Geschrieben am 16. September 2018 von für Crimemag, CrimeMag September 2018

Essay von Robert Brack: Noir, Polar & Neo-Polar (Teil 2)

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Zur Praxis und Theorie des Kriminalromans nach Jean-Patrick Manchette – Der Polar im 21. Jahrhundert

von Robert Brack

Im ersten Teil dieser Ausführungen ging es um die Ideen von Jean-Patrick Manchette zum Kriminalroman im 20. Jahrhundert. Der bedeutendste Vertreter der Bewegung des Neo-Polar in Frankreich und originelle „Penseur Polar“ verstarb leider schon 1995. Gleichwohl ist sein Einfluss in Frankreich noch immer spürbar, werden seine Romane dort und international weiterhin aufgelegt. Gerade in den USA gefeiert: sein posthum erschienener, unvollendet gebliebener Thriller „Ivory Pearl“ (La Princesse du Sang,von 1996; dt. Blutprinzessin, 2001), als Klassiker in der prestigeträchtigen Bibliothek der New York Review Books erschienen. Manchettes Essays, Artikel und theoretischen Texte wurden mittlerweile in Buchform publiziert, 2008 sogar seine Tagebücher, die einen interessanten Einblick in das Innenleben eines der Ivory_Pearl_cvr_2048x2048geistreichsten Vertreter des Genres liefern. Aber es wäre durchaus angebracht, seine Thesen einer kritischen Prüfung zu unterziehen und zu versuchen, ein bisschen weiterzudenken.

Seit seinem frühen Tod fehlt der anspruchsvollen Kriminalliteratur ein wichtiger Fürsprecher, Kritiker und Theoretiker. Aber auch ohne diesen brillanten Kopf sollten wir nicht aufhören, über das Genre, seine Ästhetik, seine Wirkung und seine Aufgabe nachzudenken. Denn warum will man sich denn einer so großen Anstrengung unterziehen, einen Roman zu schreiben, wenn man damit keine Aufgabe verbindet? (Ich weiß, dass das die wenigsten Kollegen so sehen. Eine solche Diskussion darüber lohne sich bestenfalls über ein Glas Bier in der Kneipe, wurde mir gesagt.) Doch weiter zu schreiben ohne weiter zu denken wäre eine erbärmliche Haltung.

Das verhaltene Echo der Moderne

Um das Genre voranzubringen, kam für Manchette ein Rückgriff oder besser Über-Griff (über die Genre-Grenze) auf die literarische Literatur und ihre ästhetischen, formalen Errungenschaften nicht in Frage. So wie er es sich versagte, die Geschichte des Kriminalromans mit der Geschichte eines Musik-Genres wie dem Jazz in ein Verhältnis zu setzen (was sich bei ihm als Jazz-Fan angeboten hätte), lehnte er es auch ab, die Kriminalliteratur in einen direkten Zusammenhang mit der Literatur des 20. Jahrhunderts zu bringen. Wir gehen unseren eigenen Weg, hat er vielleicht gedacht. Ich denke das auch. („Blind mit einer Pistole“ sind wir gleichwohl nicht, wir lesen ja auch anderes als Genre – wie könnten wir sonst Schriftsteller sein?)

Wie kann man weiter kommen, wenn alles schon erzählt wurde? Die Situation, die Manchette im 20. Jahrhundert vorfand, ist nicht mehr gegeben. Dennoch hier eine kleine Erinnerung an das, was ihm als Schriftsteller durch den Kopf spukte: Die Surrealisten hatten den bürgerlichen Roman und seine Psychologisierung verworfen; die Situationisten hatten die Literatur überhaupt verworfen; die autoritäre Linke schwankte zwischen sozialistischem Realismus und Lukâcs‘ Rückgriff auf den Roman des 19. Jahrhunderts; Dada und die literarische Avantgarde hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon alle Formen der „Kunst-Literatur“ zerschlagen bzw. bis zum Ende ihrer Möglichkeiten geführt, Gertrude Stein das Seziermesser an Form und Sprache gelegt. In dieser Situation war nichts Anderes mehr möglich als sich den „trivialen“ Roman noir bzw. Polar als Vehikel des Erzählens über die politische und soziale Wirklichkeit anzueignen. Er war populär, anti-bürgerlich, anti-literarisch, anti-künstlerisch. Also bestens geeignet zur Provokation.

