Geschrieben am 18. April 2015 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Essay: Markus Pohlmeyer über Europa und Religion

NEUTEST4
Gedanken über Europa und Religion – Skizzen

von

Markus Pohlmeyer

Universalität

Die Dramatik und Tragik vieler Religionen scheint in einem strukturellen Baufehler, einem antagonistischen Dualismus zu liegen – aufgrund einer zweifachen Abgrenzungsdynamik nach innen hin und gegen außen, die oft in psychischer und physischer Gewalt eskaliert(e).[1] Ulrich Beck beispielsweise spricht von den zwei Gesichtern einer Religion:

„Das Neue Testament sagt: ‚Vor Gott sind alle gleich‘ (vgl. Gal 3,28 f.). Diese Gleichheit, diese Aufhebung der Grenzen, die Menschen, Gruppen, Gesellschaften, Kulturen trennen, ist die Gesellschaftsgrundlage der (christlichen) Religion. Die Folge allerdings ist: Mit derselben Absolutheit, mit der Unterscheidungen des Sozialen und Politischen aufgehoben werden, wird eine neue Fundamentalunterscheidung und Hierarchie in die Welt gesetzt: die zwischen Gläubigen und Ungläubigen, wobei den Ungläubigen […] der Status des Menschen überhaupt abgesprochen wird.“[2]

das neue testamentAber auch nach innen halten die wenigsten Religionen die Aufhebung sozialer und politischer Alterität und Differenzen (es wäre zu ergänzen: auch in Blick auf Gender und Sexualität) konsequent durch (die vermeintlich profanen Dimensionen erscheinen maskiert in anderen Gestalten wieder) – oder können es gar nicht von der Anlage ihrer Gründungsbedingungen bzw. -dokumente her. Und nach außen: Beck zitiert mit Blick auf das Christentum die historischen Beispiele von Kolonisation und (den contra-konfessionellen) ‚Mischehenkrieg‘ und betont das ungebrochen aktuelle Gefährdungspotential des religiösen Fundamentalismus: „Das ist die Sorge, die um sich greift: dass als Kehrseite des Versagens der Säkularisierung ein neues Zeitalter der Verfinsterung droht. Religion kann töten.“[3]

In der Entstehung der geistigen Landschaft Europa nehmen Hellas bzw. Athen oder die Vorsokratiker, Sokrates, Platon, Aristoteles … – auch und vor allem in ihrer Rezeption durch die römische Literatur – als Gründungsgestalten der westlichen Philosophie eine besondere Rolle ein; sie schaffen eine kulturelle Sphäre, die in dem Formierungsprozess von Europa mit Judentum und Christentum in einer komplexen Wirkungsgeschichte zusammengedacht werden muss. Denn auf die Frage, was denn Europa sei, antwortet Emmanuel Levinas ebenso lapidar wie grandios: „Die Bibel und die Griechen.“[4] Denn:

„Ich nenne griechisch, über den Wortschatz und die Grammatik und die Weisheit hinaus […], die Art und Weise, wie sich in allen Gegenden der Erde die Universalität des Abendlandes ausdrückt oder sich auszudrücken bemüht, indem sie die örtlichen Partikularismen des Malerischen oder Folkloristischen oder Poetischen oder Religiösen überwindet. […] Erinnerung an die Bibel in der Gerechtigkeit, die sie trägt.“[5]

G. Baudler_Gewalt in den ReligionenExkurs Kosmopolitismus

So Levinas, idelaliter. Thomas A. Szlezák hat darauf hingewiesen, dass realiter „die Geringschätzung der Nichtgriechen und die Sklavenfrage“[6] konträr stehen zum Programm beispielsweise einer Stoa mit ihrem universalen Kosmopolitismus: „Wir finden also bei den Stoikern ein Denken in universalen Kategorien. Bürger sind wir des einen großen Staates, den die Welt darstellt und dessen Gesetz die Weltvernunft selbst ist, Bürger zusammen mit den Göttern und mit allen anderen Menschen, gleich welchen Standes, welcher Herkunft, welcher Sprache oder Rasse.“[7] Ottfried Höffe verweist auf die Universalismuskonzepte von Kant und charakterisiert in diesem Zusammenhang Zum ewigen Frieden: „Die Schrift ist sogar über ihr Thema hinaus kosmopolitisch. Angefangen mit der Forderung, jede Verfassung solle republikanisch sein, sind nämlich ihre Aussagen interkulturell gültig und zugleich für kulturelle Unterschiede offen. […] Im zweiten, dem Völkerrecht gewidmeten Definitivartikel, entwickelt Kant den anspruchsvollsten Gedanken seiner Friedensschrift und den vielleicht revolutionärsten Teil seines gesamten Kosmopolitismus: die Idee eines Friedensbundes aller Staaten […].“[8]

