Geschrieben am 28. April 2012 von für Crimemag, Film/Fernsehen, Spotlight, die TV-Kritik

Spotlight: DVD: Misfits

Cool Britannia 2.0.

– Wenn das deutsche Fernsehen so weitermacht, dann gucken eben immer mehr Menschen kein deutsches Fernsehen mehr, sondern nur noch DVD. Zum Beispiel „Misfits“ – Dirk Schmidt erläutert, warum.

Lassen wir mal die übliche Frage außen vor, warum Serien solch herausragender Qualität nicht umfassend betreut, ausführlich beworben und sorgsam synchronisiert zur besten Sendezeit im deutschen Fernsehen ganz gleich welcher Systematik laufen. Zum Glück gibt es das Web und damit vom Download bis zur Bestellung der Blue-Rays eine schöne Auswahl an Möglichkeiten, zuzusehen, dass man endlich den Misfits zusieht. Was das Web nicht bietet, ist die saubere Verifizierung eines Zitats. Wer hat zum Thema Filmdramaturgie eigentlich gesagt: „Mit einem Erdbeben anfangen und dann langsam steigern.“? Je nach Tagesform der Suchmaschine hat man die Auswahl zwischen Billy Wilder, Alfred Hitchcock und David O. Selznick.

Wie dem auch sei, am Anfang werden die „Misfits“-Protagonisten erst mal vom Blitz getroffen und dann wird das Ganze so was von schön langsam und konsequent gesteigert, dass man manchmal das Gefühl hat, aus der Glotze bläst einem ein eiskalter Wind entgegen.

Die Misfits, das sind fünf jugendliche Straftäter, die aufgrund von Vergehen minderkrimineller Natur zu Sozialstunden verurteilt wurden. Jetzt finden sie sich im Kultur/Jugend/Sozialzentrum eines Plattenbaukomplexes im Londoner Osten wieder, wo sie sich unter Anleitung eines Sozialarbeiters nützlich zu machen haben. Es gibt Müll aufzusammeln, Wände zu streichen, Toiletten zu reinigen und jede Menge Gelegenheiten, sich erst mal kennenzulernen und gegenseitig doof, uncool und prollig zu finden. Und dann schlägt auch schon der Blitz ein. Gleich nachdem sie wieder zu sich gekommen sind, stellen die 5-noch-nicht-Freunde fest, dass sie über übernatürliche Fähigkeiten verfügen und nur ganz kurze Zeit später, dass sich der Sozialarbeiter in einen blutrünstigen Axtmörder verwandelt hat, der ihnen ans Leben will.

Leider sind die angesprochenen übernatürlichen Gaben keine große Hilfe, es handelt sich nämlich nicht um Superkräfte, oder Ausweise übersinnlicher Macht, sondern eher um „nice to have“ Fähigkeiten ohne den ganz großen Nutzwert, wenn es um Leben und Tod geht. Oder wie sonst soll man es einordnen, wenn der Typ, den sowieso nie jemand bemerkte und den alle konsequent ignorierten, jetzt auch noch das Talent hat, sich unsichtbar zu machen, oder eine Frau, während Sie von einem beaxten Untoten durch die Gegend gehetzt wird, dessen Gedanken lesen kann? Die Misfits brauchen also einiges an Glück und Teamgeist um den Angriff abzuwehren und kurz darauf warten auch schon weitere erdbebengleichen Handlungs-Volten hinter der nächsten Ecke aus Waschbeton. Zum Beispiel jene, dass unsere fünf bei weitem nicht die einzigen sind, die es in dieser Nacht erwischt hat.

Man kann nur erstaunt sein über die Konsequenz, mit der sich das Ganze entwickelt, das souveräne Genre-Sampling, das hier betrieben wird, und die wunderbare Selbstironie, die vom ersten Moment an mitgeliefert wird. Etwa, wenn sich die Protagonisten regelmäßig daran erinnern, dass das alles gar nicht wahr sein kann, „weil es so was nur in Amerika gibt“. Und man kann nichts als hocherfreut sein darüber, dass Howard Overman, der Macher der Serie, es nicht damit bewenden lässt, seine Helden und den Zuschauer durch immer neue unvorhersehbare Wendungen zu jagen, sondern mit demselben Ehrgeiz seiner Geschichte eine ungeahnte Tiefe gibt.

