Geschrieben am 20. März 2010 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Carlos Krimischmiede

Wieder aus der Serie: Frühwerke, die niemand verlegen wollte!

Dabei sind die Frühwerke gar nicht so schlecht! Zumindest nicht alle!

Folgen Sie Carlo Schäfer in seine Krimischmiede, in der er auf dem Wahnsinn der Welt herumhämmert, auf dass die Funken sprühen. Regelmäßig alle 14 Tage … Heute: Der Fall des Ezechiel Rammsauter.

Man nennt mich Eule, weil ich eine starke Brille trage und Schlafstörungen habe. Ich bin Detektiv.

Ich lebe ein dummes Leben. Bin geschieden und habe einen psychisch behinderten Kater namens Stalin.

Es ist Montagmorgen. Ich habe mich gewaschen, dem weinenden Stalin ein Beruhigungszäpfchen gegeben und bin auf dem Weg zum Büro.

Ich will eben um die letzte Ecke biegen, als sich vor mir ein fetter Albinohusky aufbaut, an dessen Leine ein unfroher STUDENT baumelt. Ich hasse Hunde. Und Studenten hasse ich auch.

„Der macht Ihnen nichts!“, lügt der milchgesichtige Kandidat über die Bestie hinweg.

„Das hoffe ich sehr“, entgegne ich kühl. „Nehmen Sie das Tier weg, es ist mir ernst, ich muss ins Büro.“

„Ja, dann kennen Sie sich hier aus?“, freut er sich. „Ich suche die Detektei Orpheus …“

„Es gibt hier keine Detektei Orpheus.“

„Das ist seltsam“, meint der Knabe.

Ich gehe schnell weg. Ich bin sozusagen die „Detektei Orpheus“, und ich bin so gut wie pleite, aber ich will keinen Studenten mit Hund.

„Du bist spät dran.“ Mein dicker Partner Schmoll beißt traurig in einen Fleischwurstring.

„Ich wurde aufgehalten“, entgegne ich schneidig. „Du bist fett, Schmoll.“

„Das ist wahr.“

Ich setze mich an meinen Schreibtisch. Mein Schreibtisch ist leer. Schmoll reicht mir ein Papier:

DIE HERREN DETEKTIVE!

ICH SCHICKE IHNEN HEUTE EINEN BOTEN! EINEN JUNGEN MANN, DER WIE ICH IN UNFASSBAR GROßER GEFAHR SCHWEBT! ER WIRD MEINEN WEIßEN HUSKI „SAUL“ ALS SCHUTZ UND ZEICHEN MIT SICH FÜHREN! DIESE NACHRICHT IST FÜR DEN FALL, DASS ER SIE NICHT ERREICHT! RUFEN SIE MICH DANN NICHT AN! FINDEN SIE MICH EINFACH, SONST IST ALLES AUS! ICH ZAHLE GUT!

„Ziemlich wirr, was? Hunger, Eule? Brezel?“

Ich wehre ab.

„Und so unglaublich heftig formatiert, als wenn das jemand geschrieben hat, der immer schreit. Außerdem, wie sollen wir den Arsch anrufen …“ Ich entdecke in diesem Schreiben viele Fehler.

„Wir sollen ihn ja eben nicht anrufen, das heißt, wenn nichts passiert, kommt der Knabe, aber dann braucht man nicht diesen Zettel. Wenn etwas passiert, soll man ihn finden. Wen? Den Buben? Den Hund? Ja. Bestimmt den Hund …“

„Demnach hätte der Hund den Zettel geschrieben“, führe ich Schmolls Gedanken zu Ende. Er zuckt mit den Schultern. Jetzt isst er Gummibärchen.

Ich schaue aus dem Fenster und fühle eine gewisse Melancholie. So viel Glück habe ich nicht, da sind keine zwei Knäblein mit Huskys im selben Viertel unterwegs. Ich sage vernehmlich: „Scheiße.“

„Warum, Eule?“

Müde gestehe ich mein geschäftsschädigendes Verhalten.