Szlezáks weiterführende Hinweise zu Platon machen deutlich, wie sich jene vermeintlich griechische (Exklusiv)Identität durch sich selbst hindurch transformiert und (fast hegelianisch) aufhebt:

„Die Utopie führt uns hinaus aus den engen Grenzen des Faktischen aufs weite Meer des Möglichen und Besseren, weg vom Eigenen hin zu Fremdartigen. Die erste und bis heute philosophisch bedeutsamste Staatsutopie, Platons ‚Politeia‘, versichert ausdrücklich, daß dieser beste denkbare Staat […] sehr wohl bei irgend einem weit entfernten nichtgriechischen Volk bereits Wirklichkeit sein kann. Die höchste Möglichkeit des Menschen ist also nicht dem eigenen Menschentypus vorbehalten – in welcher anderen Hochkultur hätte man so geurteilt? Bildung ist das Entscheidende, nicht das Grieche-Sein.“[9]

Dieses Zitat könnte auch gelesen werden als das Programm eines transnationalen Europas (bei aller Kritik an Platons ‚Staat‘ im Einzelnen), das eben nicht mehr rekurriert auf die eine, exklusive Polis oder später die eine nationale oder völkische Identität und somit ideologische Engführungen und Ausgrenzungen von Alteritäten vermeidet.

„In einer Welt der Nationalstaaten, die, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, ihre sogenannten Interessen mit Bedrohungsritualen, militärischen Einsätzen und Kriegen verteidigen, baut Europa den ersten nachnationalen Kontinent auf, explizit als Friedensprojekt. […] Europa ist wieder Avantgarde.“[10]

R. Menasse_Heimat ist die schönste UtopieUniversität

Grieche-Sein ist vielmehr – trotz aller Schwierigkeiten des Begriffes – eine Mentalität[11], die prinzipiell allen Menschen offensteht und sich über Bildung konstituiert. Nicht nur, aber auch wegen dieser Motive wird das Projekt der europäischen Universität von Bologna, Paris über Oxford bis Humboldt als Form eines Humanismus einsichtig, der, obwohl in seinen historischen Erscheinungsformen eindeutig lokalisiert, in seiner eigentlichen Sphäre de- bzw. metalokalisiert ist: „Europa war die geographische Chiffre für die universale Idee der Aufklärung.“[12] Und vielleicht ist ja die institutionelle Chiffre dieser Idee die Universität, auch wenn bei ihrer Genese im Mittalter durchaus (kirchen)politische Interessen mitspielten:

„1208 verwendete Papst Innozenz III. diese Bezeichnung [Universität; MP] in einem Privileg, das ‚allen Gelehrten der Heiligen Schrift, der Dekrete und der Freien Künste‘ (‚universis doctoribus sacre pagine, decretorum et liberalium artium‘) zu Paris die Anerkennung als ‚universitas‘ (‚Gemeinschaft‘) zugestand.“[13]