Eloquentes Scheitern

Wie schon erwähnt, ging Manchette im Verlauf eines kreativen Jahrzehnts offenbar seinem eigenen hermetischen Konzept in die Falle. Trotzdem behielt er bis zuletzt seine ästhetische Rigorosität bei. Das Beharren auf dem unsympathischen Protagonisten zum Beispiel, mit dem der Leser sich nicht identifizieren kann, war ihm sehr wichtig. Warum? Lag es nur an der Faszination, die die Romane von Jim Thompson auf ihn ausübten? Oder hatte es etwas mit seinen nicht ganz einfachen persönlichen Verhältnissen (Kindheit, Jugend, Familie) zu tun?

Wieso schreckte er zurück, als er (versehentlich offenbar) einen sympathischen Protagonisten geschaffen hatte (den Privatdetektiv Eugène Tarpon). Den legte er nach zwei Romanen ad acta. Seine ungefähre Begründung lautete: Der Mann sollte dumm sein und die falsche Seite repräsentieren, er wurde dann beim Schreiben intelligenter als geplant (wie soll auch ein dummer Detektiv einen Fall lösen? – das wäre eine Komödie!). Das Verständnis, die Sympathie für diese Figur, hatte zur Folge, dass man (also Autor und Leser) ihm (Tarpon) nachsah, einmal ein reaktionärer Scheißbulle gewesen zu sein, der einen Demonstranten auf dem Gewissen hat.

panther51l+-HUsnJL._SX300_BO1,204,203,200_porno41F+y0NSq2LHinzu kam, dass Manchette nicht gerade größenwahnsinnig war, was seine künstlerischen Fähigkeiten betraf. Er hatte sich seinen Status als Genre-Avantgardist hart erarbeitet und erkämpft, sich selbst abgerungen. Er fing ja als Autor von TV-Vorabendserien („Die Globetrotter“) und Drehbuchadaptionen fürs Taschenbuch an (als Pierre Duchesne), schrieb Soft-Sex-Szenarios für Max Pécas (z.B. „Töchter der Sünde“, 1967), Porno-Romane („Les Chasses d’Aphrodite“, „Folie noire“, „Panthère noire“, als Sylvette Cabrisseau) und versuchte sich dann an grellen, comic-artigen Actionfilm-Dekonstruktionen in Romanform („Der Mann mit der roten Kugel“, „Lasst die Kadaver bräunen“). Er war so unsicher, dass er zunächst mit Co-Autoren arbeitete. Auch sein genialer erster eigener Roman „Die Affäre N’Gustro“ resultierte aus einem Drehbuch-Entwurf, der gemeinsam mit Jean-Pierre Bastid entstanden war und den er sich in Romanform aneignete.

Wie sehr er mit sich, den Texten, den ungünstigen ökonomischen Verhältnissen, seiner wankelmütigen Psyche und seiner schwierigen Gesundheit kämpfte, kann man in seinen Tagebüchern („Journal 1966 – 1974“) nachlesen. Sie sind die „literarischste“ Haltung, die er sich zugestanden hat. Und man sieht auch, dass er (wie manche anderen großen Noir-Autoren auch, siehe Hammett, Chandler, Himes, Thompson, Woolrich, Goodis) das Genre aus zwei Gründen wählte – weil er Geld brauchte, und weil er kein Zutrauen zu seinen Fähigkeiten als „reiner“ Literat hatte – was für ein Glück für uns, dass er so mit sich gehadert hat!

3923208499.03.LZZZZZZZGefangen im Histomat

Quasi-postmoderne Strategien des Schreibens zu entwickeln, lag Manchette fern, ihm war es viel zu ernst mit seinen Romanen, um etwas rein Spielerisches auch nur in Erwägung zu ziehen. (Dabei hätte sich das als situationistische Strategie durchaus angeboten.) Für ihn war die Geschichte der Literatur und die der Genre-Literatur eine Abfolge von politökonomisch bedingten sozial-ästhetischen Epochen entsprechend dem historischen Materialismus von Marx. Damit war er nach dem Ende der Moderne am Ende der Literaturgeschichte angekommen und auch am (von ihm selbst proklamierten) Ende des Neo-Polar, dem Ende der Kriminalliteratur überhaupt – und stand in einer Sackgasse.

