Geschrieben am 26. November 2011 von für Crimemag, Diez Negritos

Forsetzungsroman: Diez Negritos – Ein ekelhafter Leichnam (21)

Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)

– 2009 begannen die Diez Negritos, einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („Köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige tatsächlich ist …

Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.

Die Autoren: Diez Negritos

Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.

Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Mit „Negritos“ sind natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen, und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen …

Zu einer Übersicht aller bisherigen Teile geht es hier.

 

XXI

Verächtliche Augen

Jorge Moch

Übersetzt von Elisabeth Isenberg

Alles im Doppelpack, was für eine Scheiße, dachte Caronte. Zwei Leichen, zwei Schurken, zwei Speichellecker, zwei Schmeichler und Heuchler, zwei Schießereien, zwei Bombenexplosionen … zwei verächtliche Augen, haselnussfarben und bläulich. Er schaute lange in diese Augen und wunderte sich, dass sie sich nicht abwandten, dass sie ihn herausforderten. Von ihrer makellosen Schönheit wandte er sich wieder seinem täglichen Brot zu, der Binde, der Gaze, der Salbe, dem Schorf, der verwunderterschrockenresigniert aufstöhnte, während dreckiges Blut austrat … nein, Gott sei Dank, das war kein Eiter. Die restliche geschwollene Fleischmasse bebte unter seinen tastenden Händen. Er säuberte die Wundränder mit einer Jodlösung und destilliertem Wasser; die Masse gab ein „Ah“ oder ein ähnliches Stöhnen von sich, während dort hinten die überheblichen Lippen unter den verächtlichen Augen, die zu küssen, wie Caronte vermutete, eine Wucht sein musste, „Vorsicht“ sagten und er als Antwort ein „Was Sie nicht sagen“ knurrte:

„Ich will Rum“, fügte er für sich selbst hinzu, schäbig, verkatert und blass und gelangweilt und alt, sehr alt. Uralt.

„Blödsinn, alter Stricher“, murmelte der Jammerlappen mit der Stimme eines Betrunkenen und stieß weitere Schmerzenslaute aus. Er hatte nicht gewollt, dass sie ihm eine Vollnarkose verabreichten. Jetzt muss das Großmaul selbst schauen, wie es damit fertig wird, dachte Caronte und beneidete ihn um seinen Rausch. Seinen eigenen hatte er mit einigen Schlückchen über den Schrecken bekämpfen müssen, als die Frau im Leichenschauhaus aufgetaucht war und Bill Toledo mitten in seinem Kabuff zum Kunden geworden war.

„Wenn Sie mir weiter auf die Nerven gehen, stech ich Ihnen ins Loch, und zwar nicht in das am Arsch, das würde Ihnen wahrscheinlich auch noch Spaß machen.“

„Verteufelter Caligari, alte Schwuchtel. Geben Sie mir ein Glas mit Eis und Morphium oder so was, ich habe Schmerzen …“

„Reißen Sie sich zusammen, Bulle. Das haben Sie jetzt davon, dass sie ihre begriffsstuzige Nase überall reinstecken, wohl keine Eier in der Hose, was?“

„Die alte Schwuchtel hat Ihnen das Leben gerettet, Toledo“, versuchte die Frau mit dem verächtlichen Blick zu vermitteln, überraschend obszön und zum ersten Mal auf der Seite des Gerichtsmediziners. Zumindest hätte Caronte dies gern geglaubt, während er flüchtig darüber nachsann, wie es wohl wäre, wenn er zwanzig Jahre weniger auf dem Buckel hätte. Wahrscheinlich genauso, beschloss er bei sich: Er war schon alt, seit er ein Kind war.

„Einen Scheißdreck hat er, er hat verdammtes Glück gehabt, und wenn ich gestorben wäre, wären alle baden gegangen, und ihr beide gleich mit“, hustete der Verletzte.

Caronte erwiderte nichts auf diesen Seitenhieb. Glatter Durchschuss, sagte er noch einmal. Wenn er an etwas glauben würde, würde er beten, dass das Projektil von „Der Tod“ Zertuche dort drinnen keine Splitter hinterlassen hat, aber schon bald musste er sich selbst loben, weil er so ein geschickter Chirurg war. Er hatte fast alle Splitter herausgeholt. Nahe an der Milz. Gaaaannnnz nah daran fand er die Kugel.

