
Wer zum Teufel ist Karl Lee?
Eine Buchbesprechung von Bodo V. Hechelhammer
Ein Phantom muss nicht unbedingt ein Gespenst oder ein Phantasiegebilde sein, wie man landläufig denkt, manchmal reicht auch eine unwirkliche Erscheinung im Sinne eines Trugbilds. Nicht greifbar, aber doch real existierend. Oder umgekehrt. Konsequenterweise gibt es von diesem Phänomen, wenn überhaupt, auch nur Phantombilder. So wie im Fall des Waffenhändlers Karl Lee, von dem lediglich ein verpixeltes altes Phantombild der Most-wanted-Liste des FBI existiert, neben einer endlosen chinesischen Passnummer. Lee ist ein berüchtigtes Phantom, das selbst nicht fassbar ist und kaum jemand kennt. Wer zum Teufel ist also Karl Lee, über den zuletzt sogar ein Buch erschienen ist und eine Fernsehdokumentation produziert wurde?
Und wie kann es sein, dass die Supermacht USA, die mit ihren Satelliten jeden Zentimeter dieser Erde abfotografieren und mit ihren Überwachungsprogrammen so ziemlich jede unverschlüsselte E-Mail mitlesen kann, offenbar nur eine verpixelte Schwarz-Weiß-Aufnahme von einem der meistgesuchten Männer der Welt auftreiben kann?
Die Antwort auf die offene Frage liefert ein Team von vier investigativen Journalisten und Autoren, die auf eine Phantomjagd gegangen sind, ihre Rechercheergebnisse aufgeschrieben und diese verfilmt haben: Christoph Giesen, geboren 1983, ist China-Korrespondent des SPIEGEL; Philipp Grüll, geboren 1982, ist Redakteur beim ARD-Politikmagazin report München und Autor von Dokumentationen und Reportagen für das Erste, BR und arte; Frederik Obermaier, geboren 1984, ist wie Bastian Obermayer, geboren 1977, verantwortlich für zahlreiche internationale Enthüllungsprojekte und seit April 2022 Leiter des Recherchebüros paper trail media, das eng mit dem SPIEGEL zusammenarbeitet. Alle vier Autoren wurden, jeder für sich, mehrfach für ihre journalistischen Arbeiten national wie international ausgezeichnet, darunter auch mit dem Pulitzer-Preis.
Die Phantomgeschichte um Karl Lee begann dabei im Jahr 2018 in Cambridge, Massachusetts, mit einem Hinweis des ehemaligen FBI-Analysten Aaron Arnold, der sich bei den Autoren mit einem verschwommenen FBI-Most-wanted-Poster meldete. Er berichte von der jahrelangen Suche nach einem berüchtigten Chinesen, der Embargos unterläuft und Waffen an Regime und Diktaturen verkauft. Ein skrupelloser Strippenzieher, der die Kriege der Gegenwart am Laufen hält und die Konfrontation zwischen Staaten und politischen Systemen befeuert. Das Bild eines chinesischen Phantoms zeichnete sich ab. Am Ende begaben sich die Autoren fünf Jahre lang auf die Suche nach Spuren einer mutmaßlichen Schimäre, reisten durch Europa, Israel, die USA, befragten dazu Regierungsbeamte, Geheimdienstmitarbeiter und suchten verschiedene Firmenstandorte in Asien auf. Waffenlieferungen und Geldströme wurden aufgespürt und verfolgt.

