Geschrieben am 16. September 2018 von für Crimemag, CrimeMag September 2018

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – September 2018

bloody chops

Bücher, kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Karsten Herrmann (KaHe), Klaus Kamberger (KK), Alf Mayer (AM), Andrea O’Brian (AOB), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW) über …

Sebastian Barry: Tage ohne Ende
D.B. Blettenberg: Falken jagen
Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele
Uta-Maria Heim: Toskanisches Feuer
Chan Ho-Kei: Das Auge von Hongkong
Steffen Jacobsen: Hybris
D.B. John: Stern des Nordens
Lutz Wilhelm Kellerhoff: Die Tote im Wannsee
Joseph Knox: Dreckiger Schnee
Markus Lutteman: Das weiße Nashorn
Ronald Malfi: Shamrock Alley
Alan Parks: Blutiger Januar
Dennis Pfabe: Der Tag endet mit dem Licht
Val McDermid: Rachgier
Richard Thaler: Misbehaving
Thomas und Daan Heerma van Voss: Zeuge des Spiels

chop barry 9783958295186_1Was für ein Roman!

(KK) „In Amerika wird alles Schlechte erschossen…und alles Gute auch.“ — Kann ein Mensch in die blutigsten Bürgerkriegsgemetzel geraten und die Welt trotzdem noch schön finden? Er kann. Er kann mit seiner Kompanie über die Wigwams eines Sioux-Stamms herfallen, Kinder und Frauen niedermähen, und er kann zugleich ein Mädchen aus eben diesem Stamm bei sich aufnehmen und väterlich lieben. Einfach so. Einfach so? In aller Unschuld? Natürlich nicht. Und doch geht beides zugleich. Denn so ist der Mensch nun einmal gestrickt. – Der Ire Sebastian Barry verfolgt das in Tage ohne Ende an einem Stück amerikanischer Geschichte entlang, und man wird mit seinem scheinbar naivem  Blick auf seine ebenso naiven Protagonisten unmerklich hineingezogen in einen Strudel aus Lust am Leben und Vernichten von Leben, aus Preisgeben und Schützen, Lieben und Missachten, kurzum: hineingezogen  in dauernd Unvereinbares – was man dann halt so „Leben“ nennt.

„Jeder Ire glaubt sich im Recht, und um‘s zu beweisen, wird er die ganze Welt umbringen.“  — Barrys „Held“ Tom ist einer, der das Leben so nimmt, wie es ist. Er ergreift, wie so viele,  die Flucht aus dem irischen Elend des 19. Jahrhunderts, landet als Vierzehnjähriger im Land der Hoffnung, zieht, einfach weil er das toll findet, Frauenkleider an und schlägt sich als Tänzerin in einer Western-Travestie-Show durch, verliebt sich unsterblich in seine(n) Mittänzer(in), wächst dann aber leider, weil die Natur es so will, aus den schlanken Frauenkleidern heraus, tauscht die Rollen, wird kurzerhand Soldat (Unionist) und erlebt die Schrecken des Bürgerkriegs, tut Schreckliches, erleidet Schreckliches und steht all das doch durch mit dem staunend-verwunderten Blick eines Kindes, das alles auf einmal sein kann: traurig, fröhlich, entsetzt, todesmutig, gutgläubig, ängstlich, vertrauensvoll, abgefeimt – und doch voller Hoffnung auf eine irgendwann schönere Zukunft.  

„Wir waren zwei Hobelspäne der Menschheit in einer rauen Welt.“ — Barry entwirft in der Rolle des Ich-Erzählers das Bild einer prägenden Epoche der Vereinigten Staaten, ein Bild von solcher Intensität, dass einem schlicht der Atem wegbleibt. In einem unnachahmlichen Stil des Dahin- und Drauflosredens lässt er ein Panorama entstehen, das die ewige comédie humaine– nein , nicht beschwört, sondern fast zum Normalfall werden lässt: das Leben als ständig gelebter Widerspruch. Was für ein Roman!

Sebastian Barry: Tage ohne Ende (Days Without Ends, 2016). Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2018. 261 Seiten, 22 Euro.

51MXUzEHyGL._SX319_BO1,204,203,200_Welcome back, Farang

(TW) In Falken jagen ist Surasak „Farang“ Meier wieder da. D.B. Blettenberg lässt seinen gealterten, aber noch gut erhaltenen Gunman-to-hire thailändisch-deutscher Herkunft nach 15 Jahren Pause zum dritten Mal (nach „Farang“ und „Berlin Fidschitown“) im Auftrag einer mächtigen thailändischen Plutokratenfamilie ein Ärgernis beseitigen. Dieses Ärgernis ist ein entschlossener Killer namens „Der Falke“, der auf thailändischem Boden Menschen umbringt, die anscheinend nichts miteinander verbindet: Deutsche, aber auch einen korrupten griechischen Diplomaten. Ein internationaler Skandal droht, die thailändischen Behörden sind ratlos. Die besagte Familie, die den eigentlich dafür zuständigen, aber inkompetenten Oberpolizisten stellt, fürchtet Gesichtsverlust und lässt Farang von der Leine.  Der legt los, kommt dem „Falken“ immer näher, aber nicht nahe genug. Farang ist bald klar, dass die Motivlage des Killers komplexer ist als es den Anschein hat. Er gräbt tiefer und stößt zusammen mit seinen Kumpanen Bobby Quinn und Tony Rojana (bekannt aus den anderen Farang-Büchern) auf eine tragische Episode aus dem Zweiten Weltkrieg in der Ägäis, die, wie Geschichte grundsätzlich, noch lange nicht zu Ende ist.