Ihm sollten andere Angelegenheiten mehr Sorgen bereiten. Dass Rosa Carmen – er wusste nun, dass die verächtlichen Augen so hießen – einen durchlöcherten Toledo in das Leichenschauhaus gebracht hatte. Er nahm es ihr übel, dass sie sich unerkannt zwischen seine Toten und Lebenden geschlichen hatte, kurz bevor alles dort in die Luft geflogen war, und er nahm sich vor, sie das noch ein wenig spüren zu lassen. Kluges Mädchen, dachte der Gerichtsmediziner, gut, dass sie wusste, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass Zertuche sie zwischen lauter Toten jagen wollte …

„Wird er wieder, Doktor?“

„Sind Sie nicht Ärztin, Doña Rosa?“

„Soll ich zum hundertsten Mal alles erklären?“

„Mir würde schon eine Prognose für unseren lieben Patienten genügen, Frau Doktor“, der Spott, der sich auf dem müden Gesicht Carontes abzeichnete, erzürnte ihre verächtlichen Augen.

Schweigen. Schöne Augen, die vorwurfsvoll blickten. Ein Groll, der ätzte. Caronte sollte lieber gute Miene machen und sich nachgiebig zeigen:

„Ok, schon gut. Er hat mehr Glück gehabt, als ihm eigentlich zusteht. Glücklicherweise hat Zertuche nur ein einziges Mal geschossen, was ich mir übrigens nicht erklären kann. Die Kugel war kleinkalibrig, ich schätze .22 oder .25, was sie sehr gefährlich macht auf diese Distanz und in diesem Bereich des Hypochondriums, weil sie an den Rippen abprallen könnte. Aber erfreulicherweise hat unser Freund Toledo, der zwischen den Toten liegt, aber quicklebendig ist, durch einen glücklichen Zufall ein zweifaches Milzgewebe, was meine Kollegen, die Lebendige heilen, als Nebenmilz bezeichnen, so dass, sollten sich nicht alles durch eine Infektion verkomplizieren“, er streckte die Arme in theatralischer Beredsamkeit aus, drehte den Körper herum, die Handflächen zeigten in Richtung der benachbarten Seziertische bis hin zu dem Gang, der zu den Leichenkühlfächern führte, formte das Gesicht zu etwas, das einem makabren Lächeln ähnelte, „unser alter Straßenwolf bald wieder seine Runden drehen wird, wenn auch mit einem leicht lädierten lympahtischen System. Aber ich wette, seine geistige Umnachtung hat nichts mit dem Schuss zu tun …“

„Scheren Sie sich …“, Bill Toledo stöhnte, als Caronte eine Spritze in die Lösung inokulierte, die intravenös davon galoppierte und den zähen Polizisten mit weichen Sätzen zu glücklicheren Orten führte als dieser Stahlplatte, die nun mit rauen weißen Handtüchern bedeckt war, die nach Chlor stanken.

„Ja, zum Teufel, das weiß ich schon“, unterbrach ihn Caronte lächelnd, um sich den schönen Beschuldigungen dieser Augen in den Farben des Regens und den dichten Wimpern zu stellen unter dem Vorwand, dass sie noch einmal von den letzten Geschehnisse berichten sollte, mal sehen, ob es ihm gelang, ein Puzzleteil an die richtige Stelle zu legen. Ohne zu wissen warum, dachte Caronte an den Ausdruck „Kupferlicht“, den er wohl einmal während einer schlaflosen Nacht gelesen hatte.

