
Ein Großteil seines Lebens selbst Migrant
Ein Offizier, ein Agent und ein Botschafter nebst seiner Entourage aus Ehefrau und Sekretärin sitzen in einem Zug von Russland in den Westen. Es sind die 30er-Jahre. Während in ihrer Heimat die „Stalinischen Säuberungen“ einsetzen, hat in Deutschland Hitler die Macht übernommen. Aus drei Vertretern des russischen Machtapparats wird in Paris, dem Ziel der Reise, eine Gruppe mehr oder weniger Heimatloser, deren Lebenswege sich nunmehr regelmäßig kreuzen. Nichtsahnend, dass ihre sicher geglaubte Welt vor dem Ende steht.
Dabei ist der Titel des nunmehr wiederentdeckten und erstmals in deutscher Übersetzung erschienenen Wälzers des russischen Schriftstellers Mark Aldanow (1886-1957) nicht nur eine Anspielung auf das kommende dunkle Kapitel des 20. Jahrhunderts, das mit dem Zweiten Weltkrieg, der Shoa und der stalinistischen Diktatur Millionen Menschen den Tod brachte, Städte und ganze Landschaften verwüstete. Der Offizier Tamarin, der Botschafter Kangarow sowie der Agent ohne Namen, der sich hinter dem Pseudonym Wislicenus verbirgt, sind schon etwas in die Jahre gekommen und nicht mehr die Jüngsten.
Wehmütige Erinnerungen an frühere Zeiten lassen sie nicht los, zugleich umgarnt jeder von ihnen die junge wie kluge Sekretärin und Übersetzerin Nadja, auf die mehr und weniger angenehme Art und Weise. Sie kommen zu Restaurantbesuchen oder Empfängen zusammen, wo sie über Politik und Gesellschaft diskutieren. Einer dieser Empfänge führt sie sogar an den europäischen Adelshof. Während Wislicenus, nunmehr Besitzer geheimer Dokumente, sich zunehmend verfolgt fühlt, ihn die Nachrichten über unzählige Verurteilungen einstiger Genossen Sorgen bereitet, erhält Tamarin den Befehl, nach Spanien zu gehen, wo der Bürgerkrieg tobt, um Informationen von der Front zu sammeln.
In diese durch die Wechsel von Personen und Orten verschlungene Handlung eingebunden: die Geschichte des alternden Schriftstellers Vermandois, der über seine Verhältnisse lebt und nicht glauben will, dass sein Erfolgsstern im Sinken begriffen ist. Sein Sekretär verübt derweil einen heimtückischen Mord. Unweigerlich denkt man da an Dostojewskis Klassiker „Schuld und Sühne“. Auch das Leben des Sekretärs, der auf frischer Tat ertappt wird, findet kein gutes Ende. Überhaupt ist Aldanows Roman reich an Anspielungen und Verweise, so dass man am Ende des Bandes dankbar ist für die Anmerkungen des Übersetzers Andreas Weihe, der darüber hinaus ein erhellendes Nachwort verfasst hat, in dem er auf die wechselvolle Lebensgeschichte und die Bedeutung des russischen Schriftstellers eingeht, der einst berühmt war, aber schließlich vergessen wurde.

Mark Aldanow ist ein Großteil seines Lebens selbst Migrant. Den Juristen und Chemiker, Sohn eines vermögenden Zuckerfabrikanten, verschlägt es bereits vor dem Ersten Weltkrieg nach Paris. Wenig später kehrt er zwar wieder zurück in seine Heimat, um jedoch 1919 Russland erneut in Richtung Frankreich zu verlassen. Seine Flucht führt ihn über Odessa, Istanbul und Marseille schließlich wieder in die Stadt an der Seine. Aus seiner Ablehnung der Oktoberrevolution hat er nie einen Hehl gemacht. Eine kurze Stippvisite bringt Aldanow in den 1920ern nach Berlin, doch danach wird er 14 Jahre seines Lebens in Paris verbringen, ehe der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besatzung ihn zwingen, in die USA zu fliehen.
Immer an seiner Seite: der Wille zum Schreiben. Neben insgesamt 16 Romanen – sein großes Vorbild ist Leo Tolstoi – verfasst er Essays und Gesellschaftsskizzen, er ist Redakteur russischer Exil-Zeitschriften. Mit zahlreichen Autoren und Politiker unterhält er ausgiebige Korrespondenzen. Eine Freundschaft verbindet ihn etwa mit Iwan Bunin. Unter den schreibenden russischen Emigranten gilt Aldanow zu Lebzeiten als einer der bekanntesten. Mitte der 30er-Jahre beginnt er mit der Niederschrift seines Romans „Der Anfang vom Ende“, der zuerst kapitelweise in einer Zeitschrift erscheint. Später geht der erste Teil des umfangreichen Werks in die Öffentlichkeit. Vollständig erscheint der Roman erst 1943 in amerikanischer Übersetzung. Und mit Erfolg. Die New York Times Book Review kürt den Roman zum Buch des Monats. Die erste vollständige russische Ausgabe erscheint erst 50 Jahre später. Aldanow, der mehrfach für den Literatur-Nobelpreis nominiert wird, gilt in der Sowjetunion als Persona non grata und gerät in Vergessenheit.
Es ist nicht einfach, Details und jede einzelne Szene dieses an Gedanken reichen Romans an dieser Stelle zu erwähnen. Letztlich wird nur eine Wiederlektüre dem Umfang und der Komplexität dieses vielschichtigen und raffiniert konstruierten Werks wirklich gerecht, das zudem reich ist an erinnerungswürdigen Passagen, die den Bestand an bunten Klebezetteln merklich reduziert. Was die Wiederentdeckung und damit diese erste deutsche Übersetzung vor allem jedoch so kostbar macht, ist die Erkenntnis, dass Aldanows Meisterwerk eine Allgemeingültigkeit in sich trägt und angesichts neuer Kriege in und um Europa sowie neuer rechter Tendenzen in Politik und Gesellschaft der Roman als Buch der Stunde gelten kann.
Der russische Journalist und Autor Sergej Lebedew schreibt in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe: „Das Böse, gegen das Mark Aldanow sein Leben lang gekämpft hat, ist zurückgekommen – in einem neuen Gewand, nunmehr ohne rote Fahnen, ohne Hammer und Sichel. Naht der Anfang von dessen Ende? Wir wollen es hoffen.“ Dabei ist der Roman, der auch die damaligen Ereignisse wie die Gräueltaten in Chile und der Einmarsch italienischer Truppen in Afrika einfängt, mehr als eine Abrechnung mit Russland. Es geht um Demokratie und Diktatur, die inneren Gesetze menschenverachtender Macht-Systeme, die letztlich den deutschen Faschismus unter Hitler und den Stalinismus so ähnlich machen.
Mehrere Autoren der russischen Exilliteratur sind in den vergangenen Jahren wiederentdeckt und der Vergessenheit entrissen worden, wie Weihe in seinem Nachwort schreibt. Mit Aldanow verschwindet ein weiterer weißer Fleck, wenngleich die Tragik darin besteht, dass er und seine Kollegen den Nachruhm nicht erfahren haben. Und man kann nur hoffen, dass die Erinnerung an ihn Bestand hat und weitere seiner Werke in deutscher Übersetzung erscheinen.
Mark Aldanow: Der Anfang vom Ende (erstmals als The Fifth Seal, New York 1943). Aus dem Russischen von Andreas Weihe. Vorwort von Sergei Lebedew. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 688 Seiten, 38 Euro.
Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.