
Wehe den Besiegten
Christina Lamb, Auslands-Chefkorrespondentin der britischen „Sunday Times“, will mit ihrem neuen aufrüttelnden Buch das Schweigen und die Wortlosigkeit durchbrechen, das Kriegsverbrechen gegen Frauen – sprich: Vergewaltigung, Versklavung, Gewalt – noch immer umgibt. Mit freundlicher Genehimigung des Verlages geben wir Ihnen Gelegenheit, den Prolog des Buches zu lesen. – Eine Besprechung finden Sie in unserer Rubrik „non fiction, kurz“.
Ein Textauszug aus: Christina Lamb: Unsere Körper sind euer Schlachtfeld. Frauen, Krieg und Gewalt (Our Bodies, Their Battlefield: What War Does to Women, 2020). Aus dem Englischen von Maria Zettner, Friedrich Pflüger, Heike Schlatterer, Anja Lerz und Karin Schuler. Penguin Verlag, München 2020.

Prolog
Sie warfen die Namen in die Schüssel und zogen einen nach dem anderen heraus. Zehn Namen, zehn Mädchen. Die Mädchen zitterten wie Kätzchen unter einem tropfenden Wasserhahn. Für sie war es kein Glückstopf. Die Männer, die die Papierstreifen zogen, waren Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS), und jeder von ihnen wollte sich ein Mädchen als Sklavin nehmen.
Naima schaute auf ihre Hände, das Blut pochte ihr in den Schläfen. Das Mädchen neben ihr war jünger als sie, etwa 14. Es wimmerte vor Angst. Doch als Naima seine Hand halten wollte, riss einer der Männer seinen Gürtel herunter und schlug sie damit auseinander.
Dieser Mann war älter und größer als die anderen, so um die 60, schätzte sie, mit einem Bauch, der über den Hosenbund quoll, und einem boshaften Grinsen auf den Lippen. Naima war mittlerweile neun Monate in der Gefangenschaft des IS. Sie wusste, dass keiner der Männer irgendetwas Freundliches an sich hatte, doch sie betete, dass nicht dieser ihren Namen zog.
»Naima.« Der Mann, der ihren Namen vorlas, war Abu Danoon. Er sah jünger aus, beinahe wie ihr Bruder, das Haar an seinem Kinn war noch Flaum. Vielleicht war sein Herz ja etwas weniger grausam.
Die Auslosung ging weiter. Der Dicke zog das Mädchen neben ihr. Doch dann sagte er etwas auf Arabisch zu den anderen, zog zwei frische Hundertdollarscheine heraus und knallte sie auf den Tisch. Abu Danoon zuckte mit den Schultern, steckte das Geld ein und händigte seinen Papierstreifen aus.
Minuten später schob der Dicke Naima in seinen schwarzen Land Cruiser und fuhr mit ihr durch die Straßen von Mossul, einer Stadt, die sie früher so gern einmal besucht hätte, die heute aber die Hauptstadt dieser Ungeheuer war, die über ihr Heimatland hereingebrochen waren und sie sowie sechs ihrer Brüder und Schwestern zusammen mit Tausenden anderen entführt hatten.
Sie schaute durch die getönten Scheiben. Ein alter Mann auf einem Karren peitschte auf einen Esel ein, um ihn anzutreiben, und Leute waren zum Einkaufen unterwegs. Allerdings trugen die wenigen Frauen auf der Straße alle schwarze Hidschabs. Es war eigenartig zu sehen, dass der Alltag für die anderen Menschen normal weiterging, fast so, als würde man sich einen Film ansehen.
Ihr Kidnapper war ein Iraker mit Namen Abdul Hasib. Er war ein Mullah. Die Religiösen waren die Schlimmsten. »Er hat alles mit mir gemacht«, berichtete sie später. »Schläge, Sex, an den Haaren ziehen, Sex, alles … Ich habe mich geweigert, also zwang er mich und schlug mich. Er sagte: ›Du bist meine sabaya‹ – meine Sklavin.