„Jetzt erzählen Sie noch mal, Doña Rosa. Wo, sagten Sie, bewahren Sie sie auf?“

„Bei mir zu Hause im Keller.“

„Irgendwie ergibt es für mich keinen Sinn, dass dieser Flur, den Sie Haus nennen, einen Keller hat.“

„Eher einen kleinen Lagerraum als einen Keller. Eine Art Zisterne ohne Rohrleitungen. Wie ich Ihnen schon sagte, Kalkgruben.“

„Was für eine Kaltblütigkeit …“

Ojos Zafios machte eine fast unmerkliche erzürnte Geste. Dieser Alte, der nach billigem Fusel aus dem Boden eines schmutzigen Destillierkolbens stank, brachte sie aus der Fassung und aus irgendeinem Grund war sie auf der Hut gewesen und hatte nicht mit ihm gesprochen, als sie sich in das Leichenschauhaus als Angestellte eingeschlichen hatte. Aber sie musste anerkennen, dass er sich nicht nur mit Toten, sondern auch mit Lebenden auskannte, und er hatte es mit seinem Notfallvorgehen bewiesen. Vielleicht nüchtern, zur Abwechslung, ihm zitterten die Hände. Schließlich entschloss sie sich, die Deckung angesichts der Hartnäckigkeit des Alten fallen zu lassen.

„Das ist keine Kaltblütigkeit. Das waren die genauen Anweisungen von Max. Die Leiche von Noletti holen. Sie an einen sicheren Ort bringen, ihn in Kalk baden, wenn ich ihn nicht auf andere Art konservieren könnte …“

„Ja, klar, als obwir ihn einer zweiten Autopsie unterziehen wollten, oder? Was mir immer noch wie eine haarsträubende Ironie erscheint, ist, dass Sie ihn nun selbst dergleichen Behandlung unterzogen haben.“

„Der Ärmste …“

„Tja, der ist hinüber. Warum haben Sie das getan?“

„Ich konnte ihn nicht so, hier, dort liegen lassen“, sagte sie, wobei sie mit ihren schönen Augen an den einst weißen Fliesen entlangfuhr, die nun beschmutzt waren von dem Mauerbelag des Leichenschauhauses, und Caronte, der alte anonyme Beobachter von Zeichen in den Gesichtern der Toten und Lebenden, meinte, die sanfte Spur von etwas mehr in diesem Gespräch zu erkennen. Er entschloss sich dazu, mit offenen Karten zu spielen.

„Übrigens, hat Max mich irgendwann mal erwähnt?“

Sie blieb unverändert, als Caronte ihr eröffnete, dass Maximiliano sein Cousin gewesen war. Caronte wiederum blieb gelassen, als Rosa Carmen ihm mit brüchiger Stimme erzählte, dass dieser Cousin von ihm, abgesehen davon, dass er ihr vermeintlicher Chef gewesen ist, auch ihr Liebhaber gewesen war, einer von denen, die tief unter die Haut gehen. Danach schwiegen sie einen Moment und betrachteten das langsame Auf und Ab von Bill Toledos Zwerchfelll, der mit seinen Gedanken im Orient war. Sie sagte lakonisch und nach dem kurzen Wahn der Emotionen wiederhergestellt:

„Ihr Cousin also? Er hat nie von Ihnen gesprochen.“

„Das wundert mich nicht. Ich glaube, wir haben nie auch nur ein Wort miteinander gewechselt. Und hier, wenn Sie mir die harten Worte erlauben, zählt das Wort eines Lebenden mehr als das eines Toten.“

Sie schaute ihn fest mit nun stählernen Augen an. Diese Frau konnte bestimmt mit Blicken töten. Süßer Tod, wie wild du dich näherst, rezitierte Caronte in Gedanken, während er einmal mehr seinen Namen, seine Familie und vor allem die Tatsache, dass er denjenigen um Hilfe gebeten hatte, der der Schwiegervater dieser verächtlichen Augen hätte werden können, verfluchte. Wie schwer es ihm gefallen war, „Onkel“ zu sagen. Und wie ihn der Hurensohn „Sohn“ genannt hatte … Verdammte Semantik, dachte er schweigend.

„Sie sind ein Arschloch, Caronte.“

„Kommen Sie schon, jetzt müssen Sie dem da Recht geben“, sagte der Gerichtsmediziner und ruckte mit dem Kinn in Richtung des Verwundeten. Da hörten sie hastige Schritte auf dem benachbarten Gang und danach ein leises Klopfen an der Tür, das versuchte, behutsam zu sein.

