Geschrieben am 1. Februar 2022 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2022

Constanze Matthes über Walter Tevis „Das Damengambit“

Erstaunliche Fähigkeiten

Wer als Laie Schach-Berichte liest, wird das Gefühl nicht los, in eine fremde Welt gelangt zu sein. Da gibt es nicht nur spezielle Fachbegriffe, sondern auch kryptische Formulierungen. Wer den wieder entdeckten Roman „Das Damengambit“ des amerikanischen Schriftstellers Walter Tevis (1928 – 1984) liest, wird vielleicht nicht alles in den teils seitenlangen Partiebeschreibungen verstehen, aber das Gefühl haben, von der spannenden Geschichte nicht loslassen zu können.

Doch wie kommt dieses bereits 1983 mit dem Originaltitel „The Queen’s Gambit“ erschienene Buch überhaupt in hiesige Buchläden? Und das zum ersten Mal in deutscher Übersetzung überhaupt? Es ist wohl ein Zeichen unserer Zeit, dass dem Roman dank einer Verfilmung wieder viel Aufmerksamkeit zukommt und er ein literarisches Comeback feiert. Netflix brachte die Story im Herbst 2020 als Mini-Serie auf heimische Bildschirme jeglicher Größe – mit weltweit riesigem Erfolg. Die Hauptrolle übernahm die argentinisch-britische Schauspielerin Anya Taylor-Joy, Regie führte Scott Frank. Die Dreharbeiten fanden unter anderem auch in Deutschland statt. Mehrere Orte in und um Berlin dienten als Kulisse für verschiedene Schauplätze der Handlung. Allen voran das Schloss Schulzendorf, das in der Serie das Waisenhaus darstellt. Der frühere russische Schach-Weltmeister Garri Kasparow und Bruce Pandolfini berieten die Macher der Serie. Der amerikanische Schach-Trainer unterstützte bereits Tevis bei seinem Roman, der zudem auf die fachliche Hilfe mehrerer Spieler zurückgreifen konnte. 

Doch die kurze Aufzählung seiner Berater in der Vorbemerkung des Autors zeigt, worum es in seinem Buch auch geht: Schach war und ist eine Männerdomäne, obwohl Frauen die Sportart zunehmend für sich entdecken, Vereine in der Nachwuchs-Arbeit auch den Fokus auf weibliche Talente lenken. Der Anteil der schachspielenden Frauen liegt allerdings noch immer im nur einstelligen Bereich.

Beth Harmon ist umgeben von Männern, jungen wie erfahreneren, als sie die Turnierwelt erobert, sich einen Namen macht, schließlich in Fachmagazinen, Zeitungen und Illustrierten als Wunderkind gefeiert wird. Dabei ist der Start in ihr Leben denkbar schlecht. Der Vater hat die Familie früh verlassen, die Mutter verunglückt bei einem Autounfall tödlich, als Beth gerade einmal acht Jahre alt ist. Sie kommt in ein Waisenhaus, wo der dortige Hausmeister ihr das strategische Brettspiel – zu dessen Geschichte später etwas mehr – beibringt. Es dauert nur wenige Partien, bis Beth den älteren Mann schlägt. Das Spiel mit den markanten Figuren und dem Brett mit dem typischen zweifarbigen Muster lässt das Mädchen fortan nicht mehr los. Auch dann nicht, als es ihm nach einem Zwischenfall verboten wird, nachdem es sich an dem Glas mit den Beruhigungspillen, die an die Kinder als sogenannte „magische Vitamine“ verteilt werden, vergriffen hatte.  Die Sucht nach Tabletten, später nach Alkohol wird die Heldin über die Jahre mal mehr, mal weniger begleiten und sie nahezu an den Rand der Selbstzerstörung führen.       