„Das hast du prima gemacht, Eule, er hätte ja unser Wartezimmer entjungfern können.“

Ein Leichenwagen fährt vorbei. Hinterher trottet ein Husky. Ich flüstere: „Saul …“

„Wie es aussieht“, sagt Schmoll und isst ein rohes Ei mit der Schale, „hätten wir einen großen Fall gehabt.“

Und was macht Eule, die weise große Eule? Schickt den Fall weg, weil der Fall einen Hund hat.

Ich fühle mich schlecht, aber wir haben noch eine Chance: Werner Wein anrufen.

Mein Freund Werner Wein ist Polizist und hat bei mir Ehrenschulden. Er wird uns helfen.

„Ich rufe jetzt Werner Wein an“, sage ich also dem beeindruckten Schmoll.

Einige Minuten später schaue ich auf einen vollgekritzelten Zettel:

– Name: Bernd Wohlenberg

– Beruf: Theologiestudent im 19. Semester

Und: Der Husky gehört laut Steuermarke dem Gemeindepfarrer von Haselsberg-Holdhausen, Herrn Ezechiel Rammsauter. Den Rest kann ich nicht lesen.

Ich nehme die Straßenbahnlinie 1, um mit Herrn Pfarrer Ezechiel Rammsauter KONTAKT aufzunehmen.

Vom Haus ist kaum etwas zu sehen, eine offensichtlich nachträglich errichtete Mauer und das rostige schmucklose Eisentor, vor dem ich jetzt stehe, schirmen es gegen die Straße ab. Ich klingle. Lange Zeit passiert gar nichts.

Schließlich höre ich tapsende Schritte, ein scheppernder Schlüsselbund wird bewegt. Mehrere Versuche, die Tür zu öffnen, schlagen fehl. Ich höre eine raue Stimme verhalten fluchen. Schließlich klappt es, die Tür wird mühsam über den Asphalt geschleift, eine Handbreit geöffnet. Ein einziges, blutunterlaufenes Auge stiert mich an: „Es ist keine Sprechstunde.“

„Pfarrer Rammsauter?“

„Sehe ich aus wie die Sekretärin?“

„Ich weiß nicht“, bleibe ich höflich, „ich sehe Sie nicht. Sie stehen hinter einem Eisentor.“

„Das tue ich, GOTT SEI DANK! Wer sind Sie?“

„Detektei Orpheus, man nennt mich Eule …“

„Wo ist Wohlenberg?“

„Darüber wollte ich mit Ihnen reden …“

„UND WIR REDEN JA AUCH!“

„Ich fürchte, er ist tot.“

Rammsauter lässt mich ein. Schweigend eilt er mir voraus, ein altes, schönes Fachwerkanwesen, von einem wilden Garten umgeben. Der Pfarrer trägt einen zu weiten, abgewetzten, schwarzen Anzug und schlammbespritzte schwarze Halbschuhe. Sein wirrer Schopf wird von mürrischen Frühlingswinden zerzaust. Sein Gesicht sehe ich erst, nachdem wir sein karg möbliertes Haus durcheilt haben – es fällt mir schwer, seinen riesigen Schritten zu folgen – und uns nach hastigem Aufstieg über eine knarrende Wendeltreppe in seinem düsteren Arbeitszimmer gegenübersitzen. Schartige Züge, umrahmt und teilweise verdeckt von einem furiosen Bart. Ganz zuletzt erst fällt mir die altmodische schwarze Hornbrille auf, so gewaltig ist der Blick seiner giftgrünen Augen.

Rammsauter greift wütend in seine Schreibtischschublade und fördert eine warme Flasche Weißwein zutage.