So könnten Universitäten Orte sein und werden, die jenseits von Bürokratie und wirtschaftlichem Diktat, Gestalten eines zukünftigen Europas entwerfen und diskutieren, obwohl sie selbst allzu oft in der Gefahr sind, durch wirtschaftliche Diktate und selbstreferentielle Bürokratie ihre Orientierung zu verlieren, die ja keineswegs aus irgendeinem verklärten, statischen Wesenskern bestünde, sondern in der Offenheit liegt einer nie abschließbaren Arbeit am Begriff, im Wagnis neuer Entdeckungen, deren Zweckdienlichkeit sich zwar nicht unmittelbar zeigen mag, die aber unser Verständnis von Welt und Kultur erweitern, korrigieren und vertiefen. Universität bedeutet darum auch: Relativität, Scheitern, Sich- ständig-neu-Erfinden, Selbstzweifel, Selbstkorrektur und Demut im Angesichte dieses Kosmos und der eigenen Grenzen aushalten können. Kant transzendiert gewissermaßen die Wissenschaft in die vor allem von der Antike gepflegte Funktion der Philosophie hinein, dieser sehnsüchtigen Liebe zur Weisheit, als einer ars bene vivendi/moriendi und – modern gesprochen – in eine Fähigkeit der Existenzgestaltung auf der einen Seite, auf der anderen in eine nicht zu unterschätzende pädagogische Verantwortung:

„Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt, wenn unter dieser nicht bloß verstanden wird, was man tun, sondern was Lehrern zur Richtschnur dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen, und andere vor Irrwegen zu sicheren […].“[14]

Kant-Denkmal in Königsberg (Bildhauer: Christian Daniel Rauch)

Kant-Denkmal in Königsberg (Bildhauer: Christian Daniel Rauch)

Gerechtigkeit

Die Evangelien bieten, religionsgeschichtlich betrachtet, geradezu revolutionäre Tendenzen einer Universalisierung, die einzigartig in der antiken Welt dastehen; diese kollabierten im Laufe der Jahrhunderte: durch die Integration der Kirche in den römischen Machtapparat, durch Abgrenzung zu den sogenannten Heiden (als ob die Antike keine oder nur minder bedeutsame, gar falsche Religionen aufzuweisen hätte ), zum Judentum und später zum Islam – oder aus anderen Gründen. Es ist schwer, sich des Eindruckes zu erwehren, dass es sich um eine Konkurrenzsituation von geistig-kulturellen Produkten (metaphysischen Designs) handelt, die – ein immer wiederkehrendes Muster, auch in Diktaturen – ihre auserwählten Anhänger mit Macht und Eroberung locken und belohnen, dazu mit privilegiertem Status, mit Sklaven (und Kasten) in verschiedenen Formen, der Unterdrückung und Marginalisierung von Frauen, mit dem straffreien Begehen von Verbrechen – z. B. Töten/Morden im Namen eines Gottes, einer Führergestalt usw. Religionen kollidieren unweigerlich, wenn ein ähnliches Produkt auf den Markt geworfen wurde:

„Jeder Religion, die als Neustiftung oder auf dem Wege einer missionarischen Ausbreitung in einen Kreis traditioneller Religionen eintritt, ist die Aufgabe einer Begründung des eigenen Existenzanspruchs gegenüber den anderen Religionen gestellt. Dabei kann sie die fremden Religionen als Entartung und Verderbnis einer ursprünglich reinen Offenbarung auffassen.“[15]

Es mutet wie ein tragisches Paradox an, dass die biblische Sehnsucht nach Gerechtigkeit und ihre Verheißung zusammen mit der Universalisierungsdynamik des Griechischen – geradezu eine denkerische und soziale Bewegung in der Doppeldimensionalität von Ethik und Metaphysik – in der Gestalt verschiedener, auch säkularisierender Aufklärungsschübe[16] und, bei aller Kritikbedürftigkeit, in den Verfassungen und der Soziopraxis mancher (westlicher, demokratischer) Länder heute, vielleicht auch aus einer biblischen Tradition heraus, eher zur Geltung kamen und kommen als im mehr oder weniger institutionalisierten, konfessionell zersplitterten Christentum. Das antike Christentum beanspruchte ja eine gewisse genuine (nicht unumstrittene) Nähe zur griechischen Philosophie, allein schon durch den Prozess der trinitarischen und christologischen Dogmenformulierung, und berief sich, oft vergessen oder verdrängt, auf das Alte bzw. Erste Testament als seine unaufgebbare Basis. Christentum, frei nach Levinas, das ist: die Bibel und die Griechen.