Man mag es kaum glauben, aber „Misfits“ ist eine Horror-Superhelden-Splatter-Fantasy-Action-Serie, die eine Menge zu sagen hat. Sie erzählt uns etwas über das Großbritannien im Jahr 07+, über das Lebensgefühl und die Frustration derjenigen jugendlichen Einwohner Groß-Londons, die vom Glam und Bling-Bling der Weltmetropole so weit entfernt sind wie vom Mond. Und nicht zuletzt über die ewige Pein des Erwachsenwerdens und wie sie sich relativiert, wenn man von Zombies durch die Betonschluchten einer 6oer Jahre-Satellitenstadt gejagt wird.

 

Clockwork Thamesmead

Der triste Schauplatz im urbanen Nirgendwo nimmt im Gefüge der Serie eine zentrale Rolle ein und funktioniert als beständiger Kommentar zur Handlung. Das (wie zahllose weitere auf den britischen Inseln) euphemistisch als „Estate“ verbrämte Architekturverbrechen namens „Thamesmead“ wird im Vorspann regelmäßig aus der Raumschiffperspektive gezeigt, während sich die Menschen dort in der Regel wie im Labyrinth eines Versuchslabors bewegen. Schon Stanley Kubrick wählte Thamesmead, um hier Teile von „Clockwork Orange“ zu drehen. Der Film wurde damals zu einem so großen, die gesamte Nation bewegenden Skandal, dass Kubrick kurzerhand beschloss, dass er in Großbritannien nicht mehr gezeigt werden durfte.

Es kann also beim Tollschock kein Zufall sein, dass die Misfits ihre Leichen (alles Notwehr) in genau jenem artifiziellen See entsorgen, an dem Alex und seine Droogs ihr Unwesen trieben. Allerdings gab es auch damals, als eine zutiefst verstörte britische Öffentlichkeit keine Mittel fand, Kubricks Meisterwerk zu werten und zu verarbeiten und sich von der Kombination aus Gewalt und Zukunftspessimismus abgestoßen fühlte einige – zugegeben: zynische – Stimmen, die CO nicht als überzogene Horrorshow begriffen, sondern als mehr oder weniger realistische Bestandsaufnahme Großbritanniens im Jahr 1971.

Eine solche Interpretation scheint bei einer Serie, die von einer Gruppe Jugendlicher mit übersinnlichen Fähigkeiten handelt, zunächst ausgeschlossen. Wenn man sich allerdings die Folge ansieht, in der die Misfits erleben müssen, dass ein Thamesmead Bewohner vom Counterstrike-Spieler zu einer der Figuren mutiert ist und mal schlicht und einfach keinen Unterschied mehr macht zwischen virtuellen Menschen und solchen, die atmen, kann man das ebenfalls zynisch finden oder erschreckend real.

Das 21. Kapitel

Zu „Kennedy“ war dem amerikanischen Verlag das 21. Kapitel von Anthony Burgess Roman und deshalb wurde es ersatzlos gestrichen. Richard Nixon war an der Macht und die zarte Hoffnung, die am Schluss der Urfassung von „Clockwork Orange“ blüht und Alex zurück in die Gesellschaft finden lässt, nicht zeitgemäß. Die „Misfits“, auch das macht die Serie groß, geben ihre Suche nach Selbstverwirklichung und einem Stück privatem Glück in einer durchgeschossenen Welt nie auf, ganz gleich, wer ihnen gerade eine Motorsäge an die Kehle hält.

Aber woran soll man sich auch halten, wenn es beispielsweise jederzeit passieren kann, dass man morgens aufwacht und England von den Nazis regiert wird? Wie es dazu kam? Auf dem Thamesmead Schwarzmarkt für Übersinnliches gab es die Fähigkeit, eine Zeitreise zu kaufen und ein älterer Herr hat zugegriffen. Sein Versuch, Adolf Hitler zu beseitigen, ist gescheitert und zu allem Unglück hat er auch noch sein Smartphone auf dem Obersalzberg vergessen. Darüber hinaus geht es manchmal fast kitschig zu, aber ein wenig Schmalz hätte man in einer Geschichte, die zum Lachen, Weinen, Gruseln und Fürchten, zum Staunen und zum Nachdenken zwingt, ansonsten auch vermisst.

Was man also von den Misfits lernen kann: Nie aufgeben, immer weiter gehen – ganz gleich, wie viele Mutanten man auf seinem Weg abschlachten muss.

Dirk Schmidt

Misfits, 2009. Staffel 1: Polyband/WVG. 270 Minuten. 18,99 Euro. Zur offiziellen „Misfits“-Website.

 

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