tiger auf den Straßen

Er ist die Bestie auf Stein und Sand

Ein Mann von besten Maßen

Unser Überfallkommandant

Uau uauuu uauuuu

Unser Überfallkommandaaaaant

Uau uauuu uauuuu

Da fing der weibliche Körper an zu erbeben. Das Fleisch begann zu zittern wie Gelatine. Nur ein einziger Teil des Körpers blieb hart. Ein Prachtstück von einem Penis, der den Widerstand des Unterhöschens durchbrach, um schließlich in seiner vollen Größe vor Lázaro Andrés‘ Gesicht aufzutauchen.

„Hat ja geklappt, das mit den rosa Kärtchen“, war von der erhitzenden Stimme der Lastwagenfahrer-Blondine zu vernehmen.

„Hat geklappt“, gab der Schwanzlutscher von Lázaro Andrés zurück, der seine Aufgabe mit meisterlichem Geschick vollführte.

„Genauso, wie auch das mit der veralteten Diskette klappen wird.“

„Ja. Genauso.“

Die beiden Körper wälzten sich ineinander verschlungen über den Teppich. Der Chor begann wieder zu singen:

Er ist der Tiger auf den Straßen

Er ist die Bestie auf Stein und Sand

Ein Mann von besten Maßen

Unser Überfallkommandant

Uau uauuu uauuuu

Unser Überfallkommandaaaaant

Uau uauuu uauuuu

„Rum. Viel Rum. Sie haben viel Rum getrunken“, sagte Lázaro Andrés und Bill Toledo spürte den kalten Wasserstrahl, der ihm ins Gesicht spritzte.

„Rum. Viel Rum. Sie haben viel Rum getrunken“, hörte Toledo den Teniente wiederholen, während die Lastwagenfahrer-Blondine seinem Kameraden Caronte einen Krug kaltes Wasser ins Gesicht schüttete.

„Im Leben gibt es harte Prüfungen, mein lieber Bill“, erklärte Lázaro Andrés. „Es geht um Macht. Ich hätte gerne, dass Sie das verstehen, denn nur so kann ich Ihnen helfen. Macht. Einmal schrieb ein weiser Mann: ‚Es geht fast immer um eine Frage der Macht, sie auszuüben oder an ihr zu zerbrechen. Ohne Macht stellen weder die Zehn Gebote noch die Multiplikationstabelle feste Werte dar, an die man sich halten kann.‘ Ich möchte, dass Sie das verstehen, denn wenn Sie es nicht verstehen, werde ich Ihnen nicht helfen können. Ich möchte, dass Sie verstehen, dass ich die Macht in den Händen halten muss. Und machen Sie sich um den Ruhm keine Gedanken, denn – wie es in Kriminalromanen nun mal so ist – gehört der am Ende Ihnen.“

Bill Toledo wischte sich mit der Hand das Wasser aus dem Gesicht. Er wollte sprechen.

„Sie haben zu viel Rum getrunken, Chef. Vielleicht haben Sie nicht zu viel getrunken, aber Sie haben das eine Glas getrunken, das sie nicht hätten trinken sollen. Aber …vielleicht sollten Sie ja gerade dieses Glas trinken, um zu erfahren, wie man als betrunkener Mann zu einem ohnmächtigen Waschlappen mutiert.“

An seiner Seite versuchte auch Caronte wieder Haltung anzunehmen.

Die Lastwagenfahrer-Blondine kam mit zwei Wassergläsern und ein paar Tabletten zurück, die sie dem Polizisten und dem Gerichtsmediziner anbot.

„Bitte, nehmen Sie die.“

Beide gehorchten ohne Widerworte.

Die Tablette wirkte sofort. Bill und Caronte fühlten, wie die Symptome ihres Katers schwanden. Die Luft wurde reiner, das Zimmer heller.

„Sagen wir einfach, das alles war nichts weiter als eine Halluzination“, schlug ihnen Lázaro Andrés vor, „ausgelöst durch das Delirium tremens.“

Lázaro Andrés trug nun seine tadellose Uniform. So gut rasiert und mit gewaschenem Gesicht kam er seinem Chef ganz fremd vor. Neben dem Polizisten stand ein junger, blonder und kräftiger Kerl in einem Jeansoverall, der Bill und Caronte entfernt an eine gewisse laszive Blondine erinnerte, und hielt ein Tablett mit zwei Gläsern in der Hand.

„Ist nicht vielleicht eher das hier eine Halluzination?“, fragte Bill Toledo.

„Hört auf mich zu verarschen. Ich versteh nur noch Bahnhof“, nuschelte Caronte in seinen Bart.

„Sie können sich die Halluzination aussuchen, die Ihnen am besten gefällt. Diese, oder die davor. In dieser wird sich unser Kamerad Boris gleich an den Computer setzen, die Diskette einlegen und uns die Informationen liefern, die wir brauchen um das Kuddelmuddel hier aufzuklären. In der anderen geht es mit einer Orgie in einem Kellerraum des Hinkenden Tintenfischs weiter. Eine Orgie, in der Sie beide zweifellos kurz davor sind, von einem Transvestit mit übermäßigen Proportionen sodomisiert zu werden.“

„Ich will wissen, was die wirkliche Realität ist“, verlangte Caronte.

Lázaro Andrés lächelte wohlwollend. Seine weißen und gut geputzten Zähne ließen sein Lächeln inmitten des blanken Zimmers erstrahlen.