Danach lag ich einfach nur da und versuchte, meinen Geist über meinem Körper schweben zu lassen, als würde es jemand anderem passieren, damit er mir nicht alles rauben konnte.
Er hatte zwei Frauen und eine Tochter, aber sie haben nichts unternommen, um mir zu helfen. Zwischendurch musste ich die ganze Hausarbeit erledigen. Als ich einmal den Abwasch machte, kam eine der Ehefrauen und zwang mich, eine Tablette einzunehmen – so etwas wie Viagra. Sie gaben mir auch Verhütungsmittel.« Alle zehn Tage gab es eine kleine Atempause. Dann fuhr der Mullah nach Syrien, um den anderen Teil ihres Kalifats zu besuchen.
Nach ungefähr einem Monat verkaufte Abdul Hasib Naima für 4500 Dollar an einen anderen Iraker namens Abu Ahla und machte dabei einen beträchtlichen Profit. »Abu Ahla betrieb eine Zementfabrik und hatte zwei Frauen und neun Kinder. Zwei seiner Söhne waren Kämpfer beim IS. Es war wieder das Gleiche, ich wurde zum Sex gezwungen. Doch dann nahm er mich mit zu seinem Freund Abu Suleiman und verkaufte mich für 8000 Dollar. Abu Suleiman verkaufte mich an Abu Daud, der mich für eine Woche behielt und dann an Abu Faisal verkaufte, einen Bombenbauer in Mossul. Er vergewaltigte mich 20 Tage lang und verkaufte mich danach an Abu Badr.«
Am Ende war Naima an zwölf verschiedene Männer verkauft worden. Sie listete jeden Einzelnen von ihnen auf, ihre Kampfnamen und ihre richtigen Namen, sogar die Namen ihrer Kinder, die sie sich alle eingeprägt hatte, denn sie war entschlossen, sie zur Rechenschaft zu ziehen.
»So von einem an den anderen verkauft zu werden, als wären wir Ziegen, das war das Schlimmste«, sagte sie. »Ich habe versucht, mich umzu- bringen, mich aus dem Auto zu werfen. Ein anderes Mal fand ich ein paar Tabletten und habe sie alle geschluckt. Aber ich bin trotzdem wieder aufgewacht. Es kam mir vor, als wollte nicht einmal der Tod mich noch haben.«
Ich schreibe ein Buch über Vergewaltigungen im Krieg. Es ist die schäbigste Waffe, die es gibt. Sie richtet Familien zugrunde und entvölkert Dörfer. Sie macht junge Mädchen zu Ausgestoßenen, sodass sie wünschten, ihr Leben wäre vorbei, obwohl es noch kaum begonnen hat. Sie setzt Kinder in die Welt, die ihre Mütter jeden Tag aufs Neue an ihr Martyrium erinnern und die häufig von ihren Gemeinschaften als »böses Blut« abgelehnt werden. Und sie wird fast immer in den Geschichtsbüchern ausgeklammert.
Jedes Mal, wenn ich denke, ich hätte das Schlimmste gehört, treffe ich jemanden wie Naima. In Jeans, kariertem Hemd und schwarzen Turnschuhen, das haselnussbraune Haar aus dem blassen, geschrubbten Gesicht zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, sah sie aus wie ein Teenager, obwohl sie schon 22 war und gerade 18, als man sie gefangen nahm. Wir saßen auf Kissen in ihrem ordentlich gefegten Zelt im Lager Khanke nahe der nordirakischen Stadt Dohuk, eines aus den vielen Reihen von weißen Zelten, die für Tausende von Jesiden so etwas wie ein Zuhause geworden waren. Wir redeten stundenlang. Als sie erst einmal angefangen hatte, mochte sie nicht wieder aufhören. Und auch wenn sie gelegentlich einmal lachte bei der Erinnerung an kleine Racheakte, die ihr gegen ihre Kidnapper gelungen waren, lächelte sie kein einziges Mal.