„Kommen Sie rein, Marchina“, sagte Caronte, während er den Keil unter der Tür zu dem Sezierraum wegnahm, in dem er die Notoperation ausgeführt hatte. Was für ein Glück, dass die abgerissene Hand am Tag der Explosion nicht die von Marchina gewesen war. Caronte schätze sowohl die Klugheit als auch die chirurgischen Fähigkeiten dieses Assistenten, den Betito, jetzt wusste er warum, mit List und Tricks zum Ersetzen des Blutes mit dem Trokar und zum Ausstopfen der Körper, die jeden Tag in das Leichenschauhaus kamen, verbannt hatte. Ein fähiger Gehilfe ist immer ein Ärgernis für mittelmäßig Begabte mit eigenen Plänen. Caronte wusste, dass er Pathologie studiert hatte, und daraus resultierte seine Zufriedenheit. Esteban Marchina war ein geborener Gerichtsmediziner, ein fähiger Chirurg und ein schlechter Leichenschminker mit einer tonsurähnlichen kahlen Stelle auf dem Kopf wie ein Kleriker, weswegen ihn die anderen geringschätzten, aber er war fleißig und vor allem verschwiegen. Ein ziemlich blasser Typ, unbedeutend um die Wahrheit zu sagen, aber auch einer von den komischen Käuzen, die in Entzückung geraten angesichts von Staphylokokken-Enterotoxinen, Eiter in der Gallenblase, und, wo es doch um Schusswunden geht, einem wunderschönen Abzess unterhalb des Zwerchfells, dem man möglichst bald Einhalt gebieten musste.

Marchina öffnete kaum den Mund und sagte fast flüsternd:

„Doktor, eben kam ein Anruf von der Wache.“

„Um diese Uhrzeit? Wer war’s denn?“

„Aus der Abteilung von Zertuche, dem … Kommissar.“

„Ah, und was wollte der? War er’s selbst? Ist Zertuche noch am Telefon?“ Einmal mehr in seinem Leben wünschte Caronte sich einen Schluck, einen Zug und einen Kuss, in genau dieser Reihenfolge. Er blickte gespielt gelassen zu den verächtlichen Augen, deren Blick Bände sprach.

„Nein, Doktor, es war einer seiner Leute. Ich war so frei, den Anruf anzunehmen.“

„Und was haben Sie ihm gesagt?“

„Na ja, in Anbetracht der Umstände …“ Marchina blickte auf Toledo, der wie ein Heiliger schlief. Oder wie ein Toter. Dann schien er angesichts der stummen, verächtlichen Augenden Faden zu verlieren. Er schenkte ihr ein schüchternes Lächeln, sie aber blieb kühl und machte sich nicht die Mühe, es zu erwidern.

„Wir haben nicht ewig Zeit, Marchina.“

„Ich habe ihm gesagt, dass Sie zwar hier waren, vor ein paar Stunden aber gegangen sind, dass Sie jetzt zu Hause sind, verzeihen Sie, jetzt, wo ich darüber nachdenke, hätte ich nicht …“

„Zu Hause oder wo denn jetzt, Marchina, bleiben sie endlich beim Thema, verdammt noch mal.“

„In der Bar, Doktor, entschuldigen Sie die …“

„Lassen Sie’s gut sein.“ Caronte unterbrach ihn, lächelte aber mit der furchtbaren Grimasse, die er für die besten und glücklichsten Momente in seinem Leben aufsparte. „Sie sind ja sehr einfallsreich … aber sie müssen sich keine Vorwürfe machen, weil sie nicht gelogen haben.“

„Ich habe ihm auch gesagt, dass Sie Bescheid gegeben hätten, dass Sie für ein paar Tage nach Augusta fahren, dass Sie am Wochenende wiederkommen, weil ich angenommen habe, dass Sie ein wenig Zeit bräuchten …“

„Mensch, sehr gut gemacht, Marchina. Ich schulde Ihnen was.“

„Nein, das war doch nichts Doktor, Sie wissen, dass Sie auf mich zählen können.“ Marchina, der an Abweisung gewohnt war, blickte nicht noch einmal zu Rosa Carmen.