Mehrere riesige Schlucke gehen dahin, dann setzt er ab und stiert mich hasserfüllt an:

„Schon mal was von Satanismus gehört? Ich meine richtigem Satanismus, ORGANISIERTEM Satanismus?“

„Hören Sie, Herr Rammsauter …“

„BRUDER RAMMSAUTER!“ Er wirft mir die Flasche zu, eine der preiswerten Sorte mit Schraubverschluss. „Wir sind jetzt per Du.“

Ich nehme einen Schluck und werde sofort betrunken. Hat er etwas hinein gemischt? Ich habe Angst. Ich werde bewusstlos.

Ich verspüre einen schrecklichen Kopfschmerz, schlage die Augen auf. Ich liege in einer düsteren, neogotischen Halle auf einem klammen Feldbett. Die Wände sind mit dunklem Holz getäfelt. Ein schmaler Streifen weiß getünchter Wand ergänzt die Räume zu ihrer vollen Höhe. Dort sind Bretter lieblos hingenagelt auf denen Tierpräparate sitzen. Ich erkenne ein Wiesel, eine Eule(!), einen Adler und ein scheinbar schlafendes Ferkel. Es ist Nacht, die Fenster sind in wüste Schwärze getaucht.

„Es tut mir sehr leid“, wogt eine Stimme aus dem Dunkel. „Ich versetze mir den Wein STETS hälftig mit Klarem …“

„Wa… Warum?“ meine Stimme klingt matt.

„Weil ‚stets‘ rückwärts und vorwärts gelesen GLEICH ist! Und also ist alles eins.“

Mühsam erhebe ich mich von meiner Pritsche: „Ist das dein Wohnzimmer, Rammsauter? Sitzt du hier mit deiner Frau? Welche Art Leben ist das hier?“

„Ich habe keine Frau“, stößt der Pfarrer fast singend hervor und erzählt: „Ich heiße Ezechiel Rammsauter und bin 47 Jahre alt. Geboren wurde ich als Sohn eines EVANGELISCHEN Missionars auf den Tonga Islands. Meine Mutter starb im Wochenbett, als habe mein Leib sie vergiftet. Ich habe keine Geschwister. Als ich 7 Jahre alt war, wurde mein Vater im Zuge einer SCHOLASTISCHEN Diskussion mit einem Fisch erschlagen. Der Täter wurde nie gefasst, ja nicht einmal der Fisch wurde gefunden, man fand nur ein paar Gräten und den Schwanz.

Einsam durchlitt ich meine Jugend. Als ich die Studienreife erlangt hatte, nahm ich den nächsten Flug nach Deutschland und begann Theologie zu studieren.

Ich war ein Gefangener dieser Insel gewesen, aber festzustellen, dass die Freiheit den Menschen allenfalls zum zufälligen Verschwenden seiner ZUM WUCHERN BESTIMMTEN Pfunde in den Stand setzt, war schlimmer, als alles Erlebte. Aber dann trat sie in mein Leben. Sie war feurig, begabt und von einem ungeheuer sinnlichen Zugriff aufs Evangelium. Beate. Beate. Meine spätere Frau. Sie lehrte mich verzeihen, Geduld und Demut. Ich zeigte ihr das Licht, die Finsternis, den Zorn.

Nach unserer Hochzeit und unseren Examina übernahmen wir eine Gemeinde in New York. Niemand wollte es dort aushalten. Schmutz, Drogen, Notzucht und Mord. Am Tage unseres Einzugs peitschten die MG-Garben über unsere Häupter und in der ersten Nacht warfen die Ratten ihren Unrat nach uns. Aber wir fürchteten uns nicht. Noch nicht. Eines Nachts geschah es: Eines der sagenumwobenen weißen Krokodile, die in der New Yorker Kanalisation blind und elend vegetieren, wagte sich an die Oberfläche und drang in meine Kirche ein, wo Beate und ich gerade im Gebet wetteiferten. Und es fraß meine Frau, obwohl ich mich schreiend an ihrer Statt anpries.

