
Bedrückendes Panorama von Paris
Tag eins der deutschen Besatzung. Soldaten der Wehrmacht nehmen Paris ein. Es ist nicht das einzige Problem von Inspecteur Éduard „Eddie“ Giral. Er wird zum Gare d’Austerlitz gerufen. In einem Waggon auf einem Abstellgleis sind die Leichen von vier polnischen Flüchtlingen gefunden worden. Wenig später sorgt ein weiterer Fall für Aufregung: Ein weiterer Pole hat sich aus dem Fenster gestürzt. Der Ermittler vermutet einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen. In seine Arbeit mischen sich jedoch die neuen Herren der Seine-Stadt ein. Sein missliebiger Kollege Auban macht, was er will. Und dann taucht auch noch Girals Sohn auf, den er 15 Jahre nicht gesehen hat. Chris Lloyds historischer Krimi ist spannend, komplex und ein eindrückliches Panorama vom Paris jener Zeit.
Der Roman des walisischen Autors führt in den Juni 1940. Neun Tage umfasst die Handlung, die – für einen Krimi eher ungewöhnlich – aus der Sicht des Helden geschildert wird: vom Beginn der Besatzung bis einen Tag nach dem Unterzeichnen des Waffenstillstands im nordfranzösischen Compiègne in Anwesenheit von Adolf Hitler, den Giral beobachten kann – wie er auch immer wieder mehreren Angehörigen von Wehrmacht, Gestapo und der Geheimen Feldpolizei über den Weg läuft. Diese machen dem Pariser Polizisten Leben wie Arbeit schwer. Sie setzen ihn unter Druck, fügen ihm sogar Gewalt zu. Major Hochstetter, Offizier Weber sowie die beiden Kommissare Müller und Schmidt haben ganz unterschiedliche Motive, die Ermittlung zu beeinflussen. Sie verfolgen den Franzosen wie einen Schatten.
Dass mehrere der Opfer in Verbindung zu der polnischen Stadt Bydgoszcz gestanden haben, lässt Giral aufhorchen und vermuten, dass beide Fälle miteinander zu tun haben. Er trifft auf die Polin Lucja, die von schrecklichen Verbrechen an der polnischen Bevölkerung durch die Deutschen berichtet. Fryderik, der Mann, der in den Tod sprang, soll dafür Beweise gesammelt haben, um sie in Sicherheit zu bringen und den Behörden zu übergeben.
Das sogenannte „Sonderfahndungsbuch Polen“ hat es tatsächlich gegeben, wie Lloyd am Ende seines Buches erklärt. Es umfasste eine Liste von mehr als 61.000 Namen von polnischen Zivilisten aus unterschiedlichen Bereichen, die nach dem Überfall hingerichtet oder in Konzentrationslager gebracht werden sollten. In und um Bydgoszcz kam es zu Massakern. Die Leichen wurden in Massengräbern verscharrt. Heute erinnert ein Denkmal an die damaligen Ereignisse. Geschehnisse, die den Beginn setzten für die systematische Verfolgung und Vernichtung von Juden, politischen Gegnern, Homosexuellen sowie Sinti und Roma.

Lloyds Roman ist voll mit Geschichte und geschichtlichen Fakten, der Held selbst ein Zeitzeuge besonderer Ereignisse. Nicht nur erlebt Giral den Zweiten Weltkrieg, er war Soldat im Ersten Weltkrieg. Seine Erlebnisse haben ihn traumatisiert und ihn in eine Drogensucht getrieben. Seine Beziehung ging 15 Jahre zuvor – ein zweiter Handlungsstrang führt zurück in das Jahr 1925 – aus diesen Gründen in die Brüche. Giral, der neben seiner Polizeiarbeit damals auch als Türsteher für einen Jazz-Club gejobbt hat, verließ seine Frau Sylvia und den gemeinsamen Sohn Jean-Luc, der damals fünf Jahre alt war. Nun ist der Ermittler ein rastloser wie melancholischer Einzelgänger mit einer untergründigen Todessehnsucht. Er stemmt sich gegen die Deutschen und setzt alles daran, die Fälle aufzuklären. Zu wenig aus der Sicht seines nunmehr erwachsenen Sohnes, der gegen die Besatzer kämpfen will, was Giral, von neuerlichen Vatergefühlen eingeholt, mit Sorge sieht.
Der Roman zeigt nicht nur, wie unterschiedlich die Franzosen auf die Deutschen reagiert haben – die einen stellen sich der Besatzungsmacht entgegen, die anderen kollaborieren indes -, der Autor entwirft ein bedrückendes Panorama und Stimmungsbild der Metropole Paris, die jeglicher Lebensfreude und Freiheit beraubt ist. Die Cafés und Restaurant haben geschlossen, Zeitungen gibt es nicht mehr, die Pariser bekommen eine neue Zeit verordnet – die Berliner Zeit. Mittendrin: eine Journalistin und ein Reporter aus Übersee, die ebenfalls in die Ereignisse verwickelt sind.
In dieser Komplexität aus Themen und handelnden Personen geht der Bezug zum Verbrechen zu Beginn, den vier ermordeten Polen, im Lauf der Handlung ein wenig verloren, wobei die „Mordwaffe“ dem Leser mit historischem Wissen nahezu unheimlich erscheinen könnte, verweist sie doch sowohl auf die verheerenden Schlachten des Ersten Weltkriegs als auch auf den späteren Holocaust. Lloyd setzt den Fokus vor allem auf den Selbstmord Fryderiks, der ihn persönlich zu schaffen macht. Beharrlich versucht er, die Beweise für die Verbrechen der Nazis im Besitz des Polen zu finden, der Buchdrucker war und die kostbaren Dokumente gut versteckt hatte. Erst am Schluss kommen alle Fäden zusammen, gibt es einige Tote mehr. Die Spannung bleibt auf hohem Niveau, darüber hinaus hat der Waliser mit Giral eine sehr markante Figur geschaffen, die zugleich in einer speziellen historischen Zeit verortet ist.

Chris Lloyd studierte Spanisch und Französisch, lebte über 20 Jahre in Katalonien, später in Grenoble, im Baskenland und in Madrid, wo er Englisch unterrichtete und für einen Schulbuchverlag sowie als Reiseschriftsteller tätig war. Heute lebt er als Autor und Übersetzer in Südwales. Sein zweiter Giral-Band geht demnächst in deutscher Übersetzung an den Start. Die Vorfreude ist nach der Lektüre des Auftakt-Bandes groß: Im Januar erscheint Band zwei mit dem Titel „Paris Requiem“.
Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Ihr Blog trägt den Titel Zeichen und Zeiten.
Chris Lloyd: Die Toten vom Gare d’Austerlitz (The Unwanted Dead, 2020). Aus dem Englischen von Andreas Heckmann. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp, Berlin 2022. Klappenbroschur, 473 Seiten, 15,95 Euro.