Bevor ich mich verabschiedete, drehte sie ihr Handy um, damit ich das Passfoto auf der Rückseite sah. Es zeigte sie als lächelndes Schulmädchen, das Einzige, das ihr noch aus einer Kindheit geblieben war, in der sie niemals das Wort Vergewaltigung gehört hatte. »Ich muss daran glauben, dass ich noch immer dieses Mädchen bin«, sagte sie.
Vielleicht sind Vergewaltigungen für Sie ja etwas, das »es in Kriegen immer schon gegeben hat«, eine Begleiterscheinung von Plünderungen. Seit Menschen sich bekriegen, haben sich Männer an Frauen bedient, sei es, um den Feind zu demütigen, sei es, um Rache zu nehmen oder um die eigene Lust zu befriedigen – oder einfach nur, weil die Möglichkeit bestand.
Als eine der wenigen Frauen auf einem Gebiet, das immer noch über- wiegend männlich besetzt ist, kam ich durch Zufall zur Kriegsbericht- erstattung. Es war nicht das Geballere, das mich interessierte, sondern das, was sich hinter der Front abspielt – wie die Menschen ihr Leben aufrechterhalten, ihren Kindern zu essen, eine Schulbildung und ein Dach über dem Kopf ermöglichen und wie sie ihre Alten schützen, während um sie herum die Hölle tobt.
Die afghanische Mutter, die mir erzählte, dass sie Moos von den Felsen abkratzte, um ihre Kinder am Leben zu erhalten, während sie sie auf der Flucht vor den Bomben durch die Berge lotste. Die Mütter, die während der Belagerung der Altstadt von Aleppo aus gebratenem Mehl und zusammengesuchten Blättern Sandwiches für ihre Kinder zauberten und die Kinder wärmten, indem sie Möbel oder Fensterrahmen verbrannten, während in den Straßen alles zu Staub gebombt wurde. Die Rohingya-Frauen, die ihre Kinder auf den Armen durch Wälder und über Flüsse in Sicherheit trugen, nachdem birmanische Soldaten die Männer abgeschlachtet und ihre Hütten niedergebrannt hatten.
Die Namen dieser Frauen finden sich in keinem Geschichtsbuch und auch nicht auf den Kriegsdenkmälern, an denen wir in unseren Bahnhöfen und Innenstädten vorübergehen, aber für mich sind sie die wahren Heldinnen.
Je länger ich diesen Job mache, desto mehr wächst meine innere Unruhe, nicht nur wegen der Gräuel, die ich mit ansehen muss, sondern vor allem wegen des Gefühls, dass wir nur die halbe Wahrheit zu hören bekommen, vielleicht weil es sich bei denjenigen, die die Berichte zusammenstellen, in der Regel um Männer handelt. Selbst heute noch werden die Chroniken dieser Konflikte überwiegend von Männern verfasst. Männer, die über Männer schreiben. Und dann gelegentlich einmal Frauen, die über Männer schreiben. Die Stimmen der Frauen werden zu oft außen vor gelassen. Während der ersten Phase des Irakkriegs 2003, bis zum Sturz von Saddam Hussein, war ich für meine Zeitung, die Sunday Times, als eine von sechs Korrespondenten vor Ort. Als ich im Nachhinein die Berichte las, stellte ich fest, dass sowohl meine drei männlichen Kollegen als auch eine meiner beiden Kolleginnen nicht eine einzige irakische Frau zitiert hatten. Es war, als wären sie überhaupt nicht vorhanden.
Es sind aber nicht nur die Journalisten, die diese Kriegsschauplätze als Männer-Schauplätze betrachten. Frauen werden auch fast immer von den Verhandlungen über ein Ende der Kämpfe ausgeschlossen, obwohl eine Studie nach der anderen zeigt, dass Friedensvereinbarungen eher eingehalten werden, wenn Frauen daran beteiligt sind.