Schließlich landet er auf der Insel Leros (wo D.B. Blettenberg seit ein paar Jahren lebt) und gerät damit auch in aktuelle griechisch-deutsche Befindlichkeiten, deren „offizielle“ (also regierungsamtliche) Sichtweisen Blettenberg kontraperspektivisch sabotiert.  Aus einem Thailand-Roman wird ein Griechenland-Buch, eine kleine, liebevoll-kritische Hymne auf Blettenbergs neue Wahlheimat, die trotz Sonne und blauem Meer keinesfalls die reine Idylle ist. Die Blutflecke der Vergangenheit schimmern noch immer deutlich durch, wenn man nur ein wenig unter die Oberfläche schaut. Ganz buchstäblich, denn wie schon in „Fidschitown“ ist auch hier die Unterwelt aus Stollen und Tunnel ein wichtiger Protagonist, geschickt verknüpft mit Farangs Freund Bobby Quinn, der im Vietnam-Krieg eine „Tunnelratte“ war und dessen Kriegstraumata ihn auf Leros wieder einholen. Dies und eben die Figur Farang bewirken, dass auch die asiatisch-westlichen Verhältnisse einen Subtext des Romans ergeben.

Nach dem Breitleinwand-Epos „Murnaus Vermächtnis“ wählt Blettenberg mit Falken jagen ein schlankeres Format – geschichts- und geschichtengetränkt, mit eisigen Dialogen, konsequent durcherzählt, mit einem gehörigen Anteil kreativem Zynismus.

D.B. Blettenberg: Falken jagen. Pendragon Verlag, Bielefeld 2018. 384 Seiten, Klappenbroschur, 18 Euro. (Der Prolog exklusiv bei CrimeMag hier.) 

Ho-Kei_AugeHongkong_HC_RZ3.inddKompositorische Meisterleistung

(TW) Das Auge von Hongkong nennt man den Polizisten Kwan Chun-dok, dessen Karriere der gleichnamige Roman von Chan Ho-Kei erzählt. Kwan ist ein Genie der Deduktion und der genauesten Beobachtung, paranoid skeptisch allen und allem gegenüber, eisern nicht korrupt, seinen Job als Dienst an den Menschen verstehend. Kwan hat kein Problem, jenseits der Legalität zu agieren, wenn es ihm passend erscheint. In sechs Episoden, die chronologisch von 2013 bis 1967 rückwärts angeordnet sind, entwirft Chan Ho-Kei eine Art Kriminalitätsgeschichte von Hongkong, von der Kronkolonie bis zum offiziellen Teil der VR China. Zwar bietet jede Episode eine in sich abgeschlossene Geschichte, aber dennoch handelt es sich bei dem Text um einen Roman.

Wie geschickt Chan Ho-Kei die einzelnen Figuren durch die Jahrzehnte miteinander verknüpft, erschließt sich tatsächlich erst ganz am Ende des 570-Seiten Backsteins – eine kompositorische Meisterleistung. In der ersten Geschichte, die 2013 spielt, ist Kwan schon tot, und scheint aus dem Off noch ein letztes Verbrechen aufzuklären, dessen Samen schon 1967 gepflanzt worden war. Das ist mehr als tricky und was man zunächst als öde Deduktionsübung à la Sherlock Holmes missverstehen könnte, erweist sich als raffinierter narrativer Schachzug, um die Kontinuität des Organisierten Verbrechens in Hongkong zu erzählen. Die Schwerpunkte wechseln durch die Jahrzehnte – aber es bleibt der Schulterschluss von Politik und Triaden, von Korruption und Ausbeutung. Dass dabei in Chan Ho-Keis Perspektive als nicht-dissidenter Bürger der VR China eine leichte Tendenz zur Verbesserung der Verhältnisse unter chinesischem Einfluss notiert und Inspector Kwan insofern eine letztlich eher polizeifromme Figur ist, ist nicht wirklich überraschend. Beeindruckend sind auf jeden Fall das literarische Konzept und die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen von Verbrechen in der Megacity.

Chan Ho-Kei: Das Auge von Hongkong. Die sechs Fälle des Inspector Kwan. Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld. Zürich: Atrium Verlag 2018, 573 Seiten, € 24,00. Info hier. Im Januar 2019 kommt Chan Ho-Kei zu den“Literaturtagen“ der LitProm nach Frankfurt am Main.

9783839223482Toskanische Nische

(rum) Bodensee und südliche Toskana, Konstanz und Florenz hat Uta-Maria Heim für ihre Serie zusammengespannt samt illustren Personals. Darunter sind ein Pfarrer und seine „andersbegabte“ Schwester, eine ehemalige Zahnarztgattin und Restaurantbesitzerin, deren Mutter beim Verfassungsschutz war, ein syrischer Flüchtling, ein windiger Psychiater, dubiose Nonnen, ein Anwalt, der ein Mafioso sein könnte. Von Florenz nach Konstanz und zurück in die spätsommerliche Toskana verlagert sich die Geschichte von Toskanisches Feuer. Dort wird ein Ehepaar aus Konstanz erschossen, der syrische Flüchtling Tamir, der kaum Arabisch, dafür aber ein altertümliches Deutsch spricht, macht einen alten Schulkameraden ausfindig, der sich dem IS anschließen wollte. Der Pfarrer findet im Auto eine nackte Nonne mit Wundmalen. Und so entwickelt sich eine groteske Geschichte, in der Heim einige Fäden aus dem ersten Band „Toskanische Beichte“ (in der es unter anderem um die verhinderte Seligsprechung eines Papstes und eine dubiose Geheimgesellschaft ging) weiterspinnt, versanden lässt, umdeutet, neue entwickelt.

Ihre Figuren sind dabei ziemlich eigen. Der Pfarrer etwa ist ein Zweifelnder, dem nach einem Burnout zunehmend der Glaube an die Kirche verloren geht. Die ehemalige Stuttgarter Verfassungsschützerin dagegen scheint ganz genau zu wissen, wie der Hase läuft und versteht es, ihre Argumente auch mal mit einer HK MP 7 Nachdruck zu verleihen. Und zwei Pietistinnen von der Alb tauchen da mal als IS-Bräute in Rakka, mal als erzkatholische Teufelsaustreiberinnen in Florenz auf. Ja, so kann man das auch mal drehen. Wild und ausufernd ist die Geschichte, durchwirkt mit anarchischem Humor, wenngleich dieser Roman fast gesittet beginnt, bevor die Autorin dann doch noch den Turbo anwirft.