„Die, die Ihnen am besten gefällt, mein Freund. Sie können sich eine aussuchen.“

Bill Toledo und Caronte verharrten in Schweigen und sahen einander an. Der Kittel des Gerichtsmediziners war so weiß wie noch nie. Seine graue Hose aus weicher Baumwolle war sorgfältig gebügelt worden, die ordentlichen Bügelfalten verliefen von der Mitte des Oberschenkels bis zum unteren Saum. Bill Toledo weihte seinen Galaanzug ein, das Metall der Auszeichnungen blinkte auf seiner Brust.

„Zur Machtausübung ist ein gepflegtes Äußeres grundlegend“, erklärte Lázaro Andrés und strich sich das Hemd über seinem flachen Bauch glatt, streckte die Brust raus und verkündete in martialischem Tonfall: „Keine Sorge, Mayor, es wird alles gut. Boris kümmert sich schon um seinen Teil.“

Bill und Caronte hörten auf nachzufragen. Es war ja alles gut! Eine süße Stille herrschte im Zimmer.

In einer Ecke des Raumes saß Boris vor einer riesigen Rechenmaschine. Es war ein veralteter metallener Computer mit lächerlichem Monitor, dessen Bildschirm grünlich schimmerte. Inmitten der Stille war, gleich einer hoffnungsverkündenden Musik, das stetige Tippen des blonden Zyklopen auf der grobschlächtigen Tastatur zu vernehmen. So vergingen vielleicht ein paar Stunden, bis das Quietschen eines Druckers ertönte, der ebenso museumsreif war wie der Computer selbst.

Mehrere Minuten später stand Boris mit einem ausgedruckten Blatt Papier in den Händen von seinem Platz auf.

„Ich kann noch mehr Exemplare drucken“, sagte er, „aber das dauert. Ihr habt es ja gesehen.“ Und er händigte Lázaro Andrés den Bogen aus.

Ein schlaues Lächeln blitzte im Gesicht des Teniente auf.

„Lesen Sie das mal bitte“, sagte er und hielt den Ausdruck höflicherweise so, dass sein Chef und Caronte einen Blick darauf werfen konnten.

Der Text hatte die folgende Überschrift: „Diez Negritos“ – Zehn kleine Negerlein. Darunter eine Namensliste.

„Wir müssen diese verdammten Kerle auf der Stelle finden!“, rief Bill Toledo aus.

„Wer zum Teufel könnte das sein?“, murmelte Caronte.

„Immer mit der Ruhe, Kameraden“, wiegelte der martialische Lázaro Andrés ab. „Mir scheint, als müssten wir erst mal einem kleinen Geheimnis auf die Schliche kommen, hier liegen doch offensichtlich ein paar Widersprüche vor: Warum sind auf der Liste dreizehn Namen, wenn da ‚zehn kleine Negerlein‘ steht? Und warum sind auch Frauennamen darunter, wenn es doch angeblich kleine ‚Neger‘ sind? Ob sie wohl alle schwarz sind?“

„Rum, ich brauche einen Schluck Rum“, forderte Bill Toledo ein.

Lorenzo Lunar

Jannike Marie Haar

schließt in Kürze ihr Studium als Diplom- Literaturübersetzerin ab. Während des Studiums nahm sie an Weiterbildungswerkstätten für junge Literaturübersetzer (Leitung: Ulrike Bokelmann) im Rahmen der 10. und 11. Autorenbegegnung Nord-Sud-Passage in Saorge, Frankreich und an zwei Workshops zur Untertitelung spanischer Filme teil. Im Anschluss an ihre Diplomprüfungen absolvierte sie ein Praktikum im Sprachendienst des Kulturkanals ARTE G.E.I.E. Ihre Diplomarbeit verfasst sie über den ecuadorianischen Autor Pablo Palacio. Im Rahmen einer Anstellung als studentische Hilfskraft bei PD Dr. Semsch hat sie 19 seiner Kurzgeschichten und seine Kurzromane ins Deutsche übersetzt. Der erste Band mit ihrer Übersetzung der Kurzgeschichten ist im Januar dieses Jahres im Meidenbauer Verlag erschienen. Sie hat nach mehrmonatigen Auslandsaufenthalten in Frankreich und Spanien auch einige Monate in Santiago de Chile gelebt und dort  am Kulturzentrum „Matucana 100“ den Text von „Historia abierta“, einem Theaterstück des belgischen Regisseurs Lorent Wanson, verschriftlicht und übersetzt, damit es für die Tournee der chilenischen Compagnie durch Belgien untertitelt werden konnte. Außerdem hat sie dort Kontakte zu talentierten Autoren geknüpft, deren Bücher für deutsche Verlage von Interesse sein könnten.

Lorenzo Lunar Cardedo wurde 1958 in Santa Clara (Kuba) geboren. Er ist Autor der Erzählungen „El último aliento“ (1995) und „De dos pingüé“ (2004) sowie der Kriminalromane „Que en vez de infierno encuentres gloria“ (2003, deutsch: „Ein Bolero für den Kommisar“, 2006), „La vida es un tango“ (2005), „Usted es la culpable“ (2006) und „Dónde estas corazón“ (2009). Seine Artikel und literaturkritischen Essays wurden in verschiedenen kubanischen und ausländischen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht und seine Erzählungen in Anthologien auf Kuba und in anderen Ländern. Lunar erhielt für sein Werk mehrere Preise auf Kuba sowie in Spanien.

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