Früher dachte ich, als Frau wäre man in Kriegsgebieten sicherer, es gäbe so etwas wie einen Ehrenkodex gegenüber Frauen. Aber unter Terrorgruppen und Söldnern des Bösen gibt es keinen Ehrenkodex. Ganz ohne Zweifel ist es in vielen unserer heutigen Konfliktzonen sogar gefährlicher, eine Frau zu sein. Während der vergangenen fünf Jahre habe ich in vielen Ländern mehr schockierende Brutalität gegenüber Frauen erlebt als in über 30 Jahren als Auslandskorrespondentin.
Man muss nur die großen Kunstmuseen der Welt besuchen oder in den Klassikern blättern, dann sieht man, dass Vergewaltigungen im Krieg nichts Neues sind. Herodot schrieb über persische Soldaten, die in den griechisch-persischen Kriegen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Massen- vergewaltigungen an griechischen Frauen verübten. In Homers Ilias verspricht der griechische General Agamemnon Achilles Frauen im Überfluss, wenn er Troja einnähme: »Die Götter geben, dass wir die große Stadt des Priamos zerstören, … troische Frauen zwanzig soll er sich selbst auswählen.« Tatsächlich ist die Fehde zwischen den beiden Männern erst dadurch entstanden, dass Agamemnon gezwungen wurde, die Frau, die er sich als »Beute« genommen hatte, wieder aufzugeben, und daraufhin versuchte, sich stattdessen die von Achilles zu nehmen.
Vergewaltigung und Plünderung waren Mittel zur Entlohnung unbe- zahlter Rekruten, und ein Eroberer konnte mit ihnen seinen Sieg bekräf- tigen, indem er den Gegner bestrafte und unterjochte – die Römer prägten dazu den Ausspruch vae victis (Wehe den Besiegten).
Und es blieb nicht auf die Antike beschränkt. Wenn wir den alten Griechen, Persern und Römern, Alexander dem Großen und all den blonden, blauäugigen Kindern in ganz Zentralasien bis hin zu den »Trostfrauen« der Kaiserlich Japanischen Armee und den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg nachspüren, erkennen wir, dass Frauen schon sehr, sehr lange als Kriegsbeute betrachtet werden.
»Die Entdeckung des Mannes, daß seine Genitalien als Waffe zu gebrauchen sind, um damit Furcht und Schrecken zu verbreiten, muss neben dem Feuer und der ersten groben Streitaxt als eine der wichtigsten Entdeckungen in prähistorischer Zeit angesehen werden«, schlussfolgerte die amerikanische Autorin Susan Brownmiller in ihrer wegweisenden Dokumentation zum Thema Vergewaltigung, Gegen unseren Willen, die 1975 als Buch erschien.
Vergewaltigung ist ebenso sehr eine Kriegswaffe wie die Machete, die Keule oder die Kalaschnikow. In jüngerer Zeit haben ethnische und konfessionelle Gruppen von Bosnien bis Ruanda, Irak bis Nigeria, Kolumbien bis zur Zentralafrikanischen Republik Vergewaltigungen als gezielte Strategie eingesetzt, fast wie eine Massenvernichtungswaffe, und das nicht nur, um Würde zu zerstören und Gemeinschaften zu terrorisieren, sondern auch, um ihrer Wahrnehmung nach feindliche Ethnien oder Ungläubige auszulöschen.
»Wir werden euer Rom erobern, eure Kreuze zerbrechen und eure Frauen versklaven«, warnte Abu Mohammad al-Adnani, Sprecher des sogenannten Islamischen Staates, in einer Botschaft an den Westen, als 2014 IS-Kämpfer in Nordirak und Syrien einfielen und Tausende junger Mädchen wie Naima entführten.
Eine ähnliche Drohung kam von Boko Haram, einer noch mordlüsterneren Terrorgruppe, als sie Dörfer im Norden von Nigeria stürmten, die Männer töteten und Mädchen als »Buschfrauen« zusammentrieben, damit sie in Lagern Nachkommen hervorbrachten, eine neue Generation von Dschihadisten in einer schaurigen Realversion von Margaret Atwoods Report der Magd.