Alles dreht sich um seltsame Geheimdienstoperationen, halb verdeckte Ermittler, Rechtspopulismus, religiösen Fanatismus und gutes Essen. Nebenbei greift sie reichlich aktuelle Diskussionen auf – das reicht von der sexuellen Selbstbestimmung behinderter Menschen, über den Vegan-Hype bis zur Rekrutierung junger Leute für den IS. Sie ist hellwach, politisch und in andauernder Auseinandersetzung mit dem Katholizismus. Dazu schreibt Heim mit fein dosierten Dialekteinsprengseln, die den Text immer wieder unaufdringlich, aber prägnant zu färben, die Sprecher, samt ihres Hintergrunds zu verorten wissen. Und sie macht sich einen Spaß daraus, zu zeigen, wie frisch und ungefühlig sich doch Sonnenuntergänge, Meerlandschaften, Wetterphänomene einfangen lassen. Mal wieder ein sehr schöner Roman, aberwitzig, überdreht, stachlig, auch mal leise und spröde, stets anspielungsreich und scharfsinnig. So kann Regionalkrimi auch aussehen.

Uta-Maria Heim: Toskanisches Feuer. Gmeiner-Verlag, Meßkirch, 2018. 308 Seiten, 15 Euro.

978-3-7371-0043-4Kristallene Prosa und starke Bilder

(KaHe) Ein bemerkenswertes Debut legt Denis Pfabe mit Der Tag endet mit dem Licht vor. Mit starken Bildern und kristallener Prosa erzählt er von einem Trip durch Amerika, von Avantgarde-Kunst und der Suche nach den (Familien-)Wurzeln. Denis Pfabe, der in Bonn lebt und neben dem Schreiben in einem Baumarkt als Gabelstaplerfahrer arbeitet, lässt seine Protagonistin Frida Beier auf eine 25 Jahre zurückliegende USA-Reise zurückblicken. Damals hatte sie, die sich als Kunstweberin an klassischer Tapisserie orientierte, von dem berühmten Avantgarde-Künstler Adrian Ballon eine Einladung zu einem Projekt im Mittleren Westen Amerikas bekommen. Ballon erweist sich hierbei als ein durch und durch exzentrischer, knarziger und grober Typ, von dem das „Gefühl einer dunklen Gravitation ausgeht“. Er schafft seine Kunst aus „Zerrüttung und Schutt“ und ist in seinem neuen Projekt auf der Suche nach ganz bestimmten Fensterfronten, die er gegen gutes Geld aus bewohnten Farmhäuser flexen und abtransportieren lässt – um die dann später in Düsseldorf in einer großen Inszenierung neu zusammen zu setzen

Zusammen mit Frida rast Ballon in einem Ferrari 512 BBi wochenlang über die staubigen Straßen des Mittleren Westens, vorbei an schäbigen Diners und Motels – im Schlepptau ein Crew aus saufenden und zunehmend außer Kontrolle geratenen Arbeitern mit ihren Pick-ups, Trucks, Baggern und Maschinenparks. In den Nächten sammeln sich die Bilder des Tages und der Vergangenheit in Fridas Träumen „wie an der Überlaufkante eines Beckens“. Am Ende der Reise erschießt sich Adrian Ballon in dem kleinen Städtchen Paradise, das durch die Entführung von Charles Urschel Berühmtheit erlangte, in seinem Ferrari – mit einem Bild von Frida in der Hand.

Der Tag endet mit dem Licht ist ein abgedrehter Road-Trip voller intensiver Snap-Shots, der nicht nur durch die Landschaften der USA führt, sondern auch in die Untiefen des menschlichen Geistes und in eine Kunst der Dekonstruktion, des Dechiffrierens, Entschlüsselns und Entlarvens. Im dunklen Kern kreist die Erzählung auch um die verborgenen Familiengeschichten von Adrian Ballon und Frida. Und hier lauern die abwesenden und über ihren Tod hinaus Unheil anrichtenden Väter. Pfabe zeigt sich in seinem Debut als ein starker, höchst konzentrierter und allen unnötigen Ballast vermeidender Erzähler. Von Anfang bis zum Ende schafft er eine sublime und dunkle Spannung und lüftet schließlich ein überraschendes Geheimnis. In ganz undeutscher Erzählweise erinnert sein Prosa dabei an die Romane Don DeLillos, gepaart mit einem Schuss der surrealen Bilderwelten David Lynchs.

Dennis Pfabe: Der Tag endet mit dem Licht. Rowohlt Verlag, Berlin 2018. 192 Seiten, 20 Euro.

chop knox 978-3-426-52210-3_DruckThriller mit Sogwirkung

(AOB) Manchester, die dunklere Seite. David Rossiter, MP, sorgt sich um seine Tochter Isabelle. Sie ist von zu Hause abgehauen und beim stadtbekannten Drogendealer Zain Carver untergekommen. Isabelle arbeitet für ihn als „Sirene“ – so heißen die jungen Mädchen, die für Drogendealer an verschiedenen Orten Geld einsammeln. Auch die seit zehn Jahren vermisste Joanna Greenlaw war so eine. Doch kurz nachdem sie sich bereit erklärte, gegen ihren Boss auszusagen, verschwand sie. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Für Carver hingegen laufen die Geschäfte blendend. Er hat sich mittlerweile zum König der Unterwelt Manchesters hochgearbeitet und ist offenbar unantastbar. Doch dann wird sein früherer Gegenspieler Sheldon White aus der Haft entlassen..

In diese Gemengelage gerät Aidan Waits, ein in Ungnade gefallener Cop mit Suchtpersönlichkeit. Er wurde erwischt, als er Drogen aus der Asservatenkammer stehlen wollte. Um einer Anzeige zu entgehen und seinen Job zu retten, erklärt er sich bereit, verdeckt gegen Carver zu ermitteln. Offiziell als schmutziger Bulle diskreditiert, soll Watts sich beim Drogenboss einschmeicheln und dabei die Abgeordnetentochter Isabelle Rossiter im Auge behalten. Außerdem hat er die Aufgabe, den Informanten aus den eigenen Reihen aufspüren, der eine schützende Hand über Carver zu halten scheint.