T. A. Szlezák_Was Europa den Griechen verdanktDer moderne demokratisch-pluralistische Staat – bei aller Kritikwürdigkeit sei verwiesen auf seine Grundlagen in Religion und Philosophie – sieht sich durch (religiöse) Parallelgesellschaften herausgefordert, die zwar paradoxerweise in ihm und von ihm leben und profitieren, aber seine Prinzipien aus verschiedenen Motiven in Frage stellen oder gar fundamentalistisch bekämpfen: Menschenwürde (dazu gehört auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau); Toleranz anderen Religionen, sexuellen Orientierungen oder neuen Familienmodellen gegenüber; Meinungsfreiheit als Kontrolle der politischen Institutionen und als Grundbedingung für kulturelles Schaffen, für Bildung und Wissenschaft, die im idealen Fall immer auch als Korrektiv von ideologischen und religiösen Irrwegen fungieren kann.

Europa entdeckte die Welt: geographisch, kulturell, sprachlich und naturwissenschaftlich. Universalisierung, anders verstanden als höchster Grad von Abstraktion, das stellt ein Naturgesetz dar, welches scheinbar ewig, eben dann doch nur so lange Geltung beanspruchen darf, bis es irgendwann falsifiziert würde. Aber es handelt sich um ein Fortschreiten in ein je besseres Verständnis von Kosmos und Evolution. Hier kommt analog zu Becks Theorie von den zwei Gesichtern einer Religion die grundsätzliche Frage auf, ob den Naturwissenschaften ebenso konstitutiv, geradezu strukturell ein destruktives, dunkles Moment eingeschrieben ist oder ob sie sich ethisch-moralisch neutral verhalten.[17] In ihren gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontexten scheinen sie grundsätzlich immer für Missbrauch anfällig. Leitmotivisch durchzieht ja auch Platons Werke ein ständiges begriffliches Ringen um Gerechtigkeit und deren performativer Umsetzung, individuell wie sozial, die das Zusammenleben in einer Polis erst garantiert.[18] Universalisierung ohne Gerechtigkeit kann destruktiv werden, weil die eine ohne die andere verletzlich ist. Und Gerechtigkeit ohne Universalisierung wäre Ideologie. Aber das hier beschriebene Dilemma durchzog, durchzieht alle Bereiche unseres Lebens:

„Es kostet eine ungeheure Anstrengung, in einer Gesellschaft Gehör dafür zu finden, daß die täglich praktizierten Spielregeln des Zusammenlebens zu Strukturen organisierten Verbrechens geworden sind. [… Die Propheten] müssen den Schleier der geläufigen Sprachregelungen zerreißen: sie müssen beim Namen nennen, was eigentlich geschieht. Was sie da sagen, erfahren die Angeredeten als eine ungeheure Aggression; die Reaktionen sind dramatisch, oft lebensgefährlich für die Propheten. Die unheimlichste Reaktion aber ist die, die Jesaja so beschreibt: Mit ihren Augen sehen sie nicht, und mit ihren Ohren hören sie nicht! (Jes 6,10).“[19]

Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das PolitischLevinas_eEuropa, verstanden nicht so sehr als die Geschichte einer bestimmten (Polit-)Geographie, sondern verstanden als eine Mentalität: Europa, das ist der nie endende Abschied von den falschen Göttern, von falschen Naturbildern, von falscher Magie (auch wenn die Postmoderne viele Phasen einer ReMagiesierung erlebt, die nicht selten, höchst lukrativ, in popkulturellen Phänomenen, oder, höchst destruktiv, im religiösen Fanatismus sich Bahn bricht). Aber es handelt sich um eine ambivalente Gestalt: all diese vielen Götter, ob die von Griechenland, Rom oder des Christentums, sie inspirierten zu wunderbarer Literatur, Kunst und Architektur – von der Akropolis bis zur Gotik. Sie waren einmal lebensleitende Fiktionen ganzer Kulturen. Die Aufklärung von Aristoteles bis Kant, von den Vorsokratikern über Newton bis Einstein befreit von der Zufälligkeit der Magie und dem Determinismus des Mythos (nur um in einen Determinismus der Naturwissenschaften abzustürzen?), der Prophet Jesus von der gewalttätigen Opferpraxis natürlicher Religion, wie dies der italienische Philosoph Gianni Vattimo herausgearbeitet hat:

„Weil der Sündenbock effektiv die Wirkung hat, die Gewalt einzudämmen, nimmt er auch einen heiligen, göttlichen Charakter an. Das Alte und das Neue Testament haben jedoch den Sinn, die Lüge des auf Gewalt gegründeten Heiligen der Naturreligion aufzudecken. Besonders wird Jesus nicht getötet, weil er ein vollkommenes Opfer wäre, als das er immer verstanden wurde, sondern weil er Träger einer Botschaft ist, die allzu radikal im Widerspruch zu den tiefsten (auf die Heiligkeit des Opfers zentrierten) Überzeugungen aller ›natürlichen‹ Religionen steht. Das Außerordentliche seiner Offenbarung (das Heilige ist keine Opfergewalt, Gott ist Liebe) beweist unter anderem, daß er nicht bloß Mensch sein konnte.“[20]

Der Rückfall der christlichen Kirche ins Hierarisch-Patriarchalische – auch als Konsequenz einer Inkulturation in das hierarchisch-patriarchalische Imperium Romanum – ist eine welthistorische Tragödie und die versäumte Chance, dass eben dieses Christentum etwas anderes hätte werden können. Die Verheißung eines Gottesreiches mutierte von einer Utopie zu einer Dystopie, ungeachtet der wichtigen Impulse, die das Christentum für die Formierung Europas gegeben hat. Am Ende stand eine unvorstellbare Katastrophe:

Kopenhagen_Frayn„Die abgründigste Erfahrung der Christen mit sich selbst liegt in den Pogromen gegen Juden. Im angestifteten oder geduldeten Massenmord an den Geschwistern hat die Religion der Bergpredigt ihre Wurzeln verraten. Moralisch ist sie nicht zu retten, und ein Verhältnis auf Augenhöhe zwischen diesen beiden Religionen wird die Menschheit wohl nicht mehr erleben.“[21]

Wenn das Transzendente des Christlichen eine menschliche Würde haben soll, jenseits aller Allmachts- und Ausgrenzungsphantasien, die jener Gott am Kreuz ja endgültig durchgestrichen hat – aus einer christlichen Hermeneutik heraus formuliert als Denkmöglichkeit –: dann in der Inkarnation, in der Menschwerdung des Logos; als erlebte geschichtliche Realität bis in den tiefsten Abgrund des Todes hinein; als eine existentiell erfahrene, und nicht simulierte, liebende Sym-Pathie mit der leidenden Schöpfung. Als Verheißung von Gerechtigkeit für alle, d.h. Gemeinschaft statt Ausgrenzung, Miteinander-Teilen statt Ausbeuten, Brot und Wasser für alle, ein Fest für alle: in erschütternder Konkretheit, die jede Ausrede und Flucht ins formalisiert Sakrale, Legalistische oder Fundamentalistische Lügen straft. Inkarnation verbindet Universalisierung und Gerechtigkeit – von Gott aus.

Markus Pohlmeyer

Markus Pohlmeyer lehrt an der Universität Flensburg (Schwerpunkte: Religionsphilosophie; Theologie und Science Fiction).
Foto: „Kant Kaliningrad“ von photo taken by myself – Selbst fotografiert. Lizenziert unter CC BY-SA 2.5 über Wikimedia Commons
Aufmacherfoto: Neue Testament, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart 1915, Quelle.