»Ich habe eure Mädchen entführt … Ich werde sie, bei Allah, auf dem Markt verkaufen«, verkündete Abubakar Shekau, nachdem er Hunderte Schulmädchen gekidnappt hatte. »Ich verheirate eine Frau im Alter von zwölf Jahren. Ich verheirate ein Mädchen im Alter von neun Jahren.«

Ich habe mir unvorstellbare Geschichten von Frauen angehört, und während ich mich mit ganzer Seele bemühte, ihnen in den Berichten für die Leser meiner Zeitung gerecht zu werden, habe ich mich wieder und wieder gefragt: Wie kann das nur weiterhin passieren?
Der intime Charakter von Vergewaltigungen bringt es mit sich, dass sie im Allgemeinen nur sehr lückenhaft dokumentiert werden. Das gilt umso mehr für Konfliktzonen, wo immer mit Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen ist und sich nur schwer Beweise sichern lassen. Anders als bei Mord gibt es keine Leichen und Zahlen sind kaum zu ermitteln.
Doch selbst da, wo wir Bescheid wissen, wo mutige Frauen sich melden und ihre Torturen schildern, wird kaum etwas unternommen. Es schien mir fast so, als würde Vergewaltigung, wenn sie im Krieg passiert, insbesondere an entlegenen Orten, irgendwie heruntergespielt und einfach hingenommen. Oder dass wir nichts davon wissen wollen. Manchmal sagten mir Redakteure, nachdem ich mein letztes Satzzeichen eingetippt und meinen Artikel abgeschickt hatte, die Geschichte wäre zu schockierend für die Leser, oder sie klatschten eine Warnung: »Verstörender Inhalt« darüber.
Zu meinem Erstaunen wurde Vergewaltigung erst 1998 erstmals als Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgt. Aber waren Kriegsvergewaltigungen denn nicht schon seit Jahrhunderten ungesetzlich? Der erste Prozess, den ich ausfindig machen konnte, fand 1474 in der deutschen Stadt Breisach statt. Damals wurde Peter von Hagenbach, ein Ritter im Dienst des Herzogs von Burgund, verurteilt wegen Verstoßes »gegen die Gesetze Gottes und der Menschen«, einer fünf Jahre währenden Schreckensherrschaft, während der er als Landvogt am Oberrhein Zivilistinnen vergewaltigt oder getötet hatte. Seine Rechtfertigung, er habe »lediglich Befehle ausgeführt«, wurde zurückgewiesen und er wurde hingerichtet. Manche bezeichnen das vom Erzherzog von Österreich eingesetzte 28 Mann starke Tribunal als den ersten internationalen Strafgerichtshof, während andere geltend machen, dass es sich hier nicht um Kriegsvergewaltigungen handelte, da zu der Zeit gar kein Krieg herrschte.
Eine der allerersten umfassenden Bemühungen um eine Festschreibung des Kriegsrechts verwarf die lange vertretene Sicht, Vergewaltigungen seien eine unvermeidliche Folge von Kampfhandlungen. Präsident Abraham Lincolns Allgemeine Bestimmung Nr. 100, besser bekannt als Lieber Code, die 1863 das Verhalten der Unionssoldaten im Amerikanischen Bürgerkrieg regeln sollte, belegte Vergewaltigung »bei Todesstrafe« mit einem strengen Verbot.
1919 wurde als Reaktion auf die Gräueltaten des Ersten Weltkriegs, darunter das Blutbad der Türken an Hundertausenden Armeniern, eine »Verantwortungskommission« eingerichtet. Vergewaltigung und Zwangs- prostitution rangierten ganz oben auf einer Liste von 32 Kriegsverbrechen.