So weit, so konventionell. Wäre da nicht Aidan Waits, der als Antiheld dieses verstörenden Romans nicht nur diversen chemischen Substanzen sondern auch der Liebe verfällt. Als eines der Mädchen an verunreinigtem Heroin stirbt, verlassen Waits und seine Geschichte die befestigten Wege des Genres und bahnen sich neue Trampelpfade. Die Handlung ist hochkomplex, doch nie verwirrend. Knox nimmt seine Leser mit auf eine Reise in die Unterwelt, aus der sie verändert zurückkehren.

Was macht diesen Roman so wirkungsvoll? Da ist zunächst der Held. Zu Beginn von Dreckiger Schnee liegt er buchstäblich in der Gosse und kann sich an nichts mehr erinnern. Dieser Mann hat sich sämtliche Chancen auf eine Rückkehr in einen halbwegs normalen Alltag verbaut. Und dennoch geht von seiner Geschichte eine unwiderstehliche Sogwirkung aus, und der Leser leidet mit ihm, von der ersten bis zu letzten Seite. Dass dieser kaputte Aidan Waits als Antiheld trotz allem nicht klischeehaft wirkt, liegt an seinen zutiefst menschlichen Zügen. Er ist süchtig, nicht nur nach Drogen, sondern auch nach der Liebe – und verfällt so einer der Sirenen aus dem Titel. Knox knüpft ein starkes Band zwischen seinem Helden und dem Leser, der ihm von einer selbstmörderischen Aktion zur nächsten folgt, ihn befeuert, ihm Glück wünscht – und ihn immer wieder scheitern sieht. Der Mann schaufelt sein eigenes Grab, er hat nichts zu verlieren, und gerade das macht ihn so glaubwürdig. (Und verwandt mit Nick Belsey von Oliver Harris.)

Der Erzählstil von Joseph Knox ist packend, viszeral, rasant. Hier wird nichts geschönt, es geht ans Eingemachte – und direkt in die Eingeweide des Lesers. Schwarz-weiß ist hier grau, die Grenze zwischen Gut und Böse so unscharf wie die Erinnerung eines Junkies. 
Dazu Joy Division. Willkommen in der Finsternis.
Und das Ende? Wie eine Faust in den Magen.
Lesen! Tür zu, Handy aus, Buch auf. Ab in die Unterwelt!

Joseph Knox: Dreckiger Schnee (Sirens, 2017).  Aus dem Englischen von Andrea O’Brien. Knaur, München 2018. Klappenbroschur, 432 Seiten, 14,99 Euro.

U1_978-3-8052-0332-6_Simulation.inddFaszinierend gruslig

(TW) Ein ziemlicher Höllentrip ins Reich der Finsternis bietet Stern des Nordens von D.B. John. Der mit viel Zusatzmaterial ausgestattete Roman versucht, eine Innenansicht des nordkoreanischen Regimes zu Zeiten Kim Jong-Ils zu entwerfen und auch dessen Tod 2011 in seinem Luxuszug „Stern des Nordens“ mit einem spekulativen Narrativ zu plausibilisieren.  Der britische Journalist D.B. John hat für seinen Roman so ziemlich alle Zeugenberichte, eigene Reiseerfahrungen und sonstige Quellen genutzt, um die Atmosphäre dieser Diktatur fühlbar zu machen: Die andauernde, totale Überwachung und soziale Kontrolle, die Dauerparanoia, die unfassliche psychologische und physische Brutalität des Regimes verdichtet er zu extrem beklemmenden Szenen. Die Geschichte der US-amerikanischen Afrokoreanerin Jenna Williams, deren Zwillingsschwester einst von einem südkoreanischen Badestrand entführt wurde, um einer Art Züchtungsprogramm für nicht-asiatisch aussehende Nordkoreaner, zugeführt zu werden – dieser Teil der Geschichte basiert auf Fakten – und sich der CIA anschließt, um Nordkorea zu infiltrieren, bietet Thrill, Suspense und Action, nebst ein paar genre-typischen Überzeichnungen und einem gehörigen Schuss politischer Naivität: So gut und rein sind die Amis in diesem Spiel nun wahrlich nicht. Und wenn die Heldin einen ganzen Zug bis an die Zähne bewaffneter Nordkoreaner platt macht, schert der Roman aus seinen eigenen Parametern aus. Aber lustig isses doch.

Faszinierender und komplexer sind allerdings die Geschichten von Frau Moon, einer einfachen Koreanerin, die im selben Straflager landet, wie der tief gefallene Spitzenkader Cho, dessen Sündenfall seine nicht systemkonforme, ihm selbst gar nicht bewusste Familiengeschichte ist, die ihn in eine Art Dr.-Mengele-Labor führt. Ein faszinierend-grusliges Buch, das die dramaturgischen Möglichkeiten eines Terror-Regimes für eine entfernte Leserschaft clever nutzt.

D.B. John: Stern des Nordens (Star of the North, 2018). Aus dem Englischen von Karen Witthuhn und Sabine Längsfeld. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018. 597 Seiten, € 24,00. Info hier

chop mengele 9783351037284Ein sehr wichtiges Buch

(TW) Apropos Dr. Mengele: Das Verschwinden des Josef Mengele wirkt auf den ersten Blick wie ein Sachbuch. Aber der französische Journalist Olivier Guez erzählt die lediglich in groben Zügen allgemein bekannte Geschichte des „Todesengels von Auschwitz“ in einer kühlen, aber raffiniert arrangierten Prosa, die oft mitten im Satz die Perspektive und den Gestus wechselt und, spekulativ direkt in die widerwärtige Gedankenwelt von Mengele eindringt. Deswegen darf sich das Buch mit Fug und Recht als Roman bezeichnen, wenn man nicht auf Hilfskonstruktionen wie „Doku-Fiction“ ausweichen will. Hinter allem steckt natürlich die Frage, wie das Scheusal Mengele bis zu seinem natürlichen, wenn auch unschönen Ende 1979 der irdischen Gerechtigkeit entgehen konnte.

