
Menschen und der Ort, an dem sie leben
Eine Besprechung von Canstanze Matthes
In die Krimi-Literatur scheint ein anderer Ton einzuziehen, ein leiser, indes nicht minder fordernder. In diesen Geschichten gibt es zwar Täter und Opfer, aber keine extremen Grausamkeiten, keine ausufernden Blutlachen, keine wilden Verfolgungsjagden. Es geht darin vielmehr um die Menschen und den Ort, in dem sie leben. Was macht ein Verbrechen mit den Personen, die das Opfer kannten, was mit einer Gemeinschaft, die bereits den Schuldigen gefunden zu haben glaubt? Der schwedische Kriminologe und preisgekrönte Autor Christoffer Carlsson stellt sich in seinem Roman „Unter dem Sturm“ diesen Fragen und erzählt von einer besonderen Beziehung zwischen einem Onkel und seinem Neffen und einem charismatischen Polizisten, den ein Fall viele Jahre nicht loslässt.
Lovisa ist tot. Die junge Frau wird an einem Novembertag 1994 ermordet aufgefunden. Sie starb, bevor das Haus, in dem sie erschlagen liegt, über ihr abbrennt. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, um den Fall in Marbäck aufzuklären. Auch der Assistenzpolizist Vidar Jörgensen ist darin involviert. Er kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass dieses Verbrechen ihn mehrere Jahre seines Lebens beschäftigen wird. Denn während die Bewohner und die Polizei schnell einen Verdächtigen gefunden haben, treiben Vidar später Zweifel an der Schuld von Edvard Christenson um. Der ist ein Außenseiter und Freund der Toten, gilt als aufbrausend, seine Wut kocht schnell mal hoch. Wie bei seinem Vater. Die wenigen Beweise sprechen für die Schuld von Lovisas Lebensgefährten. Das Gericht verurteilt den 25-Jährigen schließlich zu einer langen Haftstrafe.
Sein Neffe Isak ist acht, als das Verbrechen geschieht. Der Junge hat eine innige Bindung zu seinem Onkel, mit dem er viel Zeit verbringt, der ihn versteht, der für ihn den Vater ersetzt. Die Familie ist nach dem Mord Feindseligkeiten ausgesetzt. Die Zeit vergeht. Aus Isak wird ein Jugendlicher, der nicht an die Unschuld seines Onkels glaubt, der zunehmend mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Vidar versucht, den Jungen wieder auf die Spur zu bringen. Er behält ihn im Blick, obwohl er mittlerweile selbst eine Familie gegründet und mit seiner Frau Patricia eine gemeinsame Tochter hat. Und er beginnt, im Geheimen weiter zu recherchieren, stößt dabei auf die Machenschaften einer osteuropäischen Einbrecher-Bande. Weitere Jahre später, man schreibt das Jahr 2017, Vidar hat mittlerweile seinen Posten bei der Polizei aufgegeben, verschwindet Isak plötzlich spurlos. Isak, nunmehr erwachsen, hat nach einigen Verurteilungen sein Leben wieder in den Griff bekommen. Seine Freundin erwartet ein Kind. Vidar lässt der Fall einfach nicht los…
Die Aufklärung des vergangenen wie auch des jüngsten Falls ist letztlich simpel, aber am späten Ende trotzdem überraschend. Über all die mehr als 450 Seiten bildet das Verbrechen den Kern, um den Carlsson in mehreren Schichten einer Zwiebel gleich das Geschehen aufbaut, von dem alltäglichen Leben seiner Figuren erzählt. In einem Zeitraum von 24 Jahren begleitet der Leser das Erwachsenwerden des jüngsten Helden, verfolgt die Höhen und Tiefen eines Polizisten im Beruf wie im privaten Alltag und erhält Einblicke in die Gedankenwelt der Bewohner. Die schnell verurteilen und damit das Leben vieler schwer machen: Sei es Isaks Familie, sei es Patricia, die afrikanische Wurzeln hat und Rassismus ausgesetzt ist.
Die Region steht nicht auf der Sonnenseite, die besseren Zeiten sind längst vergangen. Die Papierfabrik ist geschlossen, die Eisenbahn stillgelegt worden. Die Chemie der Papierfabrik hat die Fischbestände dezimiert und damit die Grundlage des Fischfangs genommen. Wer kann, zieht weg, die Zahl der Pendler ist groß. Vidar und Isak sind Dagebliebene und Getriebene – und die beiden Hauptfiguren, auf die sich die Handlung konzentriert, die von Naturkatastrophen wie dem Tsunami 2004 in Asien und einem verheerenden Sturm in Marbäck genauso erzählt wie von Mythen und dem tief verwurzelten Aberglauben dieser ländlichen Gegend.
Carlsson, Jahrgang 1986, wuchs an der Westküste Schwedens auf, dort, wo auch sein Roman angesiedelt ist, der 2019 für den Schwedischen Krimipreis nominiert war. Er promovierte in Kriminologie an der Universität Stockholm. In seiner Dissertation und weiteren wissenschaftlichen Publikationen widmete sich der Schwede der Entwicklungskriminologie. 2012 wurde er mit dem Young Criminologist Award der International European Society of Criminology ausgezeichnet. Für seinen Debütroman „Der Turm der toten Seelen“, den ersten Band der Leo-Junker-Reihe, erhielt er 2013 als jüngster Preisträger mit 27 Jahren den Schwedischen Krimipreis. Im vergangenen Jahr erschien in deutscher Übersetzung sein Roman „Was ans Licht kommt“.
„Unter dem Sturm“ ist ein psychologisches wie soziologisches Meisterwerk, bei dem die Spannung untergründig ist und trotz zweier Zeitsprünge nie verloren geht. Wie mit einem Scheinwerfer leuchtet der Schwede Orte und Szenerien aus, zeichnet die Stärken und Schwächen sowie das vielschichtige Gefühlsleben der Protagonisten nach. Allen voran Isak und Vidar. Ihre Lebens- wie Leidensgeschichten sind untrennbar miteinander verbunden und berühren. „Unter dem Sturm“ ist ein eindrückliches, vielschichtiges Buch über Verlust und Trauer, aber auch über unwiederbringliche Schuld und eine Gesellschaft, die allzu schnell verurteilt und damit Leben zerstört.
Christoffer Carlsson: Unter dem Sturm (Brinn mig en sol, 2021). Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2022. Taschenbuch, 464 Seiten, 13 Euro.
Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.