Das verhinderte sie allerdings nicht im Zweiten Weltkrieg. Entrüstung über die Schrecken dieses Krieges, als alle Parteien auch der Vergewaltigung beschuldigt wurden, veranlasste die Siegermächte zur Einrichtung der ersten internationalen Gerichtshöfe in Nürnberg und Tokio, um Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Doch es gab keine einzige Anklage wegen sexueller Gewalt. Nicht einmal eine Entschuldigung. Stattdessen Schweigen. Schweigen zur sexuellen Versklavung der Trostfrauen. Schweigen zu den Tausenden von Stalins Truppen vergewaltigten deutschen Frauen, von denen nichts in meinen Schulbüchern stand. Schweigen auch in Spanien, wo General Francos Falangisten Frauen vergewaltigt und ihre Brüste mit Brandzeichen versehen hatten.
Zu lange schon ist das die typische Reaktion. Kriegsvergewaltigungen wurden stillschweigend hingenommen und straffrei begangen. Militärische und politische Führungskräfte taten sie ab, als handele es sich um eine Nebensache. Oder sie wurden schlichtweg geleugnet.
Abschnitt 2 von Artikel 27 der Genfer Konvention, die 1949 in Kraft trat, besagt: »Frauen sollen besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder unzüchtigen Handlung geschützt werden.«
Jahrzehntelang war es das am meisten vernachlässigte Kriegsverbrechen der Welt. Es mussten erst wieder mitten in Europa Vergewaltigungslager entstehen, bevor die internationale Aufmerksamkeit geweckt wurde. Wie viele andere auch hörte ich zum ersten Mal von sexueller Gewalt in militärischen Konflikten in den 1990er-Jahren während des Bosnienkrieges. Die darauffolgende allgemeine Empörung versprach ein Ende der stillschweigenden Akzeptanz von Kriegsvergewaltigungen, die seit Jahr und Tag geherrscht hatte. 1998, im Jahr des ersten Schuldspruchs, wurde Vergewaltigung im Römischen Statut, der vertraglichen Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, als Kriegsverbrechen verankert.
Am 19. Juni 2008 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig Resolution 1820 über den Einsatz von sexueller Gewalt in Kriegen. Darin heißt es, dass »Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eine die Tatbestandsmerkmale des Völkermords erfüllende Handlung darstellen können«. Ein Jahr später wurde das Amt eines Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten geschaffen. Doch 22 Jahre nach der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs hatte dieser noch keinen einzigen Schuldspruch wegen Kriegsvergewaltigung erlassen, der zu einer Haftstrafe führte. Die einzige derartige Verurteilung war nach einer Revision aufgehoben worden.
Dass diese Verbrechen heute in den Gesetzbüchern stehen, ist ein Anfang, aber noch lange keine Garantie dafür, dass sie auch geahndet oder auch nur angemessen untersucht werden. Für derartige Vergehen gibt es allein schon wegen ihres Charakters meist keine Zeugen und keine klaren schriftlichen Anordnungen, sodass es die Opfer schwer haben, sie zu beweisen oder geltend zu machen. Es ist auch nicht unbedingt hilfreich, dass die Ermittler häufig Männer sind und nicht immer sehr geschickt darin, die Opfer in einer so sensiblen Angelegenheit zu Aussagen zu bewegen. Entscheidungsträger sind in diesen Fällen ebenfalls oft männliche Ankläger oder Richter, für die sexuelle Gewalt verglichen mit Massenmord keine sehr hohe Priorität hat und die zuweilen sogar nahelegen, die Frauen hätten »es herausgefordert«.
Leider hat die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft inzwi- schen anerkennt, dass sexuelle Gewalt oft als bewusste militärische Strategie eingesetzt wird, die strafrechtlich verfolgt werden kann, an vielen Orten der Welt nicht für ein Ende gesorgt. Der Bericht der UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in Konflikten von 2018 listet 19 Länder auf, in denen Frauen im Krieg vergewaltigt wurden, und benennt zwölf nationale Militär- beziehungsweise Polizeiverbände sowie 39 nichtstaatliche Akteure. Es sei keineswegs eine umfassende Liste, so wurde betont, sondern sie beziehe sich auf Orte, »wo glaubwürdige Informationen verfügbar waren«.
