
Ein Sachbuch als Pageturner
Femina – so hießen im Mittelalter Randnotizen, die in Büchern auf Texte hinwiesen, die von Frauen verfasst worden sind. Dabei sind weibliche Stimmen im Lauf der Jahrhunderte bewusst unterdrückt oder gar entfernt worden, wird die bis heute andauernde Sicht auf die damalige Zeit ihnen nicht wirklich gerecht. Die britische Kulturhistorikerin sowie Literatur- und Sprachwissenschaftlerin Janina Ramirez wirft in ihrem großartigen Buch „Femina“ einen anderen Blick auf das Mittelalter und konzentriert sich auf Frauenfiguren, die sehr wohl Einfluss hatten – ob politisch, kulturell oder religiös. Ihr Werk ist dabei eine Reise durch die Jahrhunderte und durch weite Teile Europas und zeichnet eine mittelalterliche Welt, die kosmopolitisch, mobil und offen war.
An der von Männern dominierten Perspektive auf die Zeit zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert rüttelte hingegen bereits eine Vorgängerin Ramirez‘. In ihrer Einleitung erinnert die Autorin an die Mediävistin und Aktivistin Emily Wilding Davison (1872-1913), die einen tragischen Tod auf der Rennbahn in Epsom fand, bei einem Rennen auf die Bahn lief und bei dem Zusammenstoß mit Ross und Reiter schwerstverletzt wurde. Davison setzte sich für die Belange von Frauen ein. Sie gehörte der Suffragetten-Bewegung an, die in Jeanne d’Arc ein Vorbild sah und im Mittelalter für die Gleichberechtigung von Mann und Frau eine Inspiration fand. Die Übersetzerin Grace Warrack war eine weitere „Forscherin“, die speziell nach einer englischen Mystikerin und eines ihrer Werke suchte: Juliana von Norwich und ihre „Offenbarungen der göttlichen Liebe“. Auf die früheste erhaltene Abschrift stieß Warrack bei ihren Recherchen in der British Library. Sie übersetzte das Werk aus dem 14. Jahrhundert ins moderne Englisch und konnte den Verleger Algernon Methuen überzeugen, es 1901 zu veröffentlichen.
Weder Jeanne d’Arc noch Juliana von Norwich widmet sich Ramirez in ihren insgesamt neun umfangreichen Kapiteln. Es sind vielmehr Frauen, die wohl weniger bekannt sind – ausgenommen Hildegard von Bingen, deren Bedeutung zu Lebzeiten und bis in die Gegenwart sowie ihr grenzüberspannendes Netzwerk in dem Abschnitt „Universalgelehrte und Wissenschaftlerinnen“ beschrieben wird. Ramirez erzählt von Königin Bertha, Frau des Königs Æthelberth, und Königin Cynetryth. Sie lebten im 7. und 8. Jahrhundert und hatten dank ihres politischen wie religiösen Einflusses maßgebliche Wirkung. Wie in England sorgten Ausgrabungen in Schweden für einen anderen Blick auf die Geschichte: Grabstätten und ihr reicher Inhalt zeigen die bedeutende Rolle und damalige Wertschätzung von mächtigen Frauen.
Neben der Archäologie sind es die Bereiche Kunstgeschichte, Theologie und Literaturwissenschaft, mit denen der Autorin ein allumfassendes Panorama dank ihres interdisziplinären Ansatzes gelingt. Mehrfach räumt sie mit Mythen auf: Beispielsweise sind die Wikinger weit weniger martialisch gewesen, sie pflegten vielmehr bedeutende Handelsbeziehungen mit anderen Kulturen. In ihrer Gesellschaft waren zudem die Geschlechterrollen von Mann und Frau weiter weniger starr definiert als in anderen Teilen Europas. Anhand des Teppichs von Bayeux, der mit seinen prächtigen Stickereien auf Leinen an die Eroberung Englands durch die Normannen und die Schlacht bei Hastings 1066 erinnert, schildert Ramirez, wie Frauen in die Herstellung des bis heute bedeutenden Bilddenkmales des Hochmittelalters eingebunden worden waren und welche Frauen Einfluss auf dessen Gestaltung hatten.
Ebenfalls besonders hervorgehoben werden Jadwiga (Hedwig von Anjou), die der einzige weibliche König Polens war und von Papst Johannes Paul II. 1997 heilig gesprochen wurde, sowie Margery Kempe, Autorin und Geschäftsfrau, Pilgerin und Mystikerin, die mit ihrer Autobiografie wertvolle Einblicke in das mittelalterliche Leben in einer englischen Kleinstadt gibt. In dem letzten Kapitel „Ausnahmegestalten und Außenseiterinnen“ entwirft die britische Wissenschaftlerin anhand Grabungsfunden ein Bild des Mittelalters, das weit diverser und offener für verschiedene Identitäten war, als uns womöglich heute bewusst ist.
Im Verlauf ihres Buches zeigt sie mehrfach die Gründe auf, warum es bekannte und geachtete Frauen des Mittelalters nicht in das heutige geschichtliche Bewusstsein geschafft haben. Die Reformation hat einen großen Teil dazu beigetragen, indem Bildungsmöglichkeiten für Frauen eingeschränkt und sie in die zweite Reihe gestellt wurden. Auch die männerdominierte Geschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts trug ihren Anteil daran, dass die Perspektive sich erheblich zuungunsten der Frauen verschob. So schreibt der schottische Historiker Thomas Carlyle (1795-1881) in seinem Werk „Über das Heroische in der Geschichte“: „Die Geschichte der Welt ist nichts als die Biografie großer Männer.“ Doch sogar in der jüngsten Vergangenheit zweifelten Wissenschaftler archäologische Funde an, die die Bedeutung und auch Macht von Frauen beweisen können.
Während der fächerübergreifende Ansatz und die einzigartige Recherchearbeit Ramirez‘ für eine erhellende Lektüre sorgt und einen reichen Wissensschatz vermitteln mag, gelingt es ihr mit ihrem literarischen, aber auch eingängigen Stil, ein ungeheuer plastisches, atmosphärisches und authentisches Bild des Mittelalters zu erschaffen und so die Aufmerksamkeit des Lesers zu bannen. Die Zeit der „trockenen“ weil leblosen Wissensvermittlung lässt die Autorin weit hinter sich. Ihr Sachbuch wird zum Pageturner, der durch zahlreiche Abbildungen bereichert wird.
Ramirez, Jahrgang 1980, hat mehrere Jahre an diesem Werk gearbeitet, wie sie in ihrem Dank am Schluss des Bandes berichtet. Sie dozierte an mehreren britischen Universitäten, so in York, Warwick und Winchester. In ihrer Promotion widmete sie sich interdisziplinär mit der Symbolik des Vogels in der angelsächsischen Kunstgeschichte. Derzeit wirkt sie an der Universität Oxford im Bereich Kunstgeschichte. Für die BBC moderierte sie bisher viele Geschichtsdokumentationen. Ihre Botschaft, die an mehreren Stellen ihr Werk durchdringt, ist nicht nur, die Perspektive in der Geschichte des Mittelalters in ein gerechtes Gleichgewicht zu bringen – auch mit Hilfe moderner technischer Möglichkeiten. Sie appelliert darüber hinaus, auch andere in der Geschichtsschreibung vergessene Gruppen eine Stimme zu geben.
Janina Ramirez: Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen (Femina: A New History of the Middle Ages Through the Women Written Out of It, 2022). Aus dem Englischen übersetzt von Karin Schuler. Aufbau Verlag, Berlin 2023. Hardcover mit Schutzumschlag und Abbildungen, 522 Seiten, 28 Euro.
Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.