Sein Ausweg war, auf die Mauer zu klettern, die ihm die Sicht versperrte, und selbst historisch zu schreiben oder „epochal“ wie in seinem letzten unvollendeten Roman. Der Ansatz war vielleicht richtig. Bei der Umsetzung allerdings stellte sich heraus, dass in „Blutprinzessin“ (posthum erschienen, frz. 1996, dt. 2001) eine erzählerische und stilistische Rigorosität vorherrscht, die das Romanwerk wie ein starres Gebäude aus dicht verfugten, genre-poetischen Steinquadern wirken lässt. Toll, aber leblos. Was nicht zuletzt auch aus der Ablehnung jeder „Psychologisierung“ resultiert und der Weigerung ein Personal zu entwickeln, das zur Identifikation einlädt. So bleiben auch die Figuren kalt und distanziert, Schablonen.

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Manchette hätte vielleicht einen Weg gefunden, wenn ihm genug Zeit geblieben wäre, aber das war ihm versagt, er starb 1995 mit 52 Jahren. Wir sind also auf uns allein gestellt. Wie kommen wir raus aus dem Käfig der uns vom Kommerz gnädig hingeworfenen Brocken totaler Beliebigkeit? (Nicht beliebig vorgeblich nur eins: der Zwang zur hohen Auflage.) Scheinbar befinden wir uns am Ende der Genre-Geschichte – alles war schon da, alles wurde probiert, zerstört und den Geiern des Kapitalismus zum Fraß vorgeworfen. Die Trash-Literatur liegt auf der Müllhalde der Titelüberproduktion. Die Reichhaltigkeit des Angebots hat paradoxerweise zur Folge, dass kaum jemand sich traut, einem Genre-Schriftsteller Experimente zuzugestehen – wahrscheinlich wagen die meisten Autoren gar nicht zu fragen, vielleicht nicht mal, daran zu denken. Angst essen Genre auf.

Eine Kopie des amerikanischen Hardboiled-Krimis wie auch eine Nachahmung des Neo-Polar kommt nicht mehr in Frage, Zeit und Geschichte sind über sie hinweggegangen. Aber es gilt auch: Hinter ihren erzählerischen und stilistischen Errungenschaften sollten wir nicht zurückbleiben, sondern sie als Anregungen betrachten. Erzählerische Kühnheit und stilistischer Wagemut bringen das Genre weiter, beides ist leider rar gesät. Hier ein paar Anregungen um individuell Lösungsmöglichkeiten 9782800165684-de-300auszuprobieren. (Und keine Angst vor dem Experiment, es gibt tatsächlich noch ein paar risikofreudige Verlage und Lektoren und sogar ein paar wache Leser, die nicht gleich Zeter und Mordio schreien, wenn man ihnen eine Herausforderung vorsetzt.) (Allerdings: Hektoliter von Blut fließen zu lassen und massenweise Körper zu zerstückeln bedient in erster Linie die von Profitgier befeuerte Sensationslust. Längst schon ist ein dümmlicher Wettbewerb entbrannt, wer sich das perverseste Verbrechen ausdenkt.)

1. Das Individuum in seiner Epoche

Wir sollten uns nicht darauf beschränken, das Verbrechen als schlichte Tatsache zu schildern, sondern es genau einordnen, es in seiner besonderen Ausprägung in einer bestimmten Epoche wahrnehmen und beschreiben. Da wir über Menschen als Individuen schreiben, geht es darum, die Situation des Individuums in dieser speziellen Epoche deutlich zu machen. Wir schreiben ja nicht über Allgemeines, sondern konkrete gesellschaftliche Verhältnisse, die Verbrechen hervorbringen (was auch immer ein „Verbrechen“ ist und wer es definiert – diese Fragen liegen dem Genre zwangsläufig „im Blut“).

