
Bosch meets Ballard
Los Angeles – Stadt der Reichen und Schönen, aber auch von Armut, Gewalt und Verbrechen geprägt. Die Metropole an der Pazifikküste zählt zu den Orten mit der höchsten Kriminalitätsrate in den Vereinigten Staaten und zu den Städten, die niemals schlafen. In der berühmt-berüchtigten Nachtschicht, der sogenannten Late Show, arbeitet die junge Polizistin Renée Ballard. Eines Nachts sieht sie, wie sich ein ihr unbekannter grauhaariger Mann an den Aktenschränken im Departement zu schaffen macht. Es ist ihre erste Begegnung mit Harry Bosch, dem erfahrenen Ermittler. Doch es wird nicht ihre letzte sein. Ein noch ungeklärtes Verbrechen, ein sogenannter Cold Case, bringt die beiden Detectives zusammen. Wer ermordete vor neun Jahren die junge Prostituierte Daisy? Der zweite Band der neuen Ballard-Reihe aus der Feder des Amerikaners Michael Connelly gibt spannende Einblicke in die Polizeiarbeit und erzählt von zwei charismatischen Einzelgängern.
Beide verbinden Schicksalsschläge und schwere Zeiten. Ballard hat früh ihren Vater verloren, der eines Tages mit dem Surfbrett aufs Meer geschwommen war und nicht mehr zurückkam. Nachdem sie ihren Vorgesetzten wegen sexueller Belästigung angezeigt hat – darüber wird im ersten Band der Ballard-Reihe erzählt -, wurde sie zur Nachtschicht der Hollywood Division strafversetzt. Ein brisantes und aktuelles Thema, das sich auch in dieser Folge mehrfach widerspiegelt. Bosch hat in Vietnam gekämpft, seine Frau ist bereits verstorben. Von seinem Job kann sich der Vater einer bereits erwachsenen Tochter nur schwerlich lösen, so dass er weiterhin als Reserve-Offizier tätig ist.
Connelly hat nicht nur mit dem ungewöhnlichen Ermittler-Gespann charismatische Helden geschaffen. Das Besondere des Buchs liegt darüber hinaus in der Vielzahl der erzählten Kriminalfälle. Ein noch ungeklärtes Verbrechen, ein sogenannter Cold Case, steht besonders im Fokus: Vor neun Jahren wurde die damals 15-jährige Prostituierte Daisy tot, wie Müll in einem Container abgeladen, gefunden. Sämtliche Spuren wurden zuvor vom Täter durch Bleichmittel zerstört. Das Duo nimmt die Ermittlungen neu auf, Bosch fühlt sich vor allem der Mutter des Opfers verpflichtet, die in dessen Haus ein Obdach gefunden hat. In Verdacht gerät zuerst ein Pastor einer kirchlichen Gemeinschaft. Es dauert indes einige Zeit, bis die beiden Ermittler auf die richtige Spur kommen, die sie zu einem nicht ganz Unbekannten führt. Bosch treibt noch ein zweiter älterer Fall um: der Mord an einem Gang-Mitglied, das am helllichten Tag auf offener Straße erschossen wurde. Ein Fall, der den erfahrenen Ermittler in Lebensgefahr bringt.
Bei beiden Verbrechen steht die Polizei von L. A. vor Rätseln, beide Taten fordern vor allem Bosch persönlich weil emotional heraus. Aber auch von den nächtlichen Einsätzen Ballards wird berichtet, die teils skurrile Züge annehmen – wenn beispielsweise aus der Wohnung einer Toten, die auf natürliche Weise gestorben war, wertvolle Gemälde entwendet wurden, Jugendliche auf einem Striplokal zuerst als Einbrecher gelten oder Ballard in einem anderen Fall in der Wohnung eines Opfers an nur einem Teppich erkennt, dass ein Zeuge nicht die Wahrheit sagt.
Mit dem neuesten Band beweist Connelly nicht nur seine Klasse als Krimi-Erzähler. Er ist zugleich ein akribischer Rechercheur – in seinem Dank verweist der Amerikaner auf die Unterstützung von Ermittlern – und gibt spannende und authentische Einblicke in die Polizeiarbeit. Im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen sogenannte Filz-Karten, in denen Polizisten ihre Beobachtungen und Informationen nach Vernehmungen eintragen und die wichtige Hinweise auf das einstige Geschehen und somit mögliche Verdächtige geben können. Und mehr noch: Die Mini-Protokolle, die von Bosch und Ballard kistenweise gesichtet werden, vermitteln ein facettenreiches Abbild von Los Angeles und seiner Gesellschaft mit allen ihren Schattierungen. Besondere Aufmerksamkeit erhalten die nahezu poetischen wie philosophischen Memos eines Polizisten.
Connelly, 1956 in Philadelphia geboren und einer der erfolgreichsten Krimi-Autoren seines Landes, wurde mehrfach für seine Bücher mit Preisen geehrt. Die Liste der Auszeichnungen ist lang. So erhielt er 1993 für sein Debüt „Schwarzes Echo“ (im Original „The Black Echo“) den Edgar Allan Poe Award, in den Folgejahren gleich zweimal den renommierten Anthony Award. Die Bücher um Harry Bosch, die nun bei Kampa wieder aufgelegt werden, bilden die Vorlage für die Krimiserie „Bosch“, die von 2014 bis 2021 von Amazon Studios und Fabrik Entertainment mit Titus Welliver in der Hauptrolle produziert wurde. „Night Team“ war mein erster Connelly-Band, er wird wohl nicht der letzte bleiben. Obwohl in der Vergangenheit mit den Krimis aus dem hohen Norden verbunden, hat mich nun der Ballard-Bosch-Virus erwischt. Große Krimi-Empfehlung!
Michael Connelly: Night Team (Dark Sacred Night, 2018). Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb. Kampa Verlag, Zürich 2021.
Hardcover, 448 Seiten, 19,90 Euro.
Constanze Matthes