Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023

Constanze Matthes zu „Garten der Engel“

Aufwühlende Lektüre

Paolo Uccelo bleibt nicht mehr viel Lebenszeit. Er liegt im Krankenhaus, weiß, seine Tage sind gezählt. Bald wird er mit dem Boot seine letzte Reise auf die Friedhofsinsel San Michele antreten. Doch vor seinem Tod gibt er seinem Enkel Nico in regelmäßigen Abständen Umschlag für Umschlag seine Aufzeichnungen. Ein Vermächtnis, das letztlich ein Jahrzehnte lang gehütetes Familiengeheimnis offenbart und in die Zeit führt, als Venedig 1943 von den Deutschen besetzt wurde und Paolo einem Geschwisterpaar Zuflucht bot. In seinem Roman „Garten der Engel“ erzählt der britische Schriftsteller David Hewson von einem besonderen Kapitel venezianischer Historie und welchen Einfluss geschichtliche Ereignisse und Erinnerungen auf das Leben folgender Generationen haben.

Die Uccelos führen seit vielen Jahren eine traditionsreiche Weberei und stellen kostbare Seidenstücke her. Nach erfolgreichen Zeiten hält sich der Familienbetrieb gerade so über Wasser. Ein wichtiger Auftrag führt Paolos Eltern nach Verona, wo sie bei einem Luftangriff ums Leben kommen. Der 18-Jährige ist fortan Waise und auf sich gestellt. Gemeinsam mit der treuen Mitarbeiterin Chiara muss er einen großen Auftrag erfüllen, um das Familienunternehmen zu retten und an Geld zu kommen, ungeachtet dessen, dass der Auftraggeber ein Faschist ist. Italien ist nach der Landung der Alliierten auf Sizilien und dem vom Ministerpräsidenten Pietro Badoglio ausgerufenen Waffenstillstand, auf dem schließlich die Kriegserklärung Italiens an das Deutsche Reich folgte, zweigeteilt. Der Norden des Landes, so auch die Lagunenstadt, liegt seit einigen Wochen in den Händen der Deutschen. Eine bedrohliche Stimmung herrscht. Eine jüdische Gemüsehändlerin wird leblos aus der Lagune geborgen. Der jüdische Arzt Aldo Diamante soll auf Befehl der Deutschen eine Liste mit den Namen aller jüdischen Einwohner erstellen, die nunmehr um ihr Leben fürchten. Im Land verüben Partisanen Anschläge auf die deutschen Besatzer und die italienischen Faschisten. Eines Tages wird Paolo gebeten, den Geschwistern Mika und Vanni Artom, jüdische Kommunisten und Partisanen, Unterschlupf zu geben.

Das Domizil der Uccelos, am Wasser gelegen und mit einem Keller versehen, ist idealer Zufluchtsort. Zudem gilt die Familie als Außenseiter, liegt über dem Anwesen samt Wintergarten ein morbider Charme. Während Vanni weil schwer verletzt nicht aus dem Haus kommt, zieht es seine ältere Schwester unaufhaltsam nach draußen. Beide können nicht unterschiedlicher sein. Er ist ruhig und feinsinnig. Sie will hingegen blutige Rache, den Kampf gegen die Feinde, egal welches Risiko besteht. Ein Fest-Bankett, bei dem Nazis und Vertreter der Schwarzen Brigaden zusammenkommen und Mika von der Partisanen-Zelle als Kellnerin eingeschleust wird, soll die Gelegenheit für einen Anschlag bieten.