Die Gefahr besteht jedoch, dass wir wieder im 19. Jahrhundert landen, bei Balzac womöglich. Aber der hat in seinem Romanen immerhin peinlich genau darauf geachtet herauszuarbeiten, in welchem historischen, ökonomischen und sozialen Kontext seine Protagonisten existieren. Seine Figuren sind immer ganz deutlich von ihrer Epoche und ihren sozialen Gegebenheiten geprägt, bzw. können gar nicht losgelöst davon verstanden werden.

mademoiselle-fifi-and-other-stories-bilingual-edition-english-frenchEinen Schritt weiter ging Stendhal, der sich auf dieser Grundlage, aber weit darüber hinausgehend, stilistische Kühnheiten und Spielereien erlaubte. Er nutzte erzählerische Ironie als Entlarvungsstrategie, um die jeweils epochalen gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen und die von diesen Verhältnissen beherrschten Individuen ins Visier zu nehmen. Eine direkte Anbindung an die Schilderung konkreter aktueller Entwicklungen lehnte er allerdings ab, weil „Tagespolitik“ vergänglich sei und den künstlerischen Wert einer Erzählung mindere.

Grundsätzlich gilt: Es ist dringend nötig, dass wir uns bewusst werden über die literarischen Methoden, die wir verwenden, über die Perspektive, aus der heraus wir die Welt betrachten und interpretieren, und die poetische Form, die wir wählen. Sonst handeln wir naiv. Und naive Schriftsteller sind schlechte Schriftsteller: Es mag anderswo seinen Charme haben, aber bestimmt nicht im Genre Kriminalliteratur!

Apropos 19. Jahrhundert: Wie Manchette auch irgendwann feststellte, war es ausgerechnet ein Franzose, nämlich Maupassant, der in Amerika ganzen Generationen von Autoren als Vorbild diente für einen knappen, nicht-psychologisierenden, „harten“ Erzählstil. Sein Einfluss ist in der amerikanischen Literatur bis ins 20. Jahrhundert sehr prägend. Ohne Maupassant keine behavioristische Schreibweise und kein Hammett! Er war der Wegbereiter des brutalen Realismus, der auf eine brutale Wirklichkeit antwortete.

9782070435623-de-3002. Nie ist alles möglich – Die Stilfrage

Sollte es nicht die Aufgabe des Autors sein, zu entscheiden, welchen Inhalt er in welche Form gießt? Klar, das bedeutet aber, dass der Autor wissen muss, was er tut und warum er es tut (nachdem er sich zuvor über seine Möglichkeiten klar geworden ist). Er sollte zum Beispiel wissen, dass nicht nur das Was-wird-erzählt entscheidend ist für seine Interpretation der Wirklichkeit, sondern auch das Wie-wird-erzählt. Und er sollte sich immer bewusst sein, dass sogar die Strategie eines vermeintlich allwissenden Erzählers nur das Ergebnis von Denkprozessen eines „Individuums“ ist (des „Autors“, der in dem Menschen steckt, der in die Tasten greift). Dessen Gedanken- und Gefühlswelt wird von der historischen Epoche und den sozialen, politischen, ökonomischen und auch persönlichen Verhältnissen, in denen er steckt, wesentlich und bis ins Detail bestimmt.

Außerdem müssen wir uns bewusst sein, das wir a) unsere Epoche mit den Augen unserer Epoche betrachten, während wir b) eine vergangene Epoche ebenfalls mit den Augen unserer Epoche betrachten (wenn wir historische Kriminalromane schreiben oder lesen). Und wir sollten uns – immer! – um guten Stil bemühen, alles andere wäre ein Verrat am Handwerk. Aber nicht, um literarischen Ernst und feuilletonistische Seriosität zu heucheln. Denn das Unseriöse, das Sensationsheischende, das Grelle, die Übertreibung – und das Triviale! – sind unsere Stilmittel, sie gehören zum Genre, sie sind seine Essenz.

chorniques 97839232087843. Alles unüberschaubar, alles Interpretation?

Wir können niemals objektiv sein, wir stecken bis zum Hals in der ultra-komplexen Wirklichkeit, die wir beschreiben, es ist schwierig einen Überblick zu bekommen und zu behalten. Und was den Überbau betrifft: Ständig gehen auch wir als kritische Betrachter den Strategien des herrschenden Spektakels auf den Leim! Dessen sollten wir uns bewusst sein.