Das Talent des Mädchens basiert auf einer erstaunlichen Fähigkeit: Es kann Partien auch ohne Brett und Figuren nur mit Hilfe seiner Vorstellungskraft und seines vorausschauenden Denkens im Kopf durchspielen. Erst als Beth von den Wheatleys adoptiert wird und Mrs. Wheatley entdeckt, dass sich mit der Leidenschaft des Mädchens auch Geld scheffeln lässt, beginnt dessen steile Karriere. Beth reist durch das ganze Land zu Turnieren, später auch ins Ausland – nach Mexiko, Frankreich und Russland, wo sie erneut auf ihren erbitterten Gegner, den russischen Weltmeister Borgov, trifft, der ihr zuvor klar und deutlich die Grenzen ihres Könnens aufgezeigt hatte. 

Doch der Erfolg hat auch seinen Preis. Die Schilderungen der Gefühle und Gedanken der Heldin geben dem Roman eine psychologische Tiefe. Beth gilt sowohl durch ihren sozialen Status als Waisenkind als auch durch ihre Begabung und ihrer völligen Hingabe als Außenseiterin. Sie fühlt sich einsam, ihr stetiger Wille zu gewinnen, wird begleitet von der Angst des Scheiterns. Allerdings weiß sie auch Menschen an ihrer Seite, die sie verstehen und unterstützen. Wie Benny, einst Kontrahent, später ihr Geliebter, Jolene, ebenfalls Waisenkind und spätere Karrierefrau, sowie Mrs. Wheatley, die auf ihre Art und Weise Beth Liebe und Zuneigung und ein Zuhause schenkt.

Das Spiel hat eine lange Tradition, seine Wurzeln liegen in Indien. Chaturanga, das als Ur-Schach gilt, war bereits im ersten Jahrtausend bekannt. Mit der Eroberung Persiens durch die Araber verbreitete sich das Spiel zunehmend. Schon im 13. Jahrhundert war es in Europa sehr bekannt, wohin es auf verschiedenen Wegen zuvor gelangt war. Allerdings war es zeitweise nicht nur umstritten, sondern auch verboten. Zwei Jahrhunderte später kam es zu einer großen Reform der Spielregeln, bei der die heutigen Grundsätze schrittweise entwickelt worden sind. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gründete sich in Zürich der erste Schach-Verein, knapp zwei Jahrzehnte später wurden die ersten internationalen Wettkämpfe ausgetragen. Die Sportart ist keine olympische Disziplin, obwohl der internationale Dachverband FIDE sich schon seit mehreren Jahren für die Anerkennung einsetzt.

Tevis, dessen weitere Romane wie „Die Haie der Großstadt“ (1959) und „Die Farbe des Geldes“ (1984) ebenfalls erfolgreich und teils mit Starbesetzung (Paul Newmann, Tom Cruise) verfilmt wurden, gelingt es mit seinem Pageturner, die Faszination für das alte Strategiespiel neu zu wecken. Mich wundert es nicht, dass Leser zunehmend beginnen, Schach zu spielen. Vielleicht schaut der eine oder andere auch mit anderen Augen auf die Nachrichten aus der Schach-Welt, beispielsweise als der norwegische Weltmeister Magnus Carlsen und sein russischer Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi um den Titel rangen.

„Das Damengambit“ – der Titel bezeichnet eine klassische weil häufig verwendete Eröffnung mit mehreren Varianten – ist ein vielschichtiger und fesselnder Roman über eine besondere Leidenschaft und eine ganz spezielle Heldin. Er zeigt allerdings auch auf, dass Talent und Erfolg Schattenseiten haben und welche Bedeutung prägende Menschen im Leben übernehmen können.  Großes Kino – nicht nur auf dem Bildschirm, sondern auch im Kopf! 

Walter Tevis: Das Damengambit (The Queen’s Gambit, 1983). Aus dem Amerikanischen von Gerhard Meier. Diogenes Verlag, Zürich 2021. 416 Seiten, 24 Euro.

Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.

Empfehlenswert auch die Netflix-Serie, phantastisch ausgestattet und kongenial verfilmt, mit Anya Taylor-Joy in der Hauptrolle. Von Walter Tevis erscheint im Frühjahr neu übersetzt „Der Mann, der vom Himmel fiel“, von Nicholas Roeg mit David Bowie in der Hauptrolle verfilmt – d. Red.

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