Caronte García klopfte dem Gehilfen auf die Schultern und schloss leise hinter ihm die Tür.

„Das ist die Zusammenfassung von meinem Leben: von der Bar ins Leichenschauhaus und zwischendrin manchmal nach Hause.!

„„Der Tod“ wird es gar nicht gefallen, dass Sie wahrscheinlich über die Sache mit seinem Freund Bescheid wissen. Er hat bestimmt dort draußen Leute stehen, die Ihr Häuschen genau jetzt bewachen.“

„Und vielleicht weiß er auch von den Schätzen, die Sie in Ihrem Garten aufbewahren.“

„Der ein wertloses Loch ist.“

„Das war er, bevor Sie ihn in eine Krypta verwandelt haben. Und weil Sie eine Dame sind, werde ich Ihre Wortwahl nicht kommentieren. Rauchen Sie?“

„Was sollen wir tun, Caronte?“, fragten die verächtlichen Augen, fast ein wenig naiv, und Caronte García musste zugeben, dass sich etwas in ihm zusammenzog, auch wenn dieses Gefühl gleich wieder in sich zusammenbrach, als sie voll kalter Gleichgültigkeit betonte:

„Und ich verstehe nicht, warum sie so verdammt zufrieden sind, Doktorchen, wenn wir alle, die zwischen diesen vier Wänden noch leben,dazu verdammt sind, sich später von ihrem Gehilfen, diesem Mönch, untersuchen zu lassen …“

„Nun seien Sie mal nicht so, Doña Rosa Carmen, der Mann ist vielleicht ein Heiliger, aber auf keinen Fall ein Mönch. Und ich muss schon sagen, Ihre plötzliche Panik überrascht mich. Sie waren schließlich so kaltblütig, Teil einer Intrige zu sein, die kein Mensch durchschaut, haben sich zwischen meine Leute geschmuggelt, um zwei Leichen zu klauen, die Sie in Ihrem langgezogenem Häuschen wieder zum Leben erweckt haben, und Sie haben danach, wenn Sie die Menümetaphorik gestatten, quasi als Nachtisch, einen durchlöcherten und blutüberströmten Polizisten hergetragen, Sie sind der düstersten Person in diesem beschissenen Land entkommen und außerdem sind Sie Gast in meinen geliebten Katakomben. Woher kommt plötzlich diese Angst? Mir können Sie nichts vormachen …“

„Hören Sie auf mit dem Blödsinn, wir müssen uns irgendwas überlegen … Max hat gesagt …“

„Es würde mich nicht wundern, wenn Sie jetzt Ihre Tasche durchsuchen und eine Walther auf mich richten. Vielleicht sogar mit Schalldämpfer.“

„Hören Sie: Max …“

„Wer sind Sie wirklich, Rosa Carmen? Woher kommen Sie? Was für eine Ausbildung haben Sie von denen bekommen und wer waren Ihre Meister?“

„Zu viele Fragen für einen Gerichtsmediziner, der dem Alkohol verfallen ist, wenn Sie mir diesmal erlauben würden“, brüllte sie mit nüchterner Stimme.

„Genau dasselbe, was Toldedo immer unter anderen Nettigkeiten über diesen bescheidenen Leichenverschönerer und Ihren Diener gesagt hat: Sie, Rosa Carmen, oder wie immer Sie auch heißen mögen, sind bei der Polizei und Sie sind schärfer als eine Rasierklinge.“

Die Frau warf ihm einen geladenen Blick zu. Caronte hätte schwören können, dass er den voltaischen Bogen fühlte, der ihm die Nackenhaare aufstellte. Diese Stille dauerte zu lange an, war zu beklemmend, zu zähflüssig. Die verächtlichen Augen traten langsam auf ihn zu, durchbohrten seine Augen bis in seinen Hinterkopf, und sagten mit erschütternder Ruhe, jedes Wort eine implizite Drohung:

„Ich war gerade dabei, Ihnen zu erklären, dass Max sagte, wenn die Wespen wild werden, ist das der Moment, um mit der Presse zu sprechen.“

„Die Scheißjournalisten sind doch alle korrupt“, antwortete Caronte so nervös und defensiv, wie ein Theologiestudent im Puff.