Gleichzeitig ist das Maschinengewehrfeuer der gewalttätigen globalen Verhältnisse allgegenwärtig und dringt noch bis in den hintersten Winkel provinzieller Schein-Idyllen. Der Mega-Kapitalismus hat einen planetaren Bürgerkrieg geboren. Und weit und breit keine Sicherheit, was richtig und was falsch ist, weder in Gedanken (Ideologie, Weltanschauung, Religion) noch in Taten: Für wen und was, zu wessen Nutzen stelle ich die gestörte Ordnung wieder her, wenn ich ein „Verbrechen“ aufkläre und einen „Verbrecher“ überführe und für seine „Bestrafung“ sorge? Und wir benutzen die Sprache, die von diesen Verhältnissen geprägt wird und in dieser Ausprägung eher ihrer Legitimation dient als ihrer Kritik. Wie naiv stünden wir da, würden wir ignorieren, dass Sprache ideologisch kontaminiert ist?

Und wären wir nicht schlechte Schriftsteller, wenn wir darauf verzichten würden, die inszenierte Unüberschaubarkeit, die kalkulierte Unordnung und die kommerzielle Verlogenheit des allgegenwärtigen Spektakels auf allen Ebenen in einer Form abzubilden, die dem Thema entspricht? Müssen Kriminalliteraten im 21. Jahrhundert nicht die Formen des Erzählens bis zum Äußersten strapazieren, um überhaupt noch glaubhaft zu sein?

Wenn wir das alles ignorieren, betreiben wir Augenwischerei und enden als Märchenerzähler, produzieren Kinderliteratur für Erwachsene, die sich vor der Wirklichkeit ängstigen. Oder, um es mit Manchette zu sagen: „Der heutige Polar kann sich – wie vor ihm der psychologische Thriller oder andere Formen, die sich überlebt haben – allenfalls oder bestenfalls nur noch an unter Schlaflosigkeit Leidende oder Zugreisende wenden.“ (Chroniken, S. 113). Einschlafliteratur für Erwachsene, Unterhaltungstrivialitäten zur Zerstreuung von Bahn- oder Flugreisenden schreiben – was für ein glorreiches Schicksal für einen engagierten Autor! Er arbeitet wider seine Intention daran, mit „seinen“ Fiktionen, eine fragwürdige „Ordnung“ zu legitimieren. Wollen wir uns nicht lieber klammheimlich davonstehlen? Vielleicht sogar offensiv. Das Genre hält uns Fluchtwege offen.

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Keneth Goldsmith „Printing out the Internet“, 2013 (Quelle: Wiki Commons)

4. Unkreatives Schreiben

Plagiieren, kopieren, collagieren sind die „anti-kreativen“ Strategien des US-Künstlers Kenneth Goldsmith, der seinen Adepten verbietet eigene bzw. individuelle Werke herzustellen – lädt das Genre nicht dazu ein?! Das kann man durchaus positiv sehen: Wäre es nicht an der Zeit, kreativer und offener mit unserer von Markt- und Genre-Gesetzen verordneten Unkreativität, unseren halbherzigen Scharlatanerien und unserem inhaltlichen Paste-and-copy umzugehen?

Dies würde bedeuten: das Benutzen der Genre-Muster deutlicher hervorzukehren, ebenso das Fiktive an der Fiktion, den Prozess des Aneignens der Wirklichkeit kenntlich zu machen. Sollten wir uns nicht dazu bekennen, dass wir ausgeleierte Genre-Muster wie Hüllen oder Bausteine oder Versatzstücke benutzen, bloß um schein-originelle Werke hervorzubringen? Wäre es nicht ehrlicher, sich spielerisch zu der Unoriginalität und Unkreativität, zu der ein Genre-Literat nun mal verdammt ist, zu bekennen?