Ich kehrte zurück und übernahm diese Gemeinde. Ich gründete einen Gesprächskreis für junge Menschen, der regen Zulauf erfuhr. Sollte ich Frieden gefunden haben? Plötzlich aber wandten sich immer mehr junge Menschen von unserem Kreis ab. Nur sechs blieben übrig.

Da erschien mir letzte Nacht im Traum das weiße Krokodil und sagte, was ich längst wusste …“

Rammsauter macht eine Kunstpause und schaut mich schauerlich an.

„W… was“, frage ich schmerzensblind.

„Satanismus. Eine, wenn nicht die Geisel unserer Zeit. Geheimorganisationen, unvorstellbar weit verästelt. Katakomben. Leichenberge. Der Antichrist.“

„Ich weiß nicht …“

„ES GENÜGT, DASS ICH WEIß! ICH WEIß DOCH, WAS ICH GLAUBE!!“

Ich ziehe es vor zu schweigen.

„Es ist bekannt“, fährt Rammsaure fort, „dass gerade die Polizei von diesen Finsterlingen durchseucht ist, dass die Telefone abgehört werden. Also habe ich einen zuverlässigsten Knaben losgeschickt … den Rest weißt du.“

Er schweigt.

„Wo ist dein Hund?“, flüstere ich.

„Tot. Er hat sich noch nach Hause geschleppt, im Garten brach er zusammen. Er hatte Aids.“

Ich bitte Rammsauter, Schmoll anzurufen. Ich brauche jetzt meinen Partner.

„Ich, mampf – mampf, sehe also richtig, dass Ihr einziger Beweis, Herr Pfarrer, ein geträumtes weißes Riesenkrokodil ist.“

„Und der Tod des Jungen?“

„Wir könnten die restlichen fünf dieses Gesprächskreises ja immerhin mal verhören“, schlage ich vor. Schmoll wiegt nachdenklich das Haupt.

„Ich werde Euch mit GOLD vollstopfen, so ist das nicht!“, heult Rammsauter auf.

„Na ja“, sage ich, „aber viel haben wir nicht in der Hand.“

Rammsauter hebt beschwörend die Rechte und zeigt uns seine Handfläche. Sie ist durchbohrt.

„Das ist wenig. DAS IST ALLES!“

„Er trägt Stigmata“, flüstere ich beeindruckt.

„Soll doch jeder rumlaufen wie er will“, wiegelt mein Partner ab, „aber gut, versuchen wir’s.“

Spät nachts sitze ich in einem Wohnzimmer und telefoniere mit Schmoll. Draußen stürzt Wasser aus den Wolken. Ich bin verwirrt. Und ich bin angriffslustig:

„Wir müssen uns die fünf Übrigen rannehmen“, sage ich. „Es ist wichtig, RASCH Licht ins Dunkel zu bringen … zupacken …“

Wenn man mit Schmoll telefoniert, redet und denkt man ständig gegen eine höchst enervierende Geräuschkulisse aus Mampfen, Lutschen, seltener Kauen und Beißen an.

„Worauf willst du hinaus“, schmatzt Schmoll dazwischen. „Noch ist nicht bewiesen, dass der Pfarrer nicht irr ist.“

„Schon möglich, das heißt, wahrscheinlich ist er irr. Aber der Mord an diesem Wohlenberg bleibt …“

Schmoll gibt einen zustimmenden Summlaut von sich.

„Wir hätten gleich vorhin eine Namensliste aufnehmen sollen“, bereue ich dann, „wir hätten Zeit gewonnen …“

„Es eilt sicher“, meint Schmoll, „aber so sehr eilt es dann auch wieder nicht.“

Ich hänge ein. Ohne, dass ich es benennen kann, beginnt die Gnade des Glaubens ihr zauberisches Werk in mir. Die Frage ist nur, an WAS ich neuerdings glaube. Das Gefühl ist eine irgendwie brandige Aufgeregtheit hinter dem Brustbein, die seltsam hoffnungslos und getrost zugleich stimmt. Ich verfalle Rammsauter.

Carlo Schäfer