Blut folgt auf Blut, viele Unschuldige werden in die Gewaltspirale hineingezogen. Darin liegt letztlich auch die Tragik in Hewsons Roman, mit dem er eine ganze Reihe besonderer Figuren erschafft, die darüber hinaus in engen Beziehungen zueinanderstehen. Da ist Nico und sein geliebter Großvater Paolo, der seinem Enkel eine wichtige Rolle zuteilt. Da ist der jüdische Arzt Diamante und der katholische Pfarrer Filippo, die Leidensgenossen sind, miteinander ausgiebige Gespräche führen und versuchen, sich gegenseitig aufzurichten. Dabei geht es in dem zutiefst menschlichen Roman immer um die Frage, was mache ich als Individuum in einem solchen Ausnahmezustand – in einem verheerenden Krieg, in dem zugleich andere Gruppen systematisch verfolgt und getötet werden. Welche Seite nehme ich ein, bleibe ich im Hintergrund, bin ich Mittäter, um mich selbst zu retten? Oder entscheide ich mich, Zivilcourage zu zeigen. Fragen, die sich letztlich auch die Überlebenden am Ende des Buches stellen, egal auf welcher Seite sie gestanden haben. Wie der Ex-Polizist Luca Alberti, der für die Nazis und Faschisten als Kollaborateur die Drecksarbeit erledigt und den Auftrag erhalten hat, die Artoms zu finden.

Hewson, Verfasser der Reihe um den römischen Kommissar Nic Costa und der Roman-Adaption zur dänischen TV-Serie „The Killing“, ist von Hause aus Krimi-Autor, was seinem neuesten Werk anzumerken ist, das klug und auf Spannung angelegt konstruiert ist und aus zwei Zeitachsen besteht: aus dem Blick auf die Ereignisse 1943, vermittelt durch die Aufzeichnungen Paolos, sowie aus der Schilderung der jüngeren Vergangenheit. Darin erlebt der Leser Nico sowohl als Jugendlichen als auch später als jungen Mann, den die damaligen Ereignisse und letztlich das Familiengeheimnis nicht mehr loslassen, der zudem versucht, einen Platz im Leben zu finden. Wie einst sein Großvater muss er früh erwachsen werden, die Eltern leben getrennt, der Vater reist für die Firma um die Welt. Die Lagunenstadt bildet für diese Familiengeschichte über drei Generationen die Kulisse, die der Brite ungemein atmosphärisch und bildhaft beschreibt. Der Leser findet sich wieder auf den Straßen und Plätzen, taucht ein in das dortige Leben.

Hewson kennt Venedig durch seine regelmäßigen Reisen in den letzten 30 Jahren wie seine Westentasche; auch Teile des Romans sind dort entstanden. Er verweist in seinen Anmerkungen auf reale Ereignisse, an denen die Handlung des Romans angelehnt ist. Als Vorbild für den charismatischen wie geschätzten jüdischen Arzt Diamante diente ihm Professor Giuseppe Jona. 

Der Mediziner und Vorsteher der jüdischen Gemeinde hatte sich geweigert, für die Deutschen eine Liste mit den Mitgliedern seiner Gemeinde zusammenzutragen. Er wählte am 17. September 1943 den Freitod. Während der deutschen Besetzung wurden rund 230 venezianische Juden in Konzentrationslager deportiert, nur acht überlebten. Im Gegenzug hatten sich in etwa 200.000 Italiener dem Widerstand in ihrem Heimatland angeschlossen, fast ein Drittel – Zivilisten wie Partisanen – wurden getötet. Die Tradition der Seidenweberei fügt dem vielschichtigen historischen Panorama eine weitere besondere Nuance hinzu.

Geschichte und Spannung – ein faszinierendes Zusammenspiel, das den Roman zu einem Pageturner werden lässt, zugleich Wissen vermittelt sowie auf unvergleichliche Art berührt – dank eindrücklicher Dialoge, prägnanter Szenen und den Schicksalen seiner Protagonisten. „Garten der Engel“ – die geflügelten Wesen begleiten das Geschehen auf vielerlei Art, so als zerstörte Skulpturen im Garten der Ucellos – ist ein beeindruckender Roman, der auch davon erzählt, dass es Zeit braucht, um Geschichte zu verstehen und sich ihrer anzunehmen, und dass die wahren Helden, oft ganz andere sind. Das Familiengeheimnis, das kurz vor dem Ende schließlich gelüftet wird, wühlt auf und beschäftigt einen auch nach der Lektüre.

David Hewson: Garten der Engel (The Garden of Angels, 2021). Übersetzt von Birgit Salzmann. Folio Verlag, Bozen/ Wien 2023. 388 Seiten, 27 Euro.

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