Das hieße ja nicht, auf den „Kunst“-Anspruch zu verzichten, im Gegenteil. Tut Goldsmith auch nicht. Dummes Genre ist das, was die Kommerz-Schreiber machen. Einige erzielen vielleicht aus Versehen passable Ergebnisse, weil sie das Erzählen im Blut haben. Aber die meisten liefern flache, lächerliche Produkte ab, die formal und inhaltlich nicht nur affirmativ, sondern reaktionär sind, weil sie überhaupt keinen ernsthaften bewussten Blick auf die Wirklichkeit werfen. Sie verstehen weder Sprache noch Bilder zu entwickeln, die der Komplexität der Wirklichkeit und der vorherrschenden (Macht- und Gewalt-) Verhältnisse auch nur im Entferntesten gerecht werden. Das sind keine schlafenden Autoren, sondern trivialliterarische Zombies. Sei ein kreativer Zombie oder ein lebendiger Trivialliterat – und schon hast du viel geleistet!

9783882213652-de-3005. Rückgriff auf die Moderne?

War es womöglich ein Fehler von Manchette, alle Brücken zur „literarischen Literatur“ abzubrechen? Warum nicht von der literarischen Avantgarde des vergangen Jahrhunderts lernen, warum sich nicht die Errungenschaften der (verblichenen) Moderne dem (neu zu lackierenden) Genre gefügig machen? Natürlich mit dem Blick auf die aktuelle Wirklichkeit und die Epoche, in der wir jetzt leben. Warum nicht die literarische Methode der Collage, z.B. eines Dos Passos für das Genre nutzen? Wieso nicht die Irrealität einer Romanfiktion hervorkehren, indem wir sie wie auf einem Film-Set oder auf einer Theaterbühne inszenieren?

Man kann heimtückisch-elegant vorgehen und das Ungewisse dessen, was gemeinhin im Genre als Wahrheit und Wirklichkeit verkauft wird, anzweifeln. Man kann das Ungewisse in der Wahrnehmung zum Thema machen und die Interpretation des Wahrgenommenen im Subtext kritisieren. Ein Was-wäre-wenn-es-anders-wäre ist doch das Dilemma jeder Realitätsbetrachtung – siehe die widerstreitenden Zeugenaussagen zu einem beliebige Geschehen, ob Verbrechen oder nicht. Wie soll ein Protagonist Zeugnis ablegen von etwas, das gar nicht bezeugt werden kann, weil seine Wahrnehmung verzerrt, verschoben, verspiegelt stattfand? Wenn im realen Leben Wahrhaftigkeit, Wirklichkeit und Realität ständig dementiert werden, wie können wir sie dann im Roman einfach so behaupten?

Der Kriminalroman scheint geradezu prädestiniert dafür zu sein, den Realitätsgehalt des Erzählten anzuzweifeln, weil er eben den zu ermitteln vorgibt. Schlicht betrachtet kennt der Autor ja schon die angebliche Wahrheit und tut nur so, als müsse sie noch entschleiert werden. Komplexer gesehen könnte man fragen, inwieweit es dem Autor überhaupt gelingen kann, die Realität mit Hilfe einer Fiktion (schlimmer noch: Genre-Fiktion) abzubilden.

gertrude stein6956056. Der Gertrude-Stein der Weisen?

Aber alles ist erlaubt, oder? Ein Rückgriff auf das Erzählen über das Erzählen auf das Sprechen über die Sprache à la Gertrude Stein wäre auch eine Möglichkeit. Das Genre-Erzählen und die Genre-Sprache natürlich – und deren Zerstückelung, Zerschlagung, Zerr-Spiegelung. Zumindest wäre das ein Versuch, ehrlicher mit dem eigenen Handwerk umzugehen. Im Sinne einer Ermittlung über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Ermittlung zur Wahrheit (innerhalb der Fiktion, aber mit Bezug auf die Wirklichkeit – kompliziert, nicht wahr?).

Der Kriminalroman ist geradezu prädestiniert dafür, die Kritik am Erzählen in die erzählte Handlung einzuarbeiten, weil er ja grundsätzlich davon ausgeht, dass es ein Rätsel gibt, das aufgeklärt, eine Lüge, die entlarvt oder eine Intrige, die verwirklicht und/oder aufgedeckt werden muss. Das Wahre im Falschen entdecken, das Falsche im Wahren, die Lügen hinter den behaupteten Fakten und die Fakten hinter den behaupteten Lügen … die wahren Gründe (schlichte ökonomische Interessen, rabiates Machtgehabe oder ideologische bzw. sozialpsychologische Gespinste, die eine fatale Kettenreaktion bewirken usw.)