[1] Vgl. dazu G. Baudler: Gewalt in den Religionen, Darmstadt 2005.
[2] U. Beck: Die Rückkehr der Götter und die Krise der europäischen Moderne, in: U. Kropač u.a. (Hrsg.): Jugend, Religion, Religiosität. Resultate, Probleme und Perspektiven der aktuellen Religiositätsforschung, Regensburg 2012, 225-236, hier 226.
[3] Beck: Rückkehr (s. Anm. 2), 227.
[4] E. Levinas: Die Bibel und die Griechen, in: Ders.: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, hg. v. P. Delhom – A. Hirsch, Zürich – Berlin 2007, 151-154, hier 151.
[5] Levinas: Verletzlichkeit (s. Anm. 4), 153.
[6] T. A. Szlezák: Was Europa den Griechen verdankt. Von den Grundlagen unserer Kultur in der griechischen Antike, Tübingen 2010, 269.
[7] Szlezák: Europa (s. Anm. 6), 268.
[8] O. Höffe: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit, München 2012, 64.
[9] Szlezák: Europa (s. Anm. 6), 270 f. Dieses Zitat könnte als eine mögliche Definition von Science Fiction gelesen werden: die literarisch, experimentell durchgespielte Begegnung mit dem Fremdartigen. Utopie avancierte nämlich zu einer der klassischen Science Fiction-Gattungen. Vgl. dazu auch: „Die Logik des Aristoteles belehrt uns nicht in erster Linie darüber, wie die Griechen gedacht haben, sondern darüber, wie jeder Mensch denken muß, wenn er nicht fehlerhaft denken und sich in Irrtum verstricken will. […] In den Dialogen Platons und in der Metaphysik des Aristoteles geht es nicht um kulturellen Ausdruck, sondern um Wissen. Deshalb und nur deshalb konnte die frühe Kirche beim Versuch, den Inhalt ihres Glaubens begrifflich zu artikulieren, eine so enge Symbiose mit dem griechischen Denken eingehen, nicht freilich ohne dabei dieses Denken selbst tiefgreifend zu modifizieren.“ R. Spaemann: Gedanken zur Regensburger Vorlesung Papst Benedikts XVI., in: Benedikt XVI. u.a.: Gott, rette die Vernunft. Die Regensburger Vorlesung des Papstes in der philosophischen Diskussion, Augsburg 2008, 147-170, hier 153.
[10] R. Menasse: Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa, Berlin 2014, 54 f.
[11] Vgl. dazu P. Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, 2. Aufl., Stuttgart 2008.
[12] N. Kermani: Europas Realisten, in: Generation Global. Ein Crashkurs, hg. v. U. Beck, Frankfurt am Main 2007, 227-235 , hier 233.
[13] H.-A. Koch: Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution, Darmstadt 2008, 27.
[14] I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Ders.: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie (Werke in sechs Bänden, Bd. IV) hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1998,103-302, hier 302 (A 292). Kursivierungen von mir.
[15] G. Lanczkowski: Das Phänomen Religion in der Menschheitsgeschichte, in: Handbuch der Fundamentaltheologie, hg. v W. Kern – H. J. Pottmeyer – M. Seckler, 1 Traktat Religion, Freiburg – Basel – Wien 1985, 19- 33, hier 22. Vgl. dazu auch: E.-W. Böckenförde: Das Bild vom Menschen in der Perspektive der heutigen Rechtsordnung, in: Ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 2006, 58-66, hier 62. „»Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.« […] Die Folge ist, daß den Menschen in und aus der öffentlichen Lebensordnung keine Vorgabe an Verbindlichkeit und Orientierung erwächst, zu der sie sich dann in Freiheit verhalten können. Sie stehen statt dessen einer Vielzahl von Angeboten im Hinblick auf Religion, Bildung und Grundsätzen der Lebensführung gegenüber […]. Auch der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens erhält im Kontext dieser pluralistischen Ordnung notwendigerweise den Status eines solchen konkurrierenden Angebots.“
[16] Vgl. dazu Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter, hg. v. K. Flasch u. U. R. Jeck, München 1997.
[17] Vgl. dazu auch das Drama um Bohr und Heisenberg „Kopenhagen“ von M. Frayn.
[18] Vgl. dazu ausführlich S. Weber: Gerechtigkeit, in: Platon. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. C. Horn u.a., Stuttgart – Weimar 2009, 275-284.
[19] I. Baldermann: Einführung in die biblische Didaktik, 4. Aufl., Darmstadt 2011, 133.
[20] G. Vattimo: Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, aus d. Ital. v. M. Kempter, Frankfurt a. M. – New York 1977, 79.
[21] J. Haberer: Reflexionen über die Schatten einer Religion, in: Religion. Segen oder Fluch der Menschheit?, hg. v. M. v. Brück, Frankfurt am Main – Leipzig 2008, 61-67, hier 63.