Sein Deckname: Delphin. Immer, wenn er den Iran verlässt – etwa für eine Konferenz -, übergibt er den BND neue Informationen: Details zum iranischen Atomprogramm. Schon zieht der deutsche Geheimdienst den Mossad ins Vertrauen, auch die CIA. Doch dann fliegt der Informant auf. Er wird festgenommen und hingerichtet. Die Vorstellung, dass der Iran in den Besitz eines Atomsprengkopfs gelangt, der mit einer Rakete auf Israel oder gar Europa abgefeuert werden könnte, treibt seither Diplomaten und Geheimdienstler auf der ganzen Welt um. Schon seit Jahren sollen CIA, NSA und FBI deswegen hinter Karl Lee her sein, ebenso der MI6, der Mossad und der BND.
Die spannende Phantomjagd über 28 Kapitel dreht sich um den chinesischen Geschäftsmann und Waffenhändler mit bürgerlichem Namen Li Fangwei, der auch Karl Lee genannt und seit fast zwei Jahrzehnten von Geheimdiensten verfolgt wird. US-Behörden haben April 2014 eine Belohnung von bis zu fünf Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt. Beim Lesen schält sich Kapitel für Kapitel das Bild eines gerissenen chinesischen Geschäftsmanns ab, der sein Unternehmen sukzessive zu einem One-Stop-Shop für Raketen- und Bombenbauer aufbaute, egal für welchen Abnehmer.
So soll der Iran mithilfe des unsichtbaren Geschäftsmannes sein Raketenarsenal aufgebaut haben, mit den von ihm bereitgestellten Komponenten mit Raketenreichweiten über 1.500 Kilometer, inklusive großer Zielgenauigkeit. Lee gilt daher als Hauptverantwortlicher für das iranische Programm für ballistische Raketen. Stück für Stück wurde seinem Netzwerk von zahlreichen Scheinfirmen mit Sitz in China nachgegangen, welches Lee kontrolliert und mit denen er Banken, Aufsichtsbehörden und Unternehmen in den USA betrogen und gegen die Sanktionsbestimmungen von Massenvernichtungswaffen verstoßen hat. Am King’s College in London hatte dazu bereits das Project Alpha, das daran arbeitet, den illegalen, mit der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verbundenen Handel zu rekonstruieren, anhand von Informationen von amerikanischen Behörden, chinesischen Regierungs- und Handelsdatenbanken den Umfang von Lees Aktivitäten detailliert kartiert. Und diese Untersuchung legten nahe, dass dieser nicht nur die Rolle des Mittelsmanns spielte, sondern auch seine Geschäftsinteressen auf die Herstellung sensibler Technologien ausweitete. Eine neue Dimension in dem schmutzigen Geschäft.
Nach den Recherchen der vier Autoren, und hier wird das Ganze sehr aktuell und politisch sensibel, soll Karl Lee um 2020 von chinesischen Behörden verhaftet worden sein. Zu einem Zeitpunkt des amerikanisch-chinesischen Konflikts um Einfuhrzölle, weshalb sogar vermutet wird, dass Lee als ein chinesisches Faustpfand bei Verhandlungen mit den Amerikanern dienen soll. Ein Phantom als Figur in einem internationalen Schachspiel zwischen den beiden Großmächten USA und China in Zeiten zunehmender Systemkonfrontation? Aber wie vieles an der erzählten Geschichte, bleibt dies im nebulösen Unklaren.

Karl Lee im Gefängnis? Das wäre eine dramatische Wende. Aber es ist seltsam: Im chinesischen Internet ist zu diesem Zeitpunkt der Recherche ansonsten nichts über eine Verhaftung von Karl Lee zu finden. Kein Artikel, kein Satz, kein Wort. Wer hat also den Wikipedia-Artikel geändert? Es ist ein anonymer Autor der mit dem wenig aussagekräftigen Namen 2001:470:a:3b4:814, der ansonsten bislang hauptsächlich an Artikeln zu alten chinesischen Herrschaftsdynastien gearbeitet hat.
Auch wenn man nicht unbedingt jede Schlussfolgerung der Autoren in letzter Konsequenz nachvollziehen muss, bleibt die Jagd auf ein chinesisches Phantom ein packendes und detailreiches Buch zu einem spannenden Thema, welches sich wie ein guter Thriller leicht liest und doch auf harte Tatsachen zurückgreift. Es liefert ein umfassendes Recherchebild von einem bislang weitgehend nebulösen Waffenhändler, so geht dies eben geht, und bietet zugleich einen Blick hinter die Kulissen der internationalen Politik und ihren Verstrickungen. Vor allem gewährt es authentische Einblicke, wie investigativer Journalismus ansetzt und mit welchem Aufwand und Risiko arbeitet. Inklusive seiner Grenzen und Möglichkeiten. Gleichermaßen interessant und lesenswert.
Bodo V. Hechelhammer
Christoph Giesen/Philipp Grüll/Frederick Obermaier/Bastian Obermayer: Die Jagd auf das chinesische Phantom. Der gefährlichste Waffenhändler der Welt oder: Die Ohnmacht des Westens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 272 Seiten, 20 Euro.

Die empfehlenswerte Dokumentation, Das chinesische Phantom. Die Jagd auf den gefährlichsten Waffenhändler der Welt, ist über die ARD-Mediathek abrufbar.