Der Kriminalroman zweifelt viel mehr als der „herkömmliche Realismus“ den Echtheitsgehalt des Erzählten an. Das war im Genre von Anfang an inbegriffen, denn der Krimi erzählt innerhalb eines konstruierten künstlichen Universums aus Mythen, Stereotypen, ritualisierten Strukturen, Standardsituationen und formalisierter Dramaturgie. Ein Kriminalroman kann niemals naturalistisch sein und die Wirklichkeit eins zu eins abbilden, weil er immer selbstreferentiell ist. Schon allein die Notwendigkeit einer strengen Spannungsdramaturgie verhindert jeden ernstzunehmenden Realismus. Also muss man damit spielen, darf es kenntlich machen, ironisch brechen. Das muss ja nicht in alberne Genre-Parodie abgleiten.

gramsci38797582047. Kritisch träumen

Und um auch der Moral ein Dementi zu erteilen: Die Notwendigkeit des Ermittlers und seiner Wahrheitsfindung verhindert, dass wir uns eingestehen, dass es für das Verbrechen („das Böse“) keine Lösung gibt. Auch keine gerechte Bestrafung oder Gerechtigkeit, denn was geschehen ist, ist passé und lässt sich nicht mehr rückgängig (also gut-) machen. Das Verbrechen hört nie auf, liegt jeder Gesellschaft zugrunde – im Herzen der Macht herrscht ein kriegerisches Verhältnis und jedes Gefängnis dient vor allem der Disziplinierung der Nicht-Gefangenen (der Foucault’sche Thrill, wenn man so will). Wenn wir uns nur kurz unser 21. Jahrhundert mit seinem allgegenwärtigen hochentwickelten, scheinbar bar jeder Logik stattfindenden Terror vergegenwärtigen, muss doch eigentlich jedem klar werden, dass ein klassischer Kriminalroman im Vergleich zur Wirklichkeit eine ziemlich jämmerliche Erkenntnisstrategie darstellt – die Wirklichkeit ist leider komplexer als die Polizei erlaubt.

Wenn Aufklärung nicht mehr möglich ist, kann man vielleicht nur noch Thriller schreiben – das wäre das Worst-Case-Szenario. Doch der Thriller antwortet auf die Zerstückelung der Wahrheit durch Bombenanschläge, Messerattacken, MG-Salven, Drohnenangriffe, Raketenanschläge und Lkw-Amokfahrten mit stringenten Verschwörungstheorien. Weil er eine Logik braucht, um eine Welt zu erzählen, in der es keine Logik gibt bzw. ein Gewirr von Strukturen, in dem es beinahe Zufall ist, wenn der Hampelmann mit der Bombe in der Hand sich auch wirklich bewegt, wenn der vermeintliche Drahtzieher im Verborgenen an irgendeinem Faden zupft.

Kritisch zu schreiben bedeutet, Strategien des Erzählens zu entwickeln, die bewusst und gezielt den Zweifel säen. Kritisch zu schreiben bedeutet ebenfalls, wach zu bleiben und eine Position einzunehmen, aus der heraus die allgegenwärtige Verlogenheit der Wirklichkeitsdarstellung wirkungsvoll unter Beschuss genommen werden kann. (Denn gelogen wird allenthalben, dass sich die Balken biegen.) Aber können wir noch kritisch sein in einer Welt in der rechtsextreme Identitäre sich auf Guy Debord berufen und AFD-Trottel immerhin so schlau sind, sich Gramscis Hegemonietheorie für ihre Zwecke zurechtzuschneidern, um das genaue Gegenteil von dem zu erreichen, wofür er kämpfte?

siniac9782842191542-us-300siniac41jaNGkEPQL._SX319_BO1,204,203,200_Aufklärung? Absurd!