Und dann kam #MeToo. Vielen von uns wird das Jahr 2017 im Gedächt- nis bleiben als Wendepunkt hin zu einem offeneren Umgang mit dem Thema sexuelle Gewalt. Die MeToo-Bewegung, die aus den Vorwürfen einer Reihe von Schauspielerinnen und Produktionsassistentinnen gegen Hollywoodproduzent Harvey Weinstein entstand, befreite die vielen betroffenen Frauen vom Gefühl der Schuld und Scham und ermutigte sie, offen darüber zu sprechen.
Wie viele andere Frauen habe auch ich die MeToo-Bewegung mit einer Mischung aus Freude und Entsetzen verfolgt. Freude darüber, dass so viele Frauen ihre Stimme erhoben und sich weigerten, sich die Belästigungen noch länger gefallen zu lassen, die viele von uns Frauen mittleren Alters früher als gegeben hinnahmen. Entsetzen darüber, dass sexuelle Gewalt so weitverbreitet ist. Jede dritte Frau erfährt in ihrem Leben sexuelle Gewalt. Sexuelle Gewalt kennt keine Ethnien, keine sozia- len Schichten, keine Grenzen – sie geschieht überall.
Doch ich verspürte auch ein gewisses Unbehagen. Was ist mit den Frauen, die nicht die Mittel haben für teure Anwälte oder Zugang zu den Medien? Was ist mit den Frauen in Ländern, wo Vergewaltigung als Waffe eingesetzt wird?
Wie wir am Beispiel derer gesehen haben, die sich zu Harvey Weisstein äußerten, reden selbst starke, emanzipierte Frauen aus dem liberalen Westen nur mit allergrößter Mühe und Scheu Klartext über Sexualstraftäter. Häufig werden sie von der Presse an den Pranger gestellt und müssen untertauchen, wie es Christine Blasey Ford ergangen ist, der Anwältin, die sagte, sie sei als Teenager sexuell belästigt worden von Brett Kavanaugh, dem Kandidaten für ein Richteramt am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten.
Und jetzt stelle man sich Frauen ohne Geld und Schulbildung vor in Ländern, wo die Männer mit dem Gewehr oder der Machete die Macht ausüben. Da gibt es keine Vergewaltigungstherapie oder Entschädigung. Vielmehr sind nicht selten die Frauen diejenigen, die verdammt werden. Verdammt zu einem Leben mit Trauma und schlaflosen Nächten, Problemen beim Eingehen von Beziehungen, ganz zu schweigen von körperlichen Verletzungen, womöglich einem Dasein ohne Kinder – manche werden sogar von ihren Gemeinschaften geächtet, was eine Frau einmal einen »langsamen Mord« nannte. Überall auf der Welt ist der Körper einer Frau noch immer ein Schlachtfeld, und Hundertausende von Frauen leiden unter unsichtbaren Kriegswunden.
Und so machte ich mich daran, die Geschichten einiger dieser Frauen in ihren eigenen Worten zu erzählen. Es sollte der Beginn einer scho- ckierenden Reise durch Afrika, Asien, Europa und Südamerika werden, auf der Spur einiger der dunkelsten Untaten der Menschheit. Je mehr Orte ich besuchte, desto deutlicher wurde mir, wie weitverbreitet Vergewaltigung ist – aufgrund des fortwährenden Versagens der internationalen Gemeinschaft und der inländischen Gerichte, Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
Es ist nicht leicht, diese Geschichten zu erzählen oder sie sich anzu- hören. Doch sie zeugen vielfach auch von erstaunlichem Mut und Heldentum. Frauen sind keine bloßen Zuschauer der Geschichte. Es wird Zeit, nicht mehr nur die eine Hälfte zu erzählen.
Christina Lamb