„Nicht alle, Caronte.“

„Ich glaube schon.“

„Unterschätzen Sie nicht die Macht der Presse. Unterschätzen Sie vor allem nicht die Öffentlichkeit. Es ist richtig, dass der Großteil der Medien käuflich ist, vor allem das Fernsehen, aber nicht alle, und die geschriebene Presse ist normalerweise kritisch; oftmals empören sich die Leute einfach nur deshalb nicht, weil sie keine Ahnung haben, aber wenn sie es dann tun und wütend werden …“

„Die Leute, sagen Sie? Welche Leute? Jetzt sagen Sie schon. Ich kenne genügend Federfuchser, die mich Doctor Muerte nennen.“

„Ah, ich seh schon, warum Sie so wütend sind. Was wir wollen, ist, dass sich der ein oder andere Politiker einmischt.

„Mit mir nicht, mit dieser Sorte Mensch lasse ich mich nicht ein. Es gibt Kreaturen, die ich will und solche, die ich noch nie wollte. Da spiele ich lieber mit einem sezierten Fuchs.“

„Ich kenne nämlich ein paar Parlamentarier in Augusta, die uns gerne helfen würden, weil sie dasselbe durchleben wie ich und dasselbe, was auch Sie und Ihr niedergeschossene Freund durchleben werden, wie ich glaube.“

„Wovon zum Teufel sprechen Sie? Was wissen Sie, was Sie mir nicht sagen? Ich sag’s Ihnen, Sie verheimlichen mir da was.“

„Kennen Sie einen Journalisten?“

„Einen alten Haudegen, der Zeitungspapier isst und tödlichen Fusel trinkt, so wie ich, aber …“

„Wir müssen Ihn suchen und herausfinden, was er weiß oder was er wissen möchte. Natürlich nur, wenn man ihm vertrauen kann.“

„Ein Fels in der Brandung, wie der, der vor Ihnen steht.“

„Ein Freund von Ihnen?“

„Besser noch, er ist mein Saufkumpan. Haben Sie schon einmal eine Kolumne von Martín Marrero gelesen?“

„Sagen Sie nicht, der ist das? Aber der ist doch ein erklärter Feind des Regimes!“ Die verächtlichen Augen versteckten ihren Enthusiasmus nicht.

„Ja, das könnte man nach zwei Attentaten schon sagen … es ist ja bekannt, dass auch „Der Tod“ ihn schon abmurksen wollte, aber mein Kumpel hat ein dickes Fell, so wie der Herr dort drüben.“ Toledo war noch immer weit weg, sehr weit weg. Und dort blieb er wohl noch eine Weile.

„Also, wenn Ihr Freund den Schergen von „Der Tod“ entkommen ist, muss er schon einiges auf dem Kasten haben.“

„Sie haben Recht, schöne Frau, vielleicht sind nicht alle Journalisten Feiglinge.“

„Und nicht alle von uns Polizisten sind Mörder, Caronte.“

Jorge Moch, geboren 1966 in Mexiko-Stadt, ist Journalist, Comicautor, Illustrator und Schriftsteller. Seine Artikel und Kolumnen veröffentlicht er in verschiedenen mexikanischen

Foto Elisabeth Isenberg

und ausländischen Zeitungen (z.B. in .La Jornada Semanal). Gelegentlich arbeitet er auch beim Radio und Fernsehen. Moch ist Autor zweier Romane, Sonrisa de gato (2006) und ¿Dónde estás, Alacrán? (2008) und des Erzählbands Hijos de la clepsidra (2007), mit dem er den Premio Nacional de Literatura Efraín Huerta gewonnen hat. Heute wohnt er in Xalapa, im mexikanischen Bundesstaat Veracruz.

Elisabeth Isenberg studiert seit 2008 Literaturübersetzen (Englisch/Spanisch) an der Universität Düsseldorf. Zuvor absolvierte sie ein Anglistikstudium an der Universität Göttingen.