Alles wird dementiert und manipuliert. Und da kommen wir Krimi-Schreiberling daher und behaupten Aufklärung! Aber vielleicht heißt schreiben auch bloß manipulieren, etwas nicht-wahr machen. Heißt vielleicht auch einfach nur: noch radikaler lügen. Lieber ein offensiver Betrüger sein als ein passiv-aggressiver Wahrheitsfetischist?

Tja, vielleicht kommen wir hier nicht weiter. Vielleicht werden wir nie weiter kommen. Wir treten auf der Stelle. Wir sind gescheitert, es kommt darauf an, besser zu scheitern. Das Genre ist tot, es lebe das Genre. Die Geschichte ist zu Ende. Lasst uns neue Morde begehen. Töten wir die gleichen Opfer noch mal! Und tun wir weiterhin so, als wäre ein anderer der Täter. Wetzt die Messer und schärft die Federn. „Es fordert Blut“, um mit Macbeth zu sprechen, der genauso fiktiv ist, wie sein Autor. In jedem Fall wäre es einen Versuch wert herauszufinden, was wir wie und warum und zu welchem Zweck und wessen Vor- oder Nachteil tun – beim Schreiben von Geschichten, in denen wir übrigens vor allem den Tätern oft erstaunlich viel Detailliebe angedeihen lassen.

Pierre-Siniac+Der-UnverwüstlichePierre-Siniac+TodesreigenAbsurd? Vielleicht. Ein Autor, der den Neo-Polar schon schrieb, lange bevor er definiert wurde, und den Manchette sehr verehrte, war der 2002 verstorbene Pierre Siniac. Er veröffentlichte, ab 1958, mal wirklichkeitsnahe, mal halb surreale Romans noirs, durchaus in unterschiedlicher Qualität, die mal heiter-ironisch, mal düster-fatalistisch der kriminalistischen Groteske huldigten. Ihm gelang mitunter das Kunststück aus einem Action-Roman mit lässiger Hand eine Stück Philosophie zu schmieden (z.B.1971 in „Deux pourris dans l’Ile“, dt. 1988 als „Todesreigen“). Unter anderem ermächtigte er zwei poetischen Lumpenproletarier („Luj Inferman‘ et La Cloducque“, frz. ebenfalls 1971) dazu, sich als Serienhelden des Überlebens die Zivilisation mit bissigen und bösartigen Kommentaren zur Brust zu nehmen (in insgesamt sieben Romanen).

Siniac, von dem nur drei Kriminalromane (von 48!) und eine Comic-Adaption auf Deutsch erschienen, war ein Meister des Genres und wusste das Triviale effektiv zu zelebrieren. Ihm gelang es, die Absurdität des Erzählten und die Absurdität des Erzählens zu verbinden und auf die Spitze zu treiben. In seinen besten Momenten schaffte er es, nicht nur der Realität, sondern auch der Fiktion den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

blind 314tonbsZ0L._BO1,204,203,200_Wir können uns also nicht beklagen. Es mangelt im Genre nicht an Anregung. Es mangelt an Mut. Ein paar Bilderstürmer wären auch nicht schlecht.

Doch überlassen wir getrost Manchette, dem „Meisterdenker“ des Polar, das letzte Wort: „Eine überholte Form wieder zu verwenden, heißt, ihr Bezugssystem zu verwenden, das bedeutet, sie zu ehren, indem man sie der Kritik unterzieht, sie übertreibt, sie bis zum Äußersten verdreht. Ja, selbst sie zu respektieren, heißt noch, sie zu verdrehen.“ (Chroniques, S. 13)

Robert Brack

Zum ersten Teil dieses Essays geht es hier.  „Der Kommissar von St. Pauli„, Robert Bracks dritter Alfred-Weber-Krimi, ist gerade bei Ullstein erschienen. Die Serie spielt in Hamburg in den Goldenen Zwanzigern. Und natürlich ist sie Noir.

Empfohlene Lektüre: Doug Headline (Hg.), Jean-Patrick Manchette: Portrait in Noir. Nachwort von Diminique Manotti. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Alexander Verlag, Berlin 2014. 256 Seiten, Fadenheftung, 19,90 Euro.

Jean-Patrick Manchette: Chroniques. Essays zum Roman noir. Distel Literaturverlag, Heilbronn 2005. Kartoniert, 296 Seiten, 20 Euro.

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