Kein schmeichelhaftes Buch, weder für das Argentinien Peróns (dessen großmachtpolitischer Wahnsinn hier sehr geschickt auf den Punkt gebracht wird, ein Aspekt, der eher selten in der Debatte auftaucht) noch für die Bundesrepublik Deutschland, deren Interesse an der Ergreifung Mengeles keine hohe Priorität hatte, im Gegenteil. Nicht umsonst ist Guez auch der Autor des unbequemen Films „Der Staat gegen Fritz Bauer“, also über den hessischen Generalstaatsanwalt, der letztlich die Frankfurter Ausschwitz-Prozesse angestoßen hatte und wesentlich zur Ergreifung von Adolf Eichmann beigetragen hatte und somit dem restaurativen Establishment der Bundesrepublik ein Stachel im Fleisch war.

Und natürlich kümmert sich Guez auch um die Wandlung Mengeles zur popkulturellen Schreck-Ikone (cf. „Marathon Man“), wo es doch nur um die monströse Banalität des Bösen geht. Sein nüchterner Text ist das Antidot zu vielen schicken literarischen Überformungen des Faszinosums „Nazi-Deutschland“ à la Jonathan Littell. Ein schlankes, auf vielen Ebenen tief deprimierendes, instruktives und sehr wichtiges Buch.

Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele (La disparition de Josef Mengele. 2017). Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Berlin: Aufbau Verlag, 2018. 224 Seiten. € 20,00. Info hier

Hybris von Steffen Jacobsen

Den perfekten Menschen züchten

(AM) Ein Einhorn heute, das ist ein Individuum mit perfekten Genen. Die menschliche Hybris beim anything goes für den makellosen Nachwuchs ist das Thema im vierten Thriller des Dänen Steffen Jacobsen, selbst Arzt und Vater von fünf Kindern. Seit seinem Erstling „Trophäe“ – für meine Frau immer noch sein bestes Buch – hat Jacobsen das Instrumentarium beachtlich erweitert. Er schreibt auf internationalem Niveau, schweift mühelos durch die verschiedensten Kulturen und Lebenskreise. Der Prolog transportiert nach Batapora im indischen Kaschmir, der Privatermittler Michael Sanders („ein menschliches Schweizermesser“) sucht dort nach dem verschwundenen Junkie-Sohn eines Kommunikationsmilliardärs, landet mit einer Bar-Bekanntschaft im Bett.  Die Handlung setzt 15 Monate später ein. Polizeiinspektorin Lene Jensen vom Dezernat Personengefährdende Kriminalität – gerade dabei, sich vom Fremdgeher Sanders scheiden zu lassen – hat es mit einer jungen toten Frau zu tun, die vor acht bis zwölf Wochen ein Kind zur Welt gebracht hat. Sie stammt von den Philippinen, stellt sich heraus. Schätzungen der dortigen Polizei benennen die unvorstellbare Zahl von rund 550.000 jungen vermissten Frauen in den letzten zehn Jahren. Sanders sucht derweil nach einer vermissten jungen Pianistin. Die Fälle verschränken sich, führen unter anderem in eine gynäkologische Praxis, in der es aussieht wie bei einem Rolex-Händler. „Ein Kind zu bekommen ist ein Schritt in die Unsterblichkeit“, heißt es an passender Stelle.

Das Rätsel der toten Leihmutter führt Lene nach Hamburg ins Polizeikommissariat Eimsbüttel und ins Bett einer Polizistin und das ungleiche Ermittlerpaar letztlich immer wieder zum Milliardär des Buchanfangs, der einen Japanfimmel hat und seit 15 Jahren dabei ist, einen perfekten Garten anzulegen. Irgendwann kommt eine rasiermesserscharfe japanische Kornsichel zum Einsatz und braucht Michael Sander all seine Entfesselungskünste, um dem „Kuss“ zu entgehen, einem Kampfschlag des KGB – eigentlich zwei Schläge, die das Gehirn des Gegners ultrakurz in Schwingung versetzen. Jacobsen, der geschickt die Tempi wechselt und auch action kann, hat erkennbar Spaß. Etwa mit Weisheiten wie „Lebe dein Leben nicht im Schatten gedachter Niederlagen“ oder einem fleischfressenden Fernsehsessel oder wenn Céline Dion das Thema von „Titanic“ intoniert.

Steffen Jacobsen: Hybris (Enhjorningen, 2016). Thriller. Ein Fall für Lene Jensen und Michael Sander (4). Aus dem Dänischen von Maike Dörries . Heyne Verlag, München 2018. Klappenbroschur, 384 Seiten, 15 Euro.

chop mcdermid 978-3-426-52181-6_DruckKonjunktiv II

(JF) Auf die Ermittlerin wartet „etwas Vielversprechendes und Grandioses, etwas, das vielleicht zukünftig die Polizeiarbeit verändern würde. Und sie war ausgewählt worden, diese Unternehmung zu leiten. Ein regionales Team von Sonderermittlern, das Regional Major Incident Team, kurz ReMIT, das alle unverhofften, gewaltsamen Todesfälle übernehmen würde, die grausamsten Sexualverbrechen und die abscheulichsten Kindesentführungen im Bereich von sechs verschiedenen Polizeiapparaten.“ Dummerweise ist ihr ein „haarsträubend dummer Fehler“ unterlaufen, der für ein sehr schlechtes Gewissen sorgt. Aber soll sie deshalb den Posten nicht annehmen? Schließlich könnte sie, „Mörder hinter Gitter bringen“, „bevor noch mehr Menschen auf sinnlose Weise das Leben genommen wurde, wenn sie“, das ist die Voraussetzung, „wirklich einen Unterschied machte“.

Diese aufschlussreichen Zitate finden sich auf den Seiten 15 und 17 von Rachgier, des zehnten und wahrscheinlich letzten Bandes der äußerst erfolgreichen Reihe um die Kriminalistin Carol Jordan und den Psychologen Tony Hill von Val McDermid. Wer jetzt neugierig geworden ist, welche „unverhofften, gewaltsamen Todesfälle“ dieses Mal der Aufklärung harren, sollte nicht zögern, sich das Buch zu besorgen, dessen Auftakt im Konjunktiv II ein weiteres Beispiel für die kongeniale Kooperation von Autorin und Übersetzerin bereithält: „Hätte Kathryn McCormick geahnt, dass sie nur noch knapp drei Wochen zu leben hatte, hätte sie sich auf Suzannes Hochzeit vielleicht ein bisschen mehr zu amüsieren versucht.“ Doch wer weiß schon, dass er zum Opfer eines Serienmörders, den ein diabolischer Racheplan umtreibt, werden wird? Und hat dann noch Lust, sich zu amüsieren? Dazu sind wohl nicht einmal die armen Figuren, die unverschuldet in den Plot dieses bemerkenswert dämlichen Thrillers geraten sind, in der Lage.

Val McDermid: Rachgier (Insidious Intent, 2017). Aus dem Englischen von Doris Styron. Knaur, München 2018. Klappenbroschur, 474 Seiten. München, 9,99 Euro.

Heerma_van_Voss_Zeuge_des_SpielsSchuld und Schuldiger

(rum) Einen zwar nicht besonders originellen, aber doch interessanten Kriminalroman hat das niederländische Brüderpaar Dan und Thomas Heerma van Voss mit Zeuge des Spiels geschrieben. In den Sümpfen bei New Orleans wird eine junge Frau ermordet – und ihr Freund als Verdächtiger festgenommen. Dessen Vater lebt in den Niederlanden, hat selbst erlebt, wie es ist, unschuldig ins Visier der Ermittlungsbehörden zu geraten. Vor fünf Jahren wurde seine Frau umgebracht und er der Tat beschuldigt. Ein Gericht sprach ihn zwar frei, doch warf den Psychiater das Ganze völlig aus der Bahn. Das will er seinem Sohn nun ersparen, reist in die USA und versucht auf eigene Faust zu ermitteln, weil er den Behörden nicht traut. Doch das geht gründlich schief. Ein Privatdetektiv, den er anheuert, wird selbst zum Opfer. Und der immer wieder zu Wort kommende Täter gewinnt mehr und mehr Selbstvertrauen.

Die beiden Autoren, die jeweils auch eigene Bücher veröffentlichen (von Thomas Heerma van Voss erschien voriges Jahr „Stern geht“, von seinem Bruder Daan kommt im Dezember  „Abels letzter Krieg“) loten in diesem ersten gemeinsam geschriebenen Roman die Untiefen ihren Figuren sehr genau aus. Die ermittelnde Kommissarin etwa hatte einen Burnout, wird von ihren Kollegen gemobbt, droht sich erneut zu überfordern und muss sich schließlich entscheiden zwischen ihrer eigenen Gesundheit und dem Makel, einen Unschuldigen vor Gericht gebracht zu haben. Der Vater will seinen Sohn retten. Der aber will sich auf keinen Fall von seinem Vater helfen lassen, den er für einen Mörder hält. Eine ziemlich verfahrene Situation also, von der die beiden Brüder konzentriert mit viel Atmosphäre und Sinn für die leisen Töne erzählen. Die Kriminalgeschichte indes ist nicht besonders überraschend, gelegentlich auch etwas plump. Spannender ist da schon die Figur des Vaters, dessen Glaube an die Menschheit ja fast schon verloren ging und der nun mitten in seiner blinden, auf Vermutungen und Vorurteilen fußenden Rettungsaktion für seinen Sohn, wie für sich selbst einen bitteren Realitätsschock erleidet

Thomas und Daan Heerma van Voss: Zeuge des Spiels. Schöffling & Co, Frankfurt 2018. 304 Seiten, 18 Euro.

Blutiger Januar von Alan Parks

The Real McCoy

(AOB) Wenn man in  Schubladen denkt, könnte man das Debüt Bloody January von Alan Parks durchaus dem Tartan Noir zuordnen, einst durch den unvergesslichen William McIlvanney begründet. Wer aber meint, Parks‘ Roman wäre deswegen ein alter Hut, der irrt gewaltig.

Glasgow in den Siebzigerjahren: Gangster und korrupte Polizisten beherrschen die kriminelle Szene, Brutalität, Frauenfeindlichkeit und Drogenmissbrauch sind an der Tagesordnung. Alan Parks‘ Geschichte ist so düster, dass selbst ein Schneesturm sie nicht weißwaschen könnte. Detective Henry McCoy, die zentrale Ermittlerfigur in diesem Roman, der den Beginn einer Serie einläutet, wird nach Barlinnie gerufen, dem berüchtigten Gefängnis von Glasgow. Ein dort einsitzender, mit allen Wassern gewaschener Schwerstverbrecher informiert ihn, dass für den nächsten Tag ein Mord an einer jungen Kellnerin namens Lorna geplant sei und bittet ihn, die Tat zu verhindern. Gelangweilt stellt McCoy ein paar Ermittlungen an, und findet sogar heraus, wo sich das Opfer aufhält. Leider kommt er zu spät. Die junge Frau wird auf offener Straße an einem Busbahnhof erschossen, der Schütze, ein scheinbar harmloser Teenager, nimmt sich danach selbst das Leben.

Unter viel Medienrummel nehmen McCoy und sein unerfahrener Kollege Wattie die Ermittlungen auf. Die Spur führt aber nicht nur in die blutigen Eingeweide der Glasgower Unterwelt, sondern auch ganz nach oben in die feine Gesellschaft. Während McCoys Vorgesetzter darauf beharrt, dass es sich um die Einzeltat eines eifersüchtigen Liebhabers handeln muss, hegt der Detective einen schlimmen Verdacht. Dumm nur, dass er kaum eine Chance hat, dem potenziellen Täter das üble Handwerk zu legen. Aber McCoy wäre nicht der Held dieses Romans, wenn er sich an dieser Stelle einfach geschlagen gäbe. Er kämpft  – man ahnt es bereits – mit diversen Dämonen und hat ein ganz eigenes Verständnis von Gerechtigkeit. Aus Gründen, die in seiner schlimmen Kindheit vergraben liegen, pflegt er eine enge Beziehung zum brutalen, leicht irren Gangsterboss Stevie Cooper, was für einen Polizisten nicht ganz unproblematisch ist. Der Weg zur Gerechtigkeit ist grausam – aber auch spannend. Dass der Roman funktioniert, liegt an der speziellen Figurenkonstellation, am Erzähltempo, an dem vielschichtigen und irgendwie liebenswerten Helden Harry McCoy, dem bisweilen schmerzhaft harten Ton und der komplexen Handlung, die ohne Redundanz und falsche Fährten befriedigend zielsicher auf den großen Höhepunkt zustrebt und den Leser mit einer neuen Sucht zurücklässt.

Es bleibt nur zu hoffen, dass Parks seinen Helden erneut in die Glasgower Unterwelt schickt, dieses ganz besondere Milieu der gesetzlosen Council Estates, wo Armut die Menschen hart aber nicht herzlos macht.

Alan Parks: Blutiger Januar (Bloody January, 2018). Aus dem Englischen von Conny Lösch. Heyne Hardcore, München 2018. Klappenbroschur, 400 Seiten, 16 Euro.

Das weisse Nashorn von Markus Lutteman

Vince hieß das erste Opfer

(AM) „Das größte Unglück des Nashorns ist es, dass es ein Vermögen auf der Nase trägt.“ Dieses Zitat des Ökologen Lee Talbot kann natürlich nicht fehlen in einem Thriller über den internationalen Elfenbeinschmuggel. Markus Lutteman hat seine Outdoor-Neigung bereits hinlänglich mit „Das Blut der Hirsche“, „In den Fängen des Löwen“ und „Die Fährte des Wolfes“ (alle bei Tropen) bewiesen. Für Das weiße Nashorn hat er, verrät die Internetseite des Verlags, „jene Gegenden Südafrikas bereist, die am stärksten von der illegalen Jagd auf Nashörner betroffen sind, zahlreiche Experten interviewt und selbst in der Wildnis gezeltet“. Nun ja.

Lutteman ist Journalist. In der Tat ist seine Recherche beeindruckend, der Umfang des kriminellen Handels mit bedrohten Tierarten ist gigantisch. 45 Seiten umfassen alleine die Quellenangaben und zusätzlichen Hinweise auf Bücher, Youtube-Filme, Websites, Interviews und Artikel. Das Buch – wenn auch nicht Krimiliteratur höchster Güte, dafür funktioniert es mit seinen drei Protagonisten (einem Rockstar mit innerer Leere, ein afrikanischer Farmer in Nöten und ein junger verliebter Vietnamese) zu schematisch– beweist eine bemerkenswerte Offenheit. Beinahe schon interaktiv lädt es ein, kapitel- oder szenenweise die Fiktion mit dem Dokumentarmaterial zu vergleichen. So etwas habe ich noch in keinem Kriminalroman gesehen.

Die Eröffnungsszene war, als das Buch im September 2016 in Schweden herauskam, noch pure Erfindung: In einem schwedischen Zoo wird ein Nashornweibchen blutüberströmt aufgefunden, die beiden Hörner gewaltsam entfernt. Der erste solche Fall ereignete sich in der Realität am 7. März 2017, als in einem Gehege bei Paris das weiße Nashorn Vince erschossen und sein Horn abgesägt wurde.

Markus Lutteman: Das weiße Nashorn (Blodmane, 2016). Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps. Penguin Verlag, München 2018. Broschur, 7 s/w Abbildungen, 480 Seiten, 10 Euro.

9783550050640_coverUnterhaltsamer Blick in die Vergangenheit

(JF) Westberlin im Herbst 1968. Die einen träumen von der Weltrevolution, die selbstredend ihren Anfang in der Mauerstadt nehmen wird, die anderen möchten gerne ihre Ruhe haben. Und das ist die überwältigende Mehrheit. Schließlich sind die Erinnerungen an den Krieg noch frisch, auch wenn über vieles beharrlich geschwiegen wird. Auch Siegfried Heller erzählt kaum etwas von seinem Dienst im Polizei-Reserve-Bataillon 3, zum Verdruss seines Sohnes Wolf. Der Kommissar bei der Mordinspektion wüsste nämlich gerne mehr über die Einsätze dieser Sondereinheit, schließlich gehörte sein Vorgesetzter Holzinger auch dazu. Und dessen Verhalten findet er zunehmend verdächtig.

Eine weibliche Leiche wird im Wannsee gefunden, doch dort ist die junge Mutter nicht zu Tode gekommen. Wolf Heller ermittelt fieberhaft, aber auf Unterstützung kann er nicht zählen. Man ahnt auch schon, warum. Bevor nämlich Heller weiß, was gespielt wird, werden wir bereits zu Zeugen von allerlei Stasi-Aktivitäten. Der DDR-Geheimdienst hat seine Finger im Spiel, und er plant nichts Gutes. Willkommenes Werkzeug sind die aufmüpfigen jungen Menschen, welche die Schriften Maos als Handlungsanweisung für den Umsturz lesen. Da liefert man gerne Material und Bauanleitungen für Molotov-Cocktails, gelegentlich in Personalunion mit dem westlichen Pendant. Bis Wolf Heller diese Gemengelage aufgeklärt hat, muss er mehrmals um sein Leben fürchten, profitiert von der sexuellen Revolution und lässt sich von einem amerikanischen Freund mit Haschkeksen gegen Schlafstörungen versorgen. Das ist ebenso kurzweilig wie instruktiv. Denn das Autorentrio Lutz, Wilhelm und Kellerhoff hat für seinen historischen Kriminalroman Die Tote im Wannsee heftig recherchiert, in Archiven gestöbert und Zeitzeugen befragt. Dass man sich dennoch fragt, ob ein Begriff wie „Chauvi“ bereits Ende der sechziger Jahre im Umlauf war, zeigt allerdings auch die Probleme eines Übermaßes an Zeitkolorit. Gab es damals tatsächlich schon Hausbesetzungen? Hätte eine Boulevardzeitung von einem „Nutten-Mörder“ geschrieben? Und waren die (männlichen) Bewohner linker Kommunen tatsächlich solche Vollpfosten? Letzteres scheint nicht ganz unwahrscheinlich, vergleicht man die fiktiven Dialoge am WG-Küchentisch mit Zeitzeugnissen, zum Beispiel dem berühmten, im Kursbuch 14 vom August 1968 abgedruckten, Gespräch zwischen Hans Magnus Enzensberger und den SDS-Aktivisten Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler über die Zukunft. (Eine auch heute noch lohnende Lektüre. Siehe auch hier.)

Ein halbes Jahrhundert ist das „Jahr der Revolte“ inzwischen her, und diesem „Jubiläum“ haben wir wohl auch das Erscheinen von Die Tote im Wannsee zu verdanken. Warum auch nicht. Unterhaltsam ist dieser historisierende Blick in die Vergangenheit, die immer noch für manch heftigen Streit gut ist, allemal. Dass der Mordfall selbst und seine (recht banale) Auflösung gelegentlich in all den Requisiten verloren zu gehen scheinen, muss man wohl angesichts des Genres in Kauf nehmen.

Lutz Wilhelm Kellerhoff: Die Tote im Wannsee. Ullstein Verlag, Berlin 2018. 383 Seiten, 16 Euro.

Misbehaving von Richard Thaler

Misbehaving von Richard Thaler

Tatort Verhaltensökonomie

(AM) In beinahe jedem „Tatort“ – aber nicht nur dort – kann man es erleben: unvernünftiges Verhalten. Warum machen Kommissare nie das Licht an, wenn sie nachts eine fremde Wohnung oder einen Keller durchsuchen? Warum warten die Einzelgänger nie auf Verstärkung? Warum muss Spannung immer durch dummes Verhalten herbei dramaturgisiert werden? Weil es der Einschaltquote dient?

Richard Thaler, Professor für Behavioral Science and Economics an der University of Chicago, zählt zu den weltweit führenden Experten für Verhaltensökonomik. In seinem Buch Misbehaving. Was uns die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen verrät gibt er zwar keine direkten Antworten in Sachen „Tatort“, dafür ist es mindestens so spannend.
Thaler, 2017 für seine Forschungen zur Wirtschaftspsychologie mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, ist ein klasse Geschichtenerzähler, er feuert eine Anekdote nach der anderen, vermag trockene Wissenschaft – und gleichzeitig sogar die Geschichte seines Fachs – anschaulich zu machen. Er zeigt, warum wir uns immer wieder zutiefst irrational und unberechenbar verhalten. Die traditionellen Grundannahmen der Ökonomie stellt er auf den Kopf. Das Konzept des rational handelnden Homo Oeconomicus ist ein fataler Irrglaube, das zeigt er mit Hilfe vieler Beispiele aus Alltag und Beruf. Trotzdem ärgert es mich auch nach diesem Buch immer noch, wenn der Kommissar…

Richard Thaler: Misbehaving. Was uns die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen verrät (Misbehaving. The making of the behavioral economics, 2015). Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2018. 512 Seiten, 28 Euro.

 

chop Shamrock_Alley_Cover_webHell’s Kitchen, vätertauglich

(AM) Der Luzifer Verlag hat bei mir seit Douglas Winters „Run“ einen Stein im Brett. Ronald Malfi kann das mit Shamrock Alley jedoch leider nicht toppen. Es ist die Geschichte eines Undercover-Cops, der sich in New York in ein irisches Gangstersyndikat einschleusen lässt, um dessen Bosse zu Fall zu bringen. Malfi, eigentlich ein Horrorautor („Nachtparade“, „December Park“, „The Ascent – Der Aufstieg“, „Die Treppe im See“, „Snow – Die Kälte“), will hier seinem Vater ein Denkmal setzen. Der infiltrierte tatsächlich als junger Secret Service Agent eine irische Gang in Hell’s Kitchen. Und auch die Gangsterbosse Mickey O’Shay und Jimmy Kahn haben reale Vorbilder: Jimmy Coonan und der Vietnamveteran Mickey Featherstone. Aber das alleine macht eben – 20 Jahre nach Jerry Oster, Bob Leuci, Robert Daley oder Thomas Adcock (ja, unser USA-Korrespondent) – noch kein Buch, das mich hinter dem Ofen vorholt. Dafür ist es zu brav: „Diese Kerle waren das reine Böse. Er hatte der Bestie ins Auge geschaut – er war der einzige Mensch mit einer Seele, die diese Tiere von nahem persönlich gesehen hatte – und er wusste, dass jemand sie stoppen musste…“

Das liebevoll mit irischen Kleeblättern als Absatzmarkierungen ausgestattete Buch holt sich klar sein Anschauungsmaterial aus dem 2006 erschienenen Standardwerk „The Westies: Inside New York’s Irish Mob“ von T.J. English, der im Oktober bei uns mit  „The Corporation: An Epic Story of the Cuban American Underworld“ aufschlagen wird (Heyne Hardcore). Die Westies, nie mit mehr als ein paar Dutzend Mitgliedern, waren selbst innerhalb der Mafia gefürchtet. Ihre Spezialität war Hinrichtung mit Zerhacken (was Wallace Stroby in seinem ersten Crissa-Stone-Romane gruslig-effektiv einsetzt), von den 1960ern bis zu 1980ern terrorisierten sie die West Side New Yorks . Der Film „Im Vorhof der Hölle“ (State of Grace) von Phil Joanou mit Sean Penn, Ed Harris und Gary Oldman basiert auf dem Buch von T.J. English, von dem auch „Paddy Whacked: The Untold Story of the Irish American Gangster“ (2006 ) sehr empfehlenswert ist.

Ronald Malfi: Shamrock Alley. In den Gassen von New York (Shamrock Alley, 2009). Aus dem Amerikanischen von Raimund Gerstäcker. Luzifer Verlag,  Borgdorf-Seedorf 2018. 480 Seiten